Ausgabe 8/02, 5. Juni
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Konstantin Kandelaki hätte am vergangenen Sonntag mehr als einmal wählen konnen. Denn hoch offiziell haben ihm die Wahlbehörden zwei Wahlberechtigungsscheine für zwei verschiedene Wahllokale geschickt. Einmal im Wahllokal Nr. 7 des siebten Wahlbezirks, wo Konstatin wohnt. Und einmal im Wahllokal Nr. 9 des dritten Wahlbezirks, in dem Konstantin registriert ist. Im ersten Wahllokal war er unter der Nummer 1009 im Wählverzeichnis eingetragen, im zweiten unter der Nummer 1223. Konstantin Kandelaki ist kein Einzelfall und da er als Vorsitzender des International Center for Civic Culture (ICCC) in der Fünfer-Koalition der wahlbeobachtenden NGO`s sitzt, kann er den Hintergrund dieses seltsamen Vorgangs aufklären. GN sprach zwei Tage nach der Wahl mit Kandelaki über das Chaos der Kommunalwahlen.

Um das gesamte Ausmass des Kaukasischen Wähler Roulettes, auch Wahlen genannt, zu verstehen, muss man zunächst einmal nicht unbedingt Betrugsabsichten unterstellen. Vermutlich ist es eher Schlamperei, hervorgerufen durch die georgische Eigenart, alles erst kurz vor Toresschluss zu organisieren und nicht rechtzeitig mit den Vorbereitungen zu beginnen. "Echla", jetzt, heisst eines der beliebtesten Wörter hierzulande, und das soll heissen, warum irgendwelche Arbeiten rechtzeitig erledigen, wenn man die Probleme kurz vor dem Ereignis - echla, jetzt also - noch mit kaukasischem Improvisationstalent lösen kann. Das ist nichts anderes als ein Teil der georgischen Lebensart, ein manchmal durchaus charmanter Teil, würde er sich nur auf die weniger wichtigen Dinge des Lebens beschränken. Aber über die Frage, was wichtig ist im Leben oder unwichtig, gehen die Ansichten weit auseinander.

Seit Monaten wissen die Behörden, dass sie für den Frühsommer dieses Jahres Kommunalwahlen vorbereiten müssen. Diese waren ja im November eigens verschoben worden, weil die organisatorischen Voraussetzungen noch nicht gegeben waren. Aber seit Monaten hat sich weder in der Verwaltung noch in der Zentralen Wahlkommission irgendjemand auch nur annähernd dafür interessiert, die Wählerverzeichnisse für diese Wahl vorzubereiten.

Warum auch? Das hatte man anscheinend nie gemacht, das war man von früher nicht gewohnt. Da hat man einfach - und echla, jetzt - die Verzeichnisse der letzten Wahl in den Wahllokalen aufgehängt und jeder, der nachweisen konnte, dass er in diesem Wahlbezirk registriert war und sich nicht im Wählerverzeichnis fand, wurde zusätzlich ins Wählerverzeichnis aufgenommen - auch echla und jetzt -, erklärt uns Konstantin Kandelaki die wahltechnische Routine. Verantwortlich für die Erstellung, das heisst die Kopie alter Wählerverzeichnisse, war der Vorsitzende des jeweiligen Wahlbezirks. In einem Wahlbezirk waren mehrere Wahllokale zusammengefasst.

Für diese Wahl war alles anders. Aufgrund einer Gesetzesänderung mussten die Wahllokale, die früher mehr als 3.000 Wählerinnen und Wähler umfassten, verkleinert werden. Mehr als 2.000 durften sie nicht mehr haben. Bis kurz vor Wahlbeginn, einige behaupten sogar bis heute, sind die Grenzen der neuen Wahllokale noch nicht überall im Detail festgelegt, weshalb es für viele Wähler schwer war, das richtige Wahllokal zu finden. Sie wurden von Wahllokal zu Wahllokal weitergereicht.

Normalerweise hätten die Wählerverzeichnisse von den Vorsitzenden der Wahlbezirke 30 Tage vor der Wahl veröffentlicht werden müssen, damit sich Wähler und Parteien von der Richtigkeit der Verzeichnisse überzeugen und Korrekturen verlangen konnten. Die Wahlbezirke waren aber vor Kurzem aufgelöst und für Tbilissi war ein einziger Wahlbezirk gebildet worden, der bei der Zentralen Wahlkommission angesiedelt wurde. Damit war der Leiter der Zentralen Wahlkommission für die Erstellung der Wählerverzeichnisse zuständig. Da die Kommission ohnehin völlig überfordert war, hatte sie doch Ende April noch nicht einmal die Zusage des Finanzministers, die entsprechenden Mittel für die Durchführung der Wahl bereitstellen zu können, wurde der Termin zur Offenlegung der Wählerverzeichnisse versäumt. Und keiner hat`s gemerkt.

So blieb es den Vorsitzenden der Wahllokale überlassen, wenige Tage vor der Wahl aus alten Wählerverzeichnissen und eigenen Recherchen für das Gebiet ihres neu zugeschnittenen Wahllokals irgendwelche brauchbaren Wählerverzeichnisse zusammenzustellen. Teilweise seien Mitarbeiter der Wahlkommissionen durch ihr Revier gezogen und hätten nachgefragt, wer alles in einem Wohnblock wohnt, um die Verzeichnisse zu ergänzen, erklärte Konstantin Kandelaki. So kommt es, dass er neben dem Wahllokal, in dem er seit Jahren im Wählerverzeichnis aufgeführt ist, auch aus dem Wahllokal, in dessen Gebiet sich seine neue Wohnung befindet, eine Wahlberechtigung erhalten hat. Ein Nachbar hat schlicht und einfach seinen Namen an die Wahlkommission weitergegeben.

Da die Wählerverzeichnisse der neuen Wahllokale also eher nach dem Prinzip Zufall aufgebaut wurden, kam es, dass teilweise ganze Häuserblocks fehlten oder andere Leute eben in mehreren Wahllokalen registriert waren. Dieser Umstand ist die Basis für ein weiteres georgisches Wahlphänomen, das sogenannte "Karusell". Nahezu alle Parteien haben dieses Chaos erkannt, zu ihren Gunsten ausgenutzt und ihre Gefolgsleute in die Wählerlisten mehrerer Wahllokale eintragen lassen. Damit sie dann auch ihrer mehrfachen Wahlpflicht nachkommen konnten, haben die Parteien am Wahltag für die entsprechenden Transportmöglichkeiten gesorgt, um ihre "Wähler-Karusells" am Laufen zu halten. Wieviele solcher Mehrfachwähler letztendlich das Wahlergebnis beeinflusst haben und welche Partei davon am meisten profitiert hat, lässt sich kaum noch klären. Denn ausser allgemeinen Verdächtigungen, vor allem die Regierung habe die Wahl manipuliert, lässt sich keine der grossen Parteien auf konkrete Hinweise über das Wahlverhalten ihrer Konkurrenten ein. Das Kartell der Karusellbesitzer schweigt.

Konstantin Kandelaki schätzt, dass rund 20 % der Stimmen aus diesem Karusell-Verfahren stammen, genaue Informationen haben er und seine Wahlbeobachter aber nicht. Vielleicht wollen sie auch keine haben. Denn ihm, den anderen NGO`s und allen Parteien war vor der Wahl bereits klar, wie die Geschichte ablaufen wird. Und keiner hat vor der Wahl eine erneute Verschiebung gefordert. Alle wollten diese Wahlen als Stimmungstest für die im nächsten Jahr anstehenden Parlamentswahlen. Und als Beweis für die fortschreitende Demokratisierung im Land.

Und ausserdem war in diesem Jahr erstmals so etwas wie Chancengleichheit beim Mogeln gegeben. Die vor vier Jahren noch fast allmächtige Bürgerunion ist in drei verschiedene Parteien zerfallen, die alle sorgsam darauf achteten, die Restbürgerunion beim Wählerkarusell auszutricksen. Die Staatsmacht hat sich diesmal zurückgehalten. So gesehen, sagt Konstatin Kandelaki, entspricht das Wahlergebnis durchaus dem aktuellen Kräfteverhältnis unter den Parteien und dem politischen Meinungsklima. Im Grossen und Ganzen habe sich somit keine Partei nennenswerte Wettbewerbsvorteile verschaffen können.

Dass einige von ihnen nicht die Kraft hatten, sich am grossen Karusell festzuhalten und einfach herausgeschleudert wurden, gehört wohl zum Geschäft. Aber damit will in Georgien anscheinend jeder leben. Denn auch die beobachtenden NGO`s haben sich weder vor der Wahl noch jetzt nach der Wahl dazu durchringen können, die Gesetzmässigkeit der Wahl anzufechten. Gründe dafür gäbe es genügend. Aber im Kaukasischen Wähler Roulette stört nur, wen`s stört.

Bei den nächsten beiden Wahlen wird es allerdings mehr Besucher geben, die störend zuschauen. Kommunalwahlen im Kaukasus haben im Ausland nicht den Stellenwert, den die beiden nächsten Wahlgänge haben. Mit dem georgischen Echla können dann organisatorische Mängel nicht mehr entschuldigt werden. Die Behörden haben eineinhalb Jahre Zeit, sich auf diese Wahl vorzubereiten. Wenn sie jetzt schon, echla, damit beginnen, dürfte es vielleicht reichen. Aber das ist jetzt vermutlich viel zu ungeorgisch gedacht.

Da die Parlaments-Parteien, diesmal unterstützt vom Regierungslager, jetzt schon eine Kontrollzählung der Wahl fordern, vermutlich in der Hoffnung, soviele Fehler zu finden, dass die Wahl annuliert und neu ausgeschrieben werden muss, könnten die zuständigen Behörden wirklich echla, jetzt schon damit beginnen, die Wählerlisten neu zu erstellen. Sie könnten vielleicht schneller gebraucht werden als sie erstellt werden können.

Rainer Kaufmann

 


Kaum zu finden:
Wahllokal in Tbilissi


Zu spät ausgehängt:
Wählerverzeichnis


Die Form stimmt:
Genaue Kontrolle der Wahlberechtigten


Umsonst gezählt:
Parlament will es ganz genau wissen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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