Ausgabe 4/02, 24. März
Home            

 

Es war immer eine etwas problematisch, wenn man mit Georgiern auf den grossen Markt am Stadion ging. Den Gast aus dem Westen faszinierte eine exotische Welt der Früchte, Düfte, Farben und Genüsse - sieht man einmal von dem vor allem im Sommer etwas problematischen Fleischmarkt ab. Die georgischen Gastgeber allerdings schämten sich ob der unziviliserten Zustände, der wilden Markbuden, in denen sie sich Schuhe, Kleider und den täglichen Lebensbedarf kaufen mussten. Denn die teueren Supermärkte in der Stadt können sich wirklich nur Ausländer oder die superreiche Oberschicht leisten. Giorgi Normalverdiener war auf das wilde Chaos der wucherartig angewachsenen Märkte, Basroba genannt, angewiesen. Das kann jetzt ein Ende haben. Denn mitten im grossen Markt am Stadtion bauen Privatinvestoren eine Ladenpassage, die jeder Georgier künftig mit einigem Stolz auf die Entwicklung in seinem Land vorführen kann. Für exotische Düfte reicht dann der Gemüse-, Obst- und Gewürzmarkt gegenüber. Allerdings geht mit der Modernisierung der Märkte auch ein letztes Stück des romantischen Tbilissi verloren, das Reisende früherer Jahrhunderte so begeisterte.

Das Areal rund um Bahnhof und Stadion ist ein nahezu unübersichtliches Gewirr an Gassen, Buden und Märkten, in denen man stundenlang herumschlendern kann, wenn man als Tourist das ganze Treiben mit Gelassenheit und der Neugierde des Fremden betrachten kann. Der Markt hat sich hier in den letzten Jahren in stillgelegten Strassenbahndepots, auf Hinterhöfen und Seitengassen ausgebreitet. Wenn es noch einen Hauch Orient gibt, der Tbilissi einmal auszeichnete, hier ist noch ein wenig davon zu spüren: wild, chaotisch, interessant und vor allem hektisch.

Die neue Passage 2000, die gerade entsteht, wirkt für den Europäuer zwar auch noch recht fremd, aber es wird schnell klar, die Uniformität der neuen Zeit dringt unaufhaltsam auf den Markt. 200 Shops in der Grösse von 10 bis 200 qm sind zum grössten Teil schon entstanden, gebaut von einem 8-köpfigen Besitzerteam dieses Areals, das insgesamt 7.000 qm umfasst. Sie haben es vor einigen Jahren privatisiert. Das Gesamtinvestitionsvolumen beträgt 1,4 Millionen $, rund 200 davon mussten über einen MBG-Kredit beschafft werden.

Ein Großteil der Shops ist bereits belegt, rund 150 Geschäfte bieten alles, was man so braucht: Kleider, Schuhe, Spielsachen, Haushaltsgeräte, Unterhaltungselektronik, Pharmazeutika und vieles mehr. Die Shops wurden teilweise an neue Besitzer verkauft, 600 $ kostet der Quadratmeter, für Mieten muss man im Monat rund 60 $ pro qm rechnen. Die Investition, das lässt sich schnell nachrechnen, ist durchaus profitabel, wenn die Mieter die hohen Mietpreise auf Dauer erwirtschaften. Das scheint der Fall zu sein, denn es gibt mehrere solcher moderner Passagen.

Die Mietpreise überraschen, stehen sie doch in krassem Widerspruch zu dem, was man landläufig über die Wirtschaftslage in Tbilissi erzählt. Am Markt wird aber deutlich: die Kaufkraft steigt gewaltig, der Konsum zieht an. David Aleksidse, der Manager der Marktpassage, schätzt, dass in seinem Areal pro Tag mehr als 150.000 GEL Umsatz gemacht wird, das sind 4,5 Millionen im Monat. Und seine Passage ist nur ein kleiner Teil des riesigen Marktareals im Zentrum der Hauptstadt, in der es acht solcher Marktansammlungen gibt. Die am Stadion ist die grösste.

Das Steuerproblem auf diesen Märkten ist ebenfalls gelöst. David Aleksidse, der dem Vorstand der Vereinigung der Handelszentren in Tbilissi angehört, berichtet, dass man sich mit den Steuerbehörden auf eine Pauschalbesteuerung der kleinen und mittleren Handelsbetriebe geeinigt habe. Demnach werden vom Vermieter dieser Passagen pro Quadratmeter vermieteter Fläche eine Monatspauschale an das Budget abgeführt, die, wenn die Umsatzzahlen stimmen, sich bei etwa einem Umsatzprozent bewegt. Kein allzu hoher Satz, aber immerhin, der Staat kassiert und er lässt Kleinunternehmern genügend Luft, ihr Geschäft erst einmal aufzubauen und Arbeitsplätze zu schaffen. Im Endbausbau, wenn am Eingang der Passage 2000 auch noch der geplante Supermarkt für Lebensmittel fertig sein wird, dürften mehr als 500 Menschen in dieser Passage einen Arbeitsplatz haben. Bei durchschnittlichen Gehältern für Verkaufspersonal von 5 - 10 GEL pro Tag kann man von einer Lohnsumme von 75.000 bis 150.000 GEL ausgehen, was einem monatlichen Durchschnittsverdienst von 150 - 300 GEL entspricht.

Im Einkaufszentrum Kidobani gleich in der Nachbarschaft, nicht ganz so elegant, aber auch gründlich saniert, bestätigt Geschäftsführerin Ketewan Kabiani, die positive Gundstimmung ihres Kollegen. Konkrete Zahlen will sie zwar nicht nennen, aber auch sie geht von einem enormen Wachstum im Handel wähend der letzten beiden Jahre aus. Viele Leute, sagt sie, hätten ein Monatsgehalt von bis zu 400 GEL. Vor allem die jungen Leute, die gut ausgebildet seien, verfügten über eine solide Kaufkraft. Diesen wachsenden jungen Mittelstand wolle man in ihrer Passage vor allem mit preiswerten Angeboten bedienen. Dabei seien die Händler, die den Beruf nicht gelernt hätten sondern nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wohl eher der Not gehorchend ein kleines Geschäft eröffnet hätten, viel professioneller geworden. Sie kauften heute viel günstiger und besser ein als noch vor zwei oder drei Jahren, als ein Großteil der Ware über den sogenannten "Suitcase-Tourismus", also den Kofferhandel aus der Türkei eingeführt wurden. Statt sich auf den Märkten Istanbuls mit Waren einzudecken, hätten heute die meisten ihrer Händler direkte Kontakte zu Produzenten oder Grosshändlern. Und dies käme vor allem den Kunden zugute, die auf diesem Wege bessere Qualität zu günstigeren Preisen erhielten. Es scheint also, als ob mit der baulichen Modernisierung der Märkte auch die Professionalisierung ihrer Beschicker einherginge. Das damit auch orientalisches Flair verloren geht, mag nur der Kurzzeitgast, der Tourist bedauern. Für die Kundschaft aus Tbilissi bedeuten die neuen Marktpassagen, die jetzt an mehreren Plätzen entstehen, durchaus ein Stück Verbesserung der Lebensqualität.

 

 

Nachrichten Magazin

Land und Leute

Linkliste

Slide Show
 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

ERKA-Verlag ©2002