Ausgabe 4/02, 24. März
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GN: „Die Weltbank hat in ihrem jüngsten Bericht bestätigt, Georgien hätte in der Theorie wunderschöne Gesetze, die in der Realität aber oft verletzt und vielfach missachtet würde. Ist das nicht ein frustrierender Befund für einen der Väter dieser Rechts- und Justizreform?“

Prof. Chanturia: „Natürlich ist es leichter, gute Gesetze zu verabschieden als diese Gesetze später dann durchzusetzen. Jeder weiss, dass die Einführung neuer Gesetze für jede Gesellschaft, für jedes Land mit bestimmten Schwierigkeiten verbunden ist. Aber wenn wir von der mangelnden Implementierung der neuen Gesetze in Georgien sprechen, dürfen wir nicht übersehen, welche Gesetze schon durchgesetzt sind. Ich denke vor allem an Gesetze aus dem Privatrecht wie Zivilrecht, Zivilprozessordnung, Gesetz über die gewerblichen Unternehmen, internationales Privatrecht und einige andere. Es gibt zu ihnen eine funktionierende Rechtssprechung. Es gibt Kommentare zu diesen Gesetzen, es gibt Lehrbücher, es gibt Aufsätze. Das heisst, diese Gesetze, die ich genannt habe, sind in der Praxis wirklich durchgesetzt worden

Viel bedeutender aber ist, dass wir mit der Verabschiedung der neuen gesetzlichen Grundlagen für die Einführung der Marktwirtschaft und den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft die sozialistischen Rahmenbedingungen, unter denen wir anzutreten hatten, abgeschafft haben. Und das ist, wie ich glaube,  das wichtigste Ergebnis der letzten sieben bis acht Jahre.“

GN: „Trotzdem ist die Kritik der Weltbank ebensowenig zu übergehen wie die Kritik vieler Freunde Georgiens.“

Prof. Chanturia: „Es gibt Gesetze im Bereich des öffentlichen Rechts, die zwar verabschiedet worden sind, aber die Durchsetzung dieser Gesetze braucht noch zusätzliche Massnahmen und Reformen, insbesondere im Bereich des institutionellen Aufbaus des Landes. Das ist keine leichte Aufgabe, es braucht Zeit. Aber ich bin sicher, dass diese neuen Gesetze in wenigen Jahren auch durchgesetzt werden.

Wir sollten dabei aber nicht vergessen: Es gibt eine neue Verfassung. Es gibt die Rechtssprechung des Verfassungsgerichts und des Obersten Gerichtshofes. Das sind doch Zeichen, dass die Rechtsreform wirklich greift.“

GN: „Wenn man Georgien mit den anderen Nachfolgestaaten der UdSSR vergleicht, wo steht Georgien?“

Prof. Chanturia: „Es ist für mich natürlich sehr schwer, Urteile über andere Länder abzugeben. Aber ich kenne die Rechtslage der meisten postsowjetischen Länder gut und kann deshalb eindeutig sagen, dass Georgien mit seinen neuen rechtlichen Rahmenbedingungen weiter fortgeschritten ist als alle anderen. Dies gilt auch für den Bereich der Jusitzreform. Wir haben seit zweieinhalb Jahren in unserer Justiz Standards durchgesetzt, für die andere Länder noch viel Zeit brauchen.“

GN: „Können Sie Bespiele nennen?“

Prof. Chanturia: „Natürlich. Zum Beispiel haben wir die sogenannte Aufsicht der Staatsanwaltschaft über die Gerichte abgeschafft. Weder der Generalstaatsanwalt noch der Präsident des Obersten Gerichtshofes haben das Recht, rechtskäftige Urteile aufzuheben, was leider im ganzen postowjetischen Raum noch der Fall ist. Das heisst, die Entscheidung eines Senats des Obersten Gerichtshofs ist die endgültige Entscheidung und niemand hat das Recht, diese Entscheidung zu überprüfen. Ich glaube das ist eines der wichtigsten Ergebnisse der Rechtsreform in Georgien. Damit haben wir einen Schlusspunkt im Instanzenzug gesetzt, weil es inbesondere im Zivilrecht Fälle gab, die im ständigen Hin und Her zwischen den Instanzen 15 – 20 Jahre dauerten.

Zweitens: Alle Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes werden veröffentlicht, im Internet und in Broschüren. Das war vor der Reform unvorstellbar. Die Ansetzung von Gerichtsterminen wird 14 Tage vorher veröffentlicht und an die Presse verteilt, damit die Öffentlichkeit die Möglichkeit hat, an den Verhandlungen des Obersten Gerichtshofes und auch der unteren Gerichte teilzunehmen.

Da sind jetzt kleine Beispiele, deren Bedeutung man nur verstehen kann, wenn man den Zustand davor kannte. Sie zeigen, dass wir die Forderungen der Länder des Europarates in Georgien schon durchgesetzt haben. Natürlich steht jetzt die Frage der Reform der Staatsanwaltschaft und der Untersuchungsbehörden und die Reform der juristischen Ausbildung an. Aber das kommt alles auch noch, das erfordert eben seine Zeit.“

GN: „Gerade bei der Polizei, der Staatsanwaltschaft und den Ermittlungsbehörden hat sich nicht allzu viel geändert. Da fällt es der Bevölkerung schwer, Vertrauen in die Effiziens und Rechtsstaatlichkeit dieser Organe zu finden.“

Prof. Chanturia: „Das stimmt teilweise auf alle Fälle. Deshalb hat Präsident Schewardnadse eine Kommission gebildet mit der Aufgabe, ein Konzept zur Reform der Staatsanwaltschaft, der Polizei und aller Sicherheits-, Untersuchung- und Ermittlungsbehörden vorzubereiten. Als Leiter dieser Kommission kann ich sagen, dass wir eine sehr gute und intensive Zusammenarbeit mit der internationalen Gemeinschaft haben und hoffen, bis Ende September ein gutes Konzept vorlegen zu können.

Die eine Frage ist es, ein Konzept für die Reform dieser Institutionen voranzutreiben. Die andere ist aber die der Ausbildung: Ohne gut ausgebildete Juristen ist es unvorstellbar, dass diese neuen Institutionen und Behörden gut funktionieren. Und deswegen ist einer der Schwerpunte unserer Kommission ein gutes Konzept unserer Juristenausbildung auszuarbeiten. Besonders interessant ist dabei die Idee, eine Justizschule für Georgien zu gründen, deren Aufgabe es ist, Richter, Staatsanwälte und Miglieder der Untersuchungsorgane insgesamt auszubilden. Diese Idee wird vom Europarat unterstützt. Ein Gesetzesentwurf liegt schon vor und wir hoffen, dass das Parlament in zwei oder drei Monaten dieses Gesetz verabschiedet.“

GN: „Es geht aber nicht nur um eine gute Ausbldung, es geht auch um eine angemessene Bezahlung. Von was soll ein schlecht bezahlter, dafür aber gut ausgebilder Richter, Polizist oder Staatsanwalt mit seiner Familie leben?“

Prof. Chanturia: „Es ist jederman klar, dass eine der Hauptursachen der sogenannten Massenkorruption in Georgien in den niedrigen Gehältern der Staatsbeamten liegt. Ohne eine entsprechende Entlohnung der Staatsdiener für deren sehr komplizierte und schwierige Arbeit werden wir keine positiven Ergebnisse unserer Reformen haben. Statt alter korrupter Beamter werden wir nur neue korrupte Beamte bekommen. Daher ist die finanzielle Absicherung der Reformvorschläge die wichtigste Aufabe, vor der wir stehen, besonders im Bereich der Justiz und der Sicherheitsorgane.“

GN: „Wieder konkret nachgefragt. Was verdient ein Richter heute und bekommt er sein Gehalt auch pünktlich?“

Prof. Chanturia: „Die Richter der Rayon- und Apellationsgerichte haben etwa 500 bis 600 GEL Monatsgehalt, die Richter des Obersten Gerichtshofs etwa 1.200 – 1.300 GEL im Monat. Seitdem wir einen neuen Finanzminister haben, wurden diese Gehälter rechtzeitig und pünktlich ausbezahlt. Das sind die besten Gehälter im öffentlichen Dienst in Georgien, aber sie sind noch nicht gut genug, um die finanzielle und materielle Unabhängigkeit der Richter wirklich zu gewährleisten.“

GN: „Kann man einem Richter, der sieht, was andere Menschen mit vergleichbarer Qualifiktation zu Hause und im Ausland verdienen, verdenken, wenn er versucht, sich dann noch ein kleines Zubrot zu beschaffen? Früher war es ja gang und gäbe, die alten Richter haben offen gesagt, sie nehmen Geld, wenn sie vom Staat nicht ausreichend bezahlt werden.“

Prof. Chanturia: „Das ist eine sehr gute Frage. Der Richter sieht ja in seinem Unterlagen, was die Parteien an Geld verdienen, auch ihre Anwälte. Und da gibt es dann jede Menge an Quasi-Vermittlern, die sich andienen, zwischen dem Richter und den Parteien zu vermittlen. Da gibt es schon hin und wieder die Versuchung, etwas anzunehmen. Das möchte ich nicht ausschliessen.

Aber was wir in Georgien mit der Rechtsreform erreicht haben ist: Die Justiz als System ist nicht mehr korrupt. Das kann ich mit Gewissheit behaupten. Es gibt einen grossen Wettbewerb zwischen den Instanzen, was sehr gut ist. Die Instanzen sind nicht mehr miteinander verbunden. Ein Fall muss drei Instanzen durchlaufen und eine Partei, die eventuell einen Richter unterstützt hat, kann nicht sicher sein, dass die Entscheidung des Rayongerichts auch in Kraft bleibt. Die instanzen sind unabhängig und das ist ein wichtiges Ergebnis der Gerichtsreform. Ich schliesse natürlich Fälle von Korruption in den Gerichten nicht aus, aber ich schliesse aus, dass das Gerichtssystem, das wir heute in Georgien haben, korrput ist. Es gibt einige Einzelfälle, aber die sind Ausnahmen im Unterschied zu der Zeit davor.“

GN: „Gab es in den letzten Jahren Fälle von Korruption unter der Richterschaft?“

Prof. Chanturia: „Ja es gab ein paar Fälle. Wir mussten leider zehn Richter aus ihrem Amt entfernen.“

GN: „Es gibt noch nicht das Mass an Vertrauen in die Justiz , die sie eigentlich bräuchte, um ihre Rolle in der Gesellschaft wahrzunehmen. Was kann getan werden, um Vertrauen in die reformierte Justiz herzustellen?“

Prof. Chanturia: „Es geht nicht darum, dass es kein Vertrauen in die Justiz gibt sondern darum, dass es  wenig Vertrauen in die Regierung und den gesamten Verwaltung gibt. Aber was die Justiz angeht, kann ich nicht von fehlendem Vertrauen sprechen, wenn ich sehe, dass die Zahl der Gerichtsfälle ständig steigt? Wenn die Bevölkerung und die Wirtschaft kein Vertrauen in die Justiz hätten, würden sie doch nicht so die Gerichte anrufen. Das Imageproblem unserer Justiz liegt auch in einem einfachen Gesetz begründet. Jeweils die Hälfte derer, die in einen Zivilprozess verwickelt ist, wird mit dem Urteil eines Gerichts unzufrieden sein, die Partei, die verloren hat. Und wenn diese Partei dann über viel Macht und Geld verfügt, wird sie immer Stimmung gegen den Richter machen, auch öffentlich. Sie wissen doch, dass man bei uns für 100 $ jeden Zeitungsartikel kaufen kann, den man will. So wird viel Misstrauen in Justiz gesäät.“

GN: „Nun vermitteln die heruntergekommenen Gerichtsgebäude in den seltensten Fällen Vertrauen in die Justiz. Es muss ja nicht unbedingt so gediegen sein wie im Palais des Obersten Gerichtshofes. Aber der Zustand der meisten Gerichtsgebäude ist schon beschämend.“

Prof. Chanturia: „Da haben Sie volkommen recht. Wir haben deshalb ein Weltbankprogramm erreicht, mit dem wir in den nächten beiden Jahren insgesamt elf neue Gerichtsgebäude im Lande erbauen. Alle Gericht werden mit Computern ausgerüstet sein und mit Notstromgeneratoren. Viele Gerichtsgebäude wurden renoverit. In einigen Bezirken sind die besten Gebäude die Gerichte. Damit werden wir die Funktionsfähigkeit der Gerichte absichern und auch weiteres Vertrauen der Bevölkerung gewinnen.“

GN: „Kommen wir nochmals zurück zur Korruption. Kann man das Problem nicht auch so sehen? Wenn der Staat seine Diener nicht bezahlen kann, weil kaum jemand Steuern bezahlt, dann treiben die Staatsdiener eben auf direktem Wege ihre Steuern ein. Und alle sind einverstanden.“

Prof. Chanturia: „Die Korruption ist ein grosses Problem für Georgien. Als Vorsitzender einer Antikorruptionskommission des Präsidenten habe ich die schrecklichen Folgen der Korruption kennen gelernt. Aber die Korruption an sich ist nicht das einzige oder gar das Hauptproblem, das wir haben. Das Hauptproblem ist die Mentalität, die Verantwortungslosigkeit und auch teilweise die Unfähigkeit der staatlichen Behörden, die Gesetze, von denen wir gesprochen, durchzusetzen, im Interesse des Landes und der Bevölkerung. Diese Mentalität zu ändern ist eine viel schwierigere Aufgabe als jemand zu erwischen, zu bestrafen und ins Gefängnis zu schicken.“

GN: „Das wird ganz schön schwer werden, da es doch so etwas wie einen Common Sense im Lande gibt, den Staat zu hintergehen.“

Prof. Chanturia: „Deswegen brauchen wir ja die Reform der Institutionen vor allem im Bereich der Steuerbehörden und des Zolls, auch bei den Sicherheitsbehörden. Aber das Wort Reformen ist in Georgien nicht mehr beliebt, weil in vielen Bereichen die Reformen nicht zu den besten Erfolgen geführt haben. Aber vergessen wir nicht, wir bruachen einfach mehr Zeit. Georgien als Staat ist sehr jung, gerade einmal sechs oder sieben Jahre alt und wir hatten auch keine Erfahrung wie man einen unabhängigen Staat nach innen und nach aussen aufbauen muss. Aber ich bin trotzdem optimistisch, dass wir das schaffen.“

GN: „Welche konkreten Vorchläge hat die Antikorruptionkomission den Ihrem Präsidenten gemacht?“

Prof. Chanturia: „Zunächst einmal die Liberalisierung der Wirtschaft. Wir brauchen niedrigere Seuern und müssen einen Teil der zusätzlichen und überflüssigen Kontrollbehörden abschaffen. Nur so können wir die bürgerlichen Initiative voll zur Entfaltung bringen. Die staatliche Aufsicht darf nur in den Bereichen bleiben, wo der Staat aktiv sein muss. Das sind vor allem die öffentliche Sicherheit, der Grenzschutz, die Justiz. In den meisten anderen bereichen muss man der Bevölkerung freien Spielraum lassen.“

GN: „Das ist aber nicht allgemeiner Erkenntnisstand in Georgien.“

Prof. Chanturia: „Eben das ist das Problem. Aber wir müssen die Notwendigkeit für Veränderungen einsehen, sonst können wir die Probleme, die wir haben, nicht lösen. Ich hoffe, der neue Finanzminister, der jetzt gute Vorschläge zur Steuerreform gemacht hat, wird diese auch durchsetzen. Wir waren und sind uns in der Kommission bis heute einig, dass ohne eine Liberalisierung der Wirtschaft die Probleme der Korruption nicht zu lösen sind.

Ausserdem müssen wir die Zahl der öffentlichen Institutionen, auch der Ministerien, strikt reduzieren und öffentliche Kosten sparen. Wenn ich nicht genug Geld habe, um solche Behörden zu finanzieren, brauche ich sie auch nicht. Das ist eine schwierige politische Entscheidung. Aber ich glaube, sie muss gemacht werden.“

GN: „Gibt es dazu erkennbare politische Kräfte, die die erforderlichen Mehrheiten im Parlament beschaffen und diese Entscheidungen gegen die Macht der Apparate durchsetzen. Denn diese werden doch ihre Pfründe verteidigen.“

Prof. Chanturia: „Daran müssen wir arbeiten, wir müsen Diskussionen führen, wir müssen Mehrheiten gewinnen. Natürlich gibt es viele Gegner, die ihren Job verlieren, ihre Stellung, ihren Einfluss. Aber es gibt keine Alternative: Entweder wir machen es oder alles geht kaputt.“

GN: „Derzeit sieht es aber noch nicht danach aus. Der Staat ist kaum in der Lage, sich zu organisieren und finanzieren, während der Schatten boomt.“

Prof. Canturia: „Es gibt viele Länder auch in der westlichen Welt, die eine grosse Schattenwirtschaft haben und trotzdem in der Lage sind, Entscheidungen durchzusetzen. Ich will jetzt einen uns beiden bekannten Staat nicht näher nennen. Ich hoffe, dass mit dem Wachstum, das auch die Schattenwirtschaft für Georgien bringt, die Einsicht in die Notwendigkeit wächst, den Staat besser zu organisieren und die rechtlichen Rahmenbedingungen abzusichern. Das kommt mit Sicherheit, weil für die Geschäftsleute, auch wenn sie im Schatten arbeiten, teilweise sogar dazu gezwungen sind, irgendwann einmal zu dem Schluss kommen, dass auch für sie ein gut organisierter Staat Vorteile bringt. Das braucht seine Zeit, das muss sich natürlich entwickeln, darauf hoffe ich.“

GN: „Die georgische Gesellschaft kennt eigentlich kaum einen übergreifenden Staatsbegriff. Sie definiert sich durch familiäre und persönliche Netzwerke, man könnte es auch Clans nennen.“

Prof. Chanturia: „Ja, das ist so. Georgien hat eine lange Geschichte, aber wir hatten nie einen modernen Staat, eine moderne Gesellschaft gehabt, die etwa Gewaltenteilung gekannt hätte oder ähnliche Kategorien. Das fehlt in Georgien. Das merkt man sofort. Diese Mentalität, dass viele Aufgaben, die eigentlich vom Staat wahrgenommen werden müssten, von den kleinen Gemeinschaften übernommen werden, von den Familien, von Freundschaftbeziehungen, ist nicht die beste Voraussetzung für einen modernen Staat. Wir brauchen eine neue Aufbruchstimmung, eine neue Motivation, einen neuen Geist, wie man eine neue Gesellschaft bilden kann.“

GN: „Wie wollen Sie dieses moderne Gesellschaftsverständnis schaffen?“

Prof. Chanturia: „Durch Ausbildung. Was wir im Bereich der Rechtsreform machen, dass wir viele jungen Fachleute unterstützen, wenn sie zur Aubildung ins Ausland wollen, ist der beste Weg. Georgien muss sich so schnell wie möglich in der westlichen Welt integrieren, wenn es am Prozess der Globalisierung teilnehmen will.“ 

GN: „Das bedeutet aber irgendwann einmal so etwas wie eine mittlere Kulturrevolution. Denn ein modernes Gesellschaftsverständnis wird mit Sicherheit die alles dominierende Macht der Institution Familie infrage stellen müssen.“

Prof. Chanturia: „Mit der Einführung von Marktwirtschaft  und den Prinzipien der Demokratie werden natürlich die Familien ihre führende Rolle in der Gesellschaft verlieren, wobei ich den Begriff Kulturrevolution jetzt nicht übernehmen will. Wir müssen schauen, dass diese familiären Beziehungen so weiter entwickelt werden, dass sie nicht unbedingt ein Hindernis für den Aufbau einer modernen Gesellschaft sein müssen. Es gibt genügend junge Leute, die ganz anders denken als die ältere Generation und das gibt mir die Hoffnung, dass Georgien in 10, 15 oder 20 Jahren ein reiches und gutes demokratisches Land wird. Wir brauchen nur Geduld und viel Arbeit.“

GN: „Wenn der Reformer Lado Chanturia jetzt eine erste Bilanz zu ziehen hätte. Wie sähe sie aus? Was hat er erreicht? Hat er alles erreicht, was er sich einmal vorgenommen hatte?“

Prof. Chanturia: „Man kann nie alles erreichen, das ist ausgeschlossen. Aber was wir in diesen Jahren erreicht haben, ist unglaublich viel. Ich bin stolz darauf, dass meine Kollegen Richter in Deutschland anerkannt sind, dass sie in der Lage sind, mit westlichen Kollegen auf einer Ebene zu diskutieren. Das war vorher nicht der Fall. Langsam aber sicher werden wir gleichberechtige Kollegen. Die Zusammenarbeit zwischen dem Bundesgerichtshof und dem Obersten Gerichtshof Georgiens ist mittlerweile so gut, dass wir deutsche Kollegen hierher einladen können, damit sie mit unseren Richtern über konkrete Fälle aus unserer Praxis diskutieren. Damit haben wir eine qualitative Veränderung der gorgischen Rechtssprechung erreicht, die vielleicht noch nicht jedermann klar wird. Das wird sich aber in einigen Jahren zeigen.

Dass die 7. Konferenz der Präsidenten europäischer Gerichtshöfe in Tbilissi stattfindet, das ist doch eine Anerkennung unserer Reformen.“ 

GN: „Noch ein paar persönliche Fragen. Man hört immer wieder den Namen Lado Chanturia, wenn in Georgien über höhere Verwantwortungen gesprochen wird. Kann es sein, dass wir Sie irgendwann einmal in einer übergeordneten Verwantwortung sehen?“

Prof. Chanturia: „Ich habe jetzt schon eine sehr grosse Verantwortung. Ich war Professor an der Uni und Wissenschaftler. Mehr wollte ich eigentlich nie werden. Dann hat mir das Leben sozusagen angeboten, öffentliche Verantwortung zu übernehmen. Ich bin Fachjurist und diese Arbeit macht mir Spass. Wenn ich sehe, wie viele junge Studenten unsere Bücher lesen, in denen wir europäische Privatrechtswissenschaft in Georgien verbreiten, dann bin ich darauf stolz, dann bin ich glücklich. Die Position ist nicht wichtig oder das Amt, wichtig ist, dass unsere junge Juristengeneration viel besser ausgebildet ist als ihre Kollegen im postsowjetischen Raum.“

GN: „Was sagen Sie dazu, dass Sie in den Medien als einer der möglichen Kandidaten für das Amt des Staatspräsidenten genannt werden?“

Prof. Chanturia: „Das ist alles Quatsch. Das werde ich nicht kommentieren. Ich bin kein Politiker, führe kein aktives politisches Leben, ohne das kann man kein Präsident werden. Nein, das ist nicht mein Interesse.“

GN: „Aber wenn das Leben wieder einmal etwas anbietet?“

Prof. Chanturia: „Das Leben kann anbieten, was es will. Aber die Annahme ist meine Sache.“

GN: „Dann probieren wir es mit der in Georgien am meisten gestellten Frage, wie wird es weitergehen nach Ende der Amtszeit des jetzigen Präsidenten?“

Prof. Chanturia: „Das ist noch viel zu früh, darüber zu reden. Der Präsident wird noch drei Jahre im Amt bleiben und er hat noch viel zu tun und er ist stark genug, noch viel zu erreichen für dieses Land.“

GN: „In den Medien wurde in den letzten Monaten aber fast nur noch über einen vorzeitigen Rücktritt des Präsidenten geschrieben.“

Prof. Chanturia: „Es wird leider in Georgien viel mehr diskutiert als gemacht wird. Besser wäre es, etwas zu machen als zu reden.“

GN: „Herr Chanturia, wir danken für dieses Gespräch.

 

 

Der Oberste Gerichtshof, erbaut von dem polnischen Architekten Alexander Siemkiewicz, der in den Jahren 1855 bis 1891 in Tbilissi lehrte. Das Rustaweli-Theater und das Konservatorium hat er ebenfalls geplant.

 

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