Ausgabe 4/02, 24. März
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Phantomjagd in den Rebbergen
Pankisi-Reportage aus dem schweizerischen Magazin "Fact"

Nur wenige der vielen Journalisten, die in den letzten Wochen über das Pankisital geschrieben haben, waren wirklich dort. Der deutsche Journalist Stefan Scholl, dessen eigentlicher Arbeitgeber „Die Woche“ gerade dicht gemacht wurde, als er im Pankisital nach Al Qaida und Osama Bin Laden recherchierte, konnte seine Reportage im schweizerischen Magazin „Fact“ unterbringen. GN veröffentlicht diese Reportage ohne jeden weiteren Kommentar.

7700 tschetschenischen Kriegsflüchtlinge im georgischen Pankisital sind ins
Fadenkreuz der Weltmächte geraten

von Stefan Scholl

"Es heißt, die Russen wollen kommen und hier Säuberungen veranstalten.“ Sumi hat das harte, dunkle Gesicht eines alten Irokesenhäuptlings, aber der Blick unter ihren Habichtsbrauen ist müde und ängstlich. "Säuberungen! Besoffene russische Soldaten, die sich nackt ausziehen und verlangen, dass unsere Mädchen sie waschen. Danach vergewaltigen die Soldaten die Mädchen.“
Sumi Tschapajew (70) ist eine von 7700 tschetschenischen Kriegsflüchtlingen im Pankisi-Tal in Nordostgeorgien. 94 Quadratkilometer Weideland und Weinberge, die jetzt ins Visier der Großmächte geraten sind: Moskau und Washington erklären, im Pankisi, 250 Kilometer nordöstlich von Tiblissi, 70 Kilometer südlich der Grenze zu Tschetschenien, hätten sich Kämpfer Ben Ladens festgesetzt. Pankisi, so liest es sich in russischen oder westlichen
Zeitungen, sei das Tal der Drogenbosse, der Kidnapper, der Bombenleger, neuester Frontabschnitt im Krieg gegen den Weltterrorismus.


Im Dezember 1999 bombardierten die Russen Sumis Dorf Itum-Kale (in Tschetschenien, Anm. d. Red.), 34 Verwandte kamen um, sie floh mit den übrigen in die Berge, Richtung georgischer Grenze, in Autos, zu Fuß, ein georgischer Hubschrauber brachte Sumi mit anderen Frauen und Kinder ins Pankisi. Zehn Familienangehörige teilen sich
zwei Zimmer in einem Internat in Duissi, dem grössten Ort im Tal,  andere Flüchtlinge wohnen in den gastfreien Häusern der Kistenen, einem Tschetschenenstamm, der schon im 19. Jahrhundert ins georgische Pankisi übersiedelte. Keine Arbeit, kein Geld, 17 humanitäre Hilfskilo Bohnen und Mehl pro Kopf und Monat, Russland zahlt gar nichts. Statt dessen fordert Moskau von Georgien die Zustimmung zu einem Militärschlag gegen die tschetschenische Guerilla, die sich angeblich unter die Flüchtlinge im Pankisi gemischt haben. "Wir sind tote Seelen“, klagt ein Tschetschene, "denen die Russen noch die Haare abrasieren wollen.“


Russlands Außenminister Igor Iwanow verkündete umlängst, Ben Laden halte sich in der Region versteckt. Und Philip Remler, US-Geschäftsträger in Georgien, erklärte, Kämpfer der Al Quaida, der Terrorgarde Ben Ladens, hätten sich aus Afghanistan ins Pankisi-Tal zurückgezogen. Schon meldet die Weltpresse, 200 Mann einer US-Spezialeinheit seien unterwegs, um sie zu erledigen.


Der Himmel über Pankisi ist ein blassblaues Seidentuch, die Schneegipfel des Hochkaukasus blenden, ein einsamer Mann mit einer Plastiktüte eilt säbelbeinig über einen nackten Vorfrühlingsacker. Ein magerer, muskulöser Krieger im Kampfanzug, mit dem Blick einer Panzerfaust. Einer, der nicht mit Journalisten redet. Die Flüchtlinge versichern, solche Männer trügen nur Uniformstücke, weil sie so bequem und billig seien. Aber laut georgischem Geheimdienst machen 200 bis 500 "Bojewiki“, tschetschenische Kämpfer, im Pankisi Urlaub vom Partisanenkrieg gegen die Russen. Sogar ein Dutzend Araber soll hier sein. Die georgische Staatsmacht duldet es. Oder wie ein Militär in Tiblisi erklärt: "Wozu sollen wir einen Kleinkrieg gegen die Bojewiki anfangen, nur weil die Russen ihre Grenzen nicht dichthalten können?“


So kurven Schiguli-Kleinwagen durch Duissi, hinten sitzen alte Frauen, vorne hält ein Schwarzuniformierter eine Kalaschnikow auf dem Schoss. "Kurz gesagt, unsere Brüder“, lächelt ein Einheimischer. Die 7000 Kistenen, die in Pankisi leben, sympathisieren heftig mit ihren tschetschenischen Vettern. Die Kistinen bauen Rotwein wie alle Georgier an, aber sie sprechen tschetschenisch, beten zu Allah, und pflegen das kriegerische Gesetz der Berge. Erst vergangenes Jahr erschoss ein 25jähriger den Pensionär, der vor 40 Jahren seinen Onkel ermordet hatte.

Aber nicht Blutrache hat den Ruf des Pankisitals ruiniert. Seit 1999 die Flüchtlinge kamen, schildert die georgische Presse das Tal als Räuberhöhle. Auch russische Zeitungen melden, dass tschetschenische Kidnapper Mitarbeiter des Roten Kreuzes verschleppen, spanische Geschäftsleute, orthodoxe Priester oder georgische Polizisten. Die Russen entdeckten im Pankisi gar eine Rauschgiftfabrik. "Schwarzes Loch der Kriminalität“ nennen die "Moscow Times“ das Tal.


Vergangenen Juli drohte blutiger Kampf mit den georgischen Nachbardörfern: Kisten und Tschetschenen stahlen den Georgiern immer wieder Vieh, die gründeten eine Bürgerwehr und nahmen ganze Minibusse mit tschetschenischen Insassen als Geisel. Die schetschenen revanchierten sich. Aber der Krieg der Kidnapper endete glimpflich. Der georgische Parlamentsabgeordnete Nudar Mudibadse (52), Weltcupsieger im Schwergewichtsringen fuhr mit anderen
georgischen Kampfsportlern ins Pankisi-Tal. "Waffen hatten wir nicht. Aber wir haben mit den Ältesten der Tschetschenen verhandelt: Ihr seid unsere Gäste, benehmt euch dementsprechend.“ Mudibadses 160-Kilo-Autorität wirkte, fast alle Geiseln kamen umgehend frei.


Tatsächlich ist das Tal kaum krimineller als andere Regionen Georgiens. Nach Angaben von Geheimdienstler hat es im Pankisi nie eine Drogenfabrik gegeben. Viele Eingeweihte glauben, hohe Sicherheitsbeamte hätten an den Entführungen mitverdient. So wurden etwa die zwei spanischen Geschäftsleute Ende 2000 nicht im Pankisi, sondern am Flughafen in Tiblissi verschleppt. Kidnapping, das ohne bestens informierte Komplizen in der Hauptstadt nicht klappt. Die Entführungsrate sank noch einmal deutlich, als Präsident Schewardnadse Anfang des Jahres sowohl der Innen- als auch der Sicherheitsminister auswechselte.


Und die tschetschenischen Flüchtlingen im Pankisi sind friedlicher als ihr Ruf. "Kriminalität veranstalten hier vor allem unsere Kistenen und die Georgier“, sagt der Schuldirektor Wacho  Margoschwili, Vorsitzender des Ältestenrats der Kistenen. Dass der amerikanische Botschafter Remler die Al Quida im Pankisi entdeckt hat, gilt in ganz Tiblissi als Lachnummer. "Remler fährt jedes Wochenende in Gudauri Ski, 70 Kilometer vom Pankisi-Tal entfernt³, sagt der deutsche Georgien-Unternehmer Rainer Kaufmann. "Dort könnte jeder Terrorist mit einem Flammenwerfer das komplette diplomatische
Korps Amerikas ausräuchern.“


Und Gela Beschuaschwali, stellvertretender Verteidigungsminister grinst: "Wenn Amerikaner über Geographie reden, sollte man immer gründlich nachfragen.“ Beschuaschwili stellt klar: Die 200 bis 250 US-Militärspezialisten, die in der zweiten Märzhälfte nach Tiblisi kommen, sollen keine Terroristen im Pankisi-Tal bekriegen, sondern vier georgische Bataillione ausbilden, und damit den Grundstein zur georgischen Armeereform legen. "Das war seit zwei Jahren geplant.“


Hinter dem Lärm um das Pankisi-Tal dämmert ein Stück neuer geopolitischer Wirklichkeit: Russland hat die ehemalige Sowjetrepublik Georgen an Amerika verloren. Die Russen zetern seit 1999 über tschetschenische "Banditen“ im Pankisi-Tal, aber das "Al Quaida“-Feldgeschrei der US-Diplomaten war noch lauter. Die Botschaft der amerikanischen Propaganda: Jetzt beschützen wir
Georgien vor dem Terror dieser Welt. Kein Zufall, dass der designierte Vorsitzende des georgischen Sicherheitsrates, vorher sieben Jahren in Washington als Botschafter amtierte. Wie Usbekistan und Kirgistan in Zentralasien gehört jetzt auch Georgien zu den Antiterrorhilfstruppen der USA. Und zu dem neuen Cordon Sanitaire, den die Amerikaner ganz nebenher um den alten Rivalen Russland legen.


Georgien aber hofft westwärts.  Russland, die einstige christliche
Schutzmacht gegen Osmanen und Perser, macht seit zehn Jahren gemeinsame Sache mit den georgischen Rebellenprovinzen Südossetien und Abchasien. Die Armee, offiziell noch 17.000 Mann stark, de facto wohl nur 9000, droht auseinander zu fallen. Schewardnadse hofft auf das Know-how und Kapital des Westens, um seinen vom Bürgerkrieg zerfetzten und von Korruption
zerfressenen Staat zu sanieren. "Der Westen will doch kein zweites Kolumbien am schwarzen Meer bekommen“, sagt Beschaschwali.


Putins Russland aber gibt sich nicht geschlagen. Der Präsident selbst
erklärte ohne hörbares Zähneknirschen: "Wie jeder Staat hat Georgien das Recht, selbst zu bestimmen, wie es seine Sicherheit organisiert.“ Gleichzeitig aber kauft sich die Ölfirma Lukoil mit 7,5% in die bisher von den Russen heftig bekämpfte aserbaidschanisch-georgisch-türkischen Pipeline ein. Und die Gaspromtochter Itera rechnet georgische Gasschulden gegen eine Düngemittelfabrik ein. Ähnlich wie gegenüber der armen Ukraine setzt Russland sein Rohstoffkapital ein, um zumindest die georgische Wirtschaft wieder halbwegs unter Kontrolle zu bringen. Das neue "Great Gamble“ um den Kaukasus und Zentralasien hat gerade erst angefangen.


Die alte Sumi im Pankisi-Tal will sich nicht fotografieren lassen. Andere Flüchtlinge verdächtigen auch westliche Journalisten als Spione Moskau. Die Tschetschenen hier fühlen sich wenn nicht von Gott so doch von der Welt verraten. "Ich traue Euch nicht“, Sumi lächelt schwach. "Ich traue nicht mal mehr dem eigenen Vater.“  Aber zumindest hofft sie noch. "Vielleicht nehmen ja die Amerikaner oder die Engländer Tschetschenien unter ihre Kontrolle, die Russen ziehen ab und wir können heimkehren.“ Aber ehe sich dieser Wunsch
erfüllen mag, lädt Ben Laden doch zu einer Pressekonferenz ins Pankisi-Tal ein.

 

 

Alltag im Pankisi

Fotos: Stefan Hille (Moskau)

Nachrichten Magazin

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