Ausgabe 06/04
15. April
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Polyglotter Kindergarten
Spiegel-Artikel vom 22.3. über die Situation in Georgien vor der Parlamentswahl

Kurz vor der Parlamentswahl besteht der junge Präsident Saakaschwili seine Bewährungsprobe: Ein Bürgerkrieg scheint vorerst abgewendet. Tagelang standen hinter der Nato-Außengrenze die Zeichen auf Krieg. Vor palmenumsäumten Gründerzeitbauten in Batumi, der Rebellen-Hochburg am Schwarzen Meer, patrouillierten mit Kalaschnikows bewaffnete Freiwillige. Die "Selbstverteidigungseinheiten" der Rebellen-Provinz Adscharien am Südrand Georgiens, unweit der türkischen Grenze, waren ausgerückt. Adschariens Innenminister Dschemal Gogitidse hatte seine Landsleute aufgerufen, ihre "Häuser zu verteidigen", sollte die Zentralmacht einmarschieren. Der neue Präsident in Tiflis, Micheil Saakaschwili, sei schließlich "unberechenbar".

Der Konflikt zwischen Adschariens überwiegend muslimischer Bevölkerung, einer Minderheit im vorwiegend christlichen Georgien, und den Machthabern in der Hauptstadt spitzte sich vergangene Woche bis an den Rand des Bürgerkriegs zu, weil die Adscharen an der Grenze ihres Sprengels Mitte März Panzerwagen und Gardisten auffahren ließen und Georgiens Präsident die Einreise zu einer Wahlkampfkundgebung verwehrten. Gegen den Innenminister wie gegen neun weitere adscharische Amtsträger lief zeitweilig ein Verfahren wegen Hochverrats. Gerüchte über Anschläge und Attentatsdrohungen machten die Runde. Die Amerikaner, die mit Militärausbildern in Georgien sind, riefen zur Besonnenheit auf. Die Russen, die noch aus Sowjetzeiten Truppen in Adscharien haben, feuerten aus Panzern - angeblich zu Übungszwecken. Erst nachdem sich Georgiens Präsident Saakaschwili und der Adscharien-Patriarch Aslan Abaschidse am Donnerstag drei Stunden gegenübersaßen, beruhigte sich die Lage vorübergehend. Bewaffnete Milizen zeigten sich aber auch am Freitag wieder. Die Grenze zum Rest Georgiens ist erneut geschlossen.

Die "Autonome Republik Adscharien", staatsrechtlich ein Teil der Ex-Sowjetrepublik Georgien, wird de facto aber weiter wie ein kleines Privat-Königreich regiert. Der ehemalige Sowjetfunktionär Abaschidse stützt seine Macht über 380 000 Bürger auf Zoll- und Handelseinnahmen, auf einen Geheimdienst alten Stils und auf die Unterstützung Moskaus. Solange der ehemalige sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse in Tiflis noch die Geschicke Georgiens lenkte, durfte Abaschidse ungestört sein eigenes Spiel betreiben. Erst seit der "Rosen-Revolution" Ende November ist es damit vorbei. Micheil Saakaschwili, mit 36 Jahren jüngster Staatschef Europas, mag keine Provinzfürsten neben sich dulden. 96 Prozent der Stimmen entfielen im Januar auf Saakaschwili. Westliche Politiker, amerikanische allen voran, hinderte das nicht daran, das Spektakel als Sieg der Demokratie zu feiern. US-Präsident George W. Bush empfing den polyglotten Musterschüler Ende Februar im Weißen Haus und zeigte sich danach "bezaubert" von dessen "Ansichten und seinem Mut".

Saakaschwili ist Washingtons Wunschkandidat: Als ehemaliger Stipendiat des US-Außenministeriums und Mitarbeiter einer auch in der Ölbranche tätigen Kanzlei aus Manhattan bringt der Jurist an der Spitze der Kaukasus-Republik zwischen Kaspischem und Schwarzem Meer ausreichend Einfühlungsvermögen für amerikanische Interessen mit. Für Überraschungen ist Saakaschwili immer gut. Nicht nur seinen Premierminister Surab Schwanija verblüffte er am 11. März durch die Entscheidung, die bisherige Botschafterin Frankreichs inGeorgien zur neuen Außenministerin zu machen - Salome Surabischwili stammt von Georgiern ab, die 1921 beim Einmarsch der Roten Armee flohen. Die mit einem georgischen Ex-Dissidenten verheiratete Französin werde Georgien "an europäische Strukturen heranführen", hofft Saakaschwili. Die Chefdiplomatin, wie der junge Präsident Absolventin der Columbia-Universität in New York, hatte Frankreich zuvor in Italien, den USA, bei der EU und der Nato vertreten und ist mit Frankreichs Außenminister Dominique de Villepin befreundet. Ihr Wechsel in die georgische Regierung sei mit Präsident Jacques Chirac abgesprochen, versicherte der Kollege aus Tiflis. Surabischwilis Großvater väterlicherseits war von 1918 an drei Jahre lang Minister der Republik Georgien, die von den Bolschewiki zerschlagen wurde. In Tiflis wird ihr, verständlich vor dem Hintergrund ihrer Familiengeschichte, eine tiefe Skepsis gegenüber der Moskauer Politik nachgesagt.

Inzwischen trägt "Kosmopolitismus", vom Georgier Stalin einst im ganzen Sowjetreich geächtet, in Tiflis maßgeblich zur Beschleunigung von Karrieren bei. Wer Praktika bei westlichen Finanzinstitutionen oder, wie allein vier der neuen Minister, eine Vergangenheit bei der US-Stiftung des Großspekulanten George Soros vorweisen kann, darf schon im Alter um die 30 auf höchste Ämter hoffen. Wirtschaftsminister Irakli Rechwiaschwili war nach einem anderthalbjährigen Gastspiel bei der Weltbank insgesamt vier Jahre beim Soros-Fonds. Nun steht der 28-Jährige, der nie in einem Unternehmen gearbeitet hat, vor der Aufgabe, die zerrüttete Ökonomie eines Landes zu sanieren, in dem das Sozialprodukt pro Kopf gerade mal 634 Dollar im Jahr beträgt. Schon mit Verwaltungserfahrung präsentieren sich die Minister für Verteidigung und Staatssicherheit, 36 Jahre alt der eine, 31 der andere, mit Abschlüssen der Universitäten Groningen und Harvard dekoriert. Viele Georgier fühlten sich neuerdings "wie von einem Kindergarten regiert", klagt ein leitender älterer Beamter der Präsidialverwaltung.

Wenn am Sonntag im 4,4 Millionen Einwohner zählenden Kaukasus-Staat ein neues Parlament gewählt wird, steht indirekt auch die Amtsführung des als Heißsporn berüchtigten Saakaschwili zur Abstimmung. Lässt er den Provinzfürsten Abaschidse gewähren, so verliert er selbst an Autorität. Kommt es zum Blutvergießen, ist die Hoffnung auf wirtschaftlichen Aufschwung in Gefahr. Während die USA in Person ihres unablässig im Hintergrund wirkenden Botschafters Richard Miles zu vermitteln versuchen, beobachten die Russen den Kampf um die Macht in der kaukasischen Küstenregion scheinbar unparteiisch. Dabei verfügen sie mit ihrer Militärbasis bei Batumi über einen entscheidenden Hebel. "Sie glauben doch nicht wirklich, dass die Truppen im Ernstfall neutral bleiben würden", sagt Gela Gwarischwili, der Leiter der adscharischen Verwaltung. In einem Dossier des russischen Militärgeheimdiensts heißt es, die Amerikaner hofften nicht zuletzt deshalb auf einen Sturz Abaschidses durch eine Mischung aus "kaltem Krieg" und Verhandlungsgeschick.

Käme es hingegen doch noch zum bewaffneten Konflikt, werde Adscharien, so heißt es in Batumi, wohl den Weg der Provinzen Abchasien und Süd-Ossetien gehen. Die sagten sich Anfang der Neunziger in blutigen Kämpfen von Georgien los und fristen seither, international nicht anerkannt, ein Dasein als Armenhäuser mit angeschlossener Kaserne. UWE KLUSSMANN

Anmerkungen der GN-Redaktion zu diesem Artikel:

Den Bemerkungen über Saakaschwilis Kindergarten-Kabinett und seine selbstherrliche Art, das Land zu regieren, kann kaum widersprochen werden. Die Spiegel-Darstellung der Vorgänge in und um Adscharien verbiegen die realen politischen Probleme Georgiens mit seiner Schwarzmeerprovinz jedoch zu einer trivialen Räuberposse. Nahezu nichts davon entspricht der Wirklichkeit. Batumi ist keine "Rebellen-Hochburg", Adscharien keine "Rebellen-Provinz". Noch viel weniger handelt es sich um einen "Konflikt der überwiegend muslischen Bevölkerung Adschariens mit den Machthabern in der Hauptstadt des überwiegend christlichen Georgiens". Es geht einzig und allein darum, wie lange Tbilissi und die überwiegende Mehrheit der adscharischen Bevölkerung, die nachweislich nicht hinter Aslan Abaschidse steht, sich dessen absurde Diktatur, mit der er seine Provinz ausbeutet, noch gefallen lassen müssen. Dass er dazu bezahlte Bauern aus den Bergen Adschariens mit Waffen ausrüsten und in Batumi und Choloki (Verwaltungsgrenze Adschariens) aufmarschieren ließ, hat mit einem drohenden Bürgerkriegsszenario, wie im Spiegel beschrieben, nichts zu tun. Hinter den wechselseitig aufgebauten Drohkulissen verhandeln beide Seiten seit Wochen über die Modalitäten des Abgangs Abaschidses, der selbst zu wissen scheint, dass seine Zeit abgelaufen ist. Mit einer sorgfältigen Recherche vor Ort hätte man dies herausfiltern, seriöser darstellen und auf die Versatzstücke einer Seifenoper verzichten können. Dass Adscharien den Weg Abchasiens und Süd-Ossetiens gehen könnte und dass sich das russische Militär auf Seiten Abaschidses einmischen könnte, ist nach allem, was man in diplomatischen Kreisen in Tbilissi recherchieren kann, ein Hirngespinst, an das nicht einmal mehr Abaschidse selbst glauben kann. Trotzdem lässt er seine Leute diese Szenarien mediengerecht aufbauen. Und der Spiegel druckt treu und brav ab. Räuberpossen schreiben und lesen sich eben leichter als seriöse Analysen.


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