Das dpa-Bild muss es dem Redakteur der Badischen Neuesten Nachrichten (BNN) in Karlsruhe wohl angetan haben. Innerhalb weniger Wochen druckte er es in zwei Artikeln über die Situation in Georgien gleich in einer satten dreispaltigen Version ab. Es zeigt ein gutes Dutzend junger georgischer Soldaten im Laufschritt und in voller Montur, anscheinend bei einer Trainingseinheit aufgenommen. Im September erklärten die BNN ihren Lesern in einer Bildunterschrift, dass diese Soldaten im Pankisital gegen russisches Militär eingesetzt würden. Jetzt im Dezember müssen diesselben Soldaten wieder zu Felde ziehen, diesmal gegen weitere Sezessionen in Georgien, wobei der Redakteur in seiner badischen Schreibstube von der Erkenntnis geleitet wird, dass für Georgiens Armee "auch in Zeiten wirtschaftlicher Not Geld vorhanden" wäre.

Bei allem Unsinn, der in deutschen Zeitungsspalten über Georgien verbreitet wird, sind diese Bildunterschriften der BNN wohl einzigartig. Denn nahezu kein einziges Wort entspricht der Wahrheit.

Erstens war russisches Militär niemals ins Pankisital eingerückt, Moskau hat nur in einer grossspurig angelegten Propagandaschlacht mit einer Invasion im Pankisital gedroht und hat damit eine diplomatische Bauchlandung erster Güte auf dem internationalen politischen Parkett hingelegt. Georgische Soldaten mussten sich nur in der Fantasie der BNN-Redaktion der Invasion russischen Militärs erwehren.

Zweitens waren in den Operationen im Pankisital nur interne Sicherheitsorgane involviert, die Armee trainierte ausserhalb des Pankisitals.

Drittens gibt es kein Sezessionsgebiet in Georgien, in dem georgische Soldaten zum Einsatz kommen, geschweige denn ist derzeit ernsthaft eine weitere Sezession zu erwarten, in der georgische Soldaten unter Umständen eingesetzt werden könnten. In Adscharien gehen - Franz Josef Strauss lässt grüssen - dank Aslan Abaschidse, dem Provinzfürsten, die Uhren zwar ein wenig anders als im übrigen Georgien, aber das Szenario einer adscharischen Sezession geistert wohl nur in den Köpfen gewisser Moskauer Propaganda-Ideologen und ihrer unbedarften, weil uninformierten publizistischen Handlanger in den Medien der Welt herum.

Viertens ist der BNN-Redakteur wohl der einzige Fachmann auf der Welt, der von einer ausreichenden Finanzierung der georgischen Armee ausgeht. Richtig ist, die georgische Armee ist, wie die gesamte öffentliche Infrastruktur des Landes, chronisch unterfinanziert und kann ihren Aufgaben nicht annähernd gerecht werden. Reihenweise werden geplante Manöver oder Teilnahmen an Veranstaltungen im Rahmen der NATO-partnerschaft für den frieden abgesagt. Die Militärakademie wurde von der Türkei saniert, Transporthubschrauber haben die USA gestiftet. Der Verteidigungsminister klagt regelmässig darüber, dass er noch nicht einmal das viel zu geringe Budget von etwa 18 Millionen US-$ in diesem Jahr auch tatsächlich ausbezahlt bekommt. Das amerikanische Trainingsprogramm - nicht viel mehr als eine Art Grundausbildung für einen Teil der georgischen Armee - ist mit 64 Millionen US-$ für zwei Jahre finanziell weitaus üppiger ausgestattet als der gesamte georgische Verteidigungshaushalt.


Im Zusammenhang mit der Unterschrift und dem Artikel suggeriert dieses Bild eine Situation in Georgien, die auch nicht im entferntesten der Wirklichkeit entspricht. Es bedient nichts anderes als die vielen Klischees, die über Georgien in der Welt herumgeistern. Ähnlich verhält es sich mit den Inhalten des gesamten Artikels mit der Überschrift: "Die wachsende Armut drückt das stolze Volk in der Kaukasusrepublik". Er strotzt geradezu vor Unwahrheiten und Klischees und widerspricht sich teilweise selbst. Einerseits wird den rund 250 Swiadisten, die allabendlich vor dem Parlament gegen die Regierung Schewardnadse protestieren, attestiert, dass sie im politischen Leben Georgiens keine Rolle mehr spielen. Andererseits werden sie aber in einem Drittel des Artikels zitiert, um den heruntergekommenen Zustand Georgiens zu dokumentieren.

Da wird an das blühende Georgien aus der Sowjetzeit erinnert ohne dabei auch den Hintergrund zu liefern: Georgien war in der UdSSR eine Netto-Nehmer-Republik, erhielt mehr Finanzen, Waren und Dienstleistungen aus dem System als es zulieferte. Der Wohlstand Georgiens war also fremd finanziert, teilweise gesponsort. Heute gibt es kein zentrales Planungssystem in Moskau mehr, das - aus welchen Gründen auch immer - die Republik im Süden des Kaukasus hätscheln würde. Wer Vergleiche zieht, muss auch den Hintergrund liefern, wenn er seriös bleiben will.

Da erinnert Tbilissi an eine Metropole der Dritten Welt und werden nur die Wirtschaftsdaten der offiziellen Statistiken zitiert. Wenn aber gut 80 % der Wirtschaft im Schatten arbeitet und weder vom Fiskus noch von der Statistik erfasst wird, dann ist die Schattenwirtschaft eben die Volkswirtschaft und nicht die statistisch erfasste. Und im Schatten, das kann jeder erkennen, der nur ein wenig den Kaufkraftzuwachs der letzten zwei bis drei Jahre beobachtet, ist durchaus wirtschaftliche Dynamik vorhanden. Wo kommen denn sonst all die Neubauten in Tbilissi her, die Appartmenthäuser, die Restaurants, die vielen Tankstellen und Supermärkte? Woher der enorme Kreditbedarf der kleinen und mittleren Betriebe, der die Mikrofinanzbank, eine Gründung der deutschen KfW, innerhalb von zwei Jahren zur fünftgrössten Bank des Landes machte?

Da wird erklärt, dass 60 % der Georgier unter der offiziellen Armutslinie von 205 GEL für eine vierköpfige Familie (= 50 GEL/Kopf) leben, ohne gleichzeitig hinzuzufügen, dass mit dieser Zahl eben nur das statistisch erfasste Familieneinkommen abgegriffen wird und nicht das Zusatzeinkommen, das in der Schattenwirtschaft hinzuverdient wird. Im Durchschnitt, das ist unsere Beobachtung, verdient auch die georgische Unterschicht in der Schattenwirtschaft mehr als das Doppelte dessen, was sie an offiziellem Einkommen hat. Vom Mittelstand, der sich zunehmend selbstbewusster und kaufkräftiger präsentiert, ganz zu schweigen. Mit 50 GEL (wie in den BNN behauptet) kann ein durchschnittlicher Georgier noch nicht einmal seinen monatlichen Tabakkonsum abdecken. Und es wird viel geraucht in Georgien, das kann auch einem deutschen Zeitungsreporter, der im Herbst 2003 Tbilissi besuchte, nicht verborgen bleiben. Warum schreibt er dann solch oberflächlichen Unsinn?

Wir wollen die Situation in Georgien nicht schön schreiben. Wir berichten regelmässig übe die wirtschaftlichen Probleme des Landes, aber auch über die Fortschritte. Denn mit dem beständigen Woederholen derselben Klischees und Unwahrheiten, die seit Jahren von einem durchreisenden Journalisten zum anderen weitergereicht werden, wird man diesem Land und seinen Problemen nicht gerecht. Die georgische Gesellschaft lebt mit vielen Realitäten und es bedarf schon einer gewissen Erfahrung, hinter all den Kulissen, die einem hierzulande mit viel Talent aufgebaut werden, die wirkliche Situation der Gesellschaft zu entdecken.

Nehmen wir nur ein Beispiel, es steht für viele: Eine (uns bekannte) geschiedene Lehrerin mit zwei studierenden Kindern steht in der offiziellen Statistik mit einem Monatsgehalt von 50 GEL, das wären nicht einmal 20 GEL pro Nase. In der Realität hat sie aber eine Wohnung (alle Georgier sind Wohnungsbesitzer, da der gesamte Wohnungsbestand nach der politischen Wende an die Benutzer privatisiert wurde) vermietet und ist mit ihren Kindern in die Wohnung ihrer Mutter gezogen. Die Tochter - ausgestattet mit Handy - ist vormittags Studentin, am Nachmittag arbeitet sie in einem ausländischen Unternehmen gegen gute Dollars. Die Grossmutter, Renternin, bestreitet ein kleines Lebensmittelgeschäft. Statistisch wird diese fünfköpfige Familie mit besagten 50 GEL der Lehrerin und damit unter jenen 60 % der Menschen unterhalb der Armutsgrenze geführt. In der georgischen Realität aber verfügt sie nach unserer Einschätzung über ein Gesamteinkommen von monatlich mindestens 500 $. Und dabei sind Zuwendungen von Verwandten, Onkel und geschiedener Ehemann, die in durchaus einträglichen Positionen der öffentlichen Verwaltung sitzen, noch nicht einmal berücksichtigt. Dies ist kein Einzelbeispiel, dies ist georgischer Alltag und zigtausendmal reproduzierbar. Würde das von den BNN zitierte offizielle Einkommen von 60 % der georgischen Bevölkerung von rund 50 GEL pro Kopf wirklich stimmen, wären 60 % der Bevölkerung akut vom Hunger bedroht und zwar so bedroht, dass jeder westliche Fotograf mit einer Sammlung an Horrorbildern nach Hause käme. Dann lägen, die drastische Bewertung sei uns nachgesehen, die Hungerleichen zu Tausenden auf der Strasse.

Georgien lebt zum grossen Teil auch von Transfergeldern. Zwar werden in der Bevölkerungsstatistik rund 5 Millionen Menschen geführt. Wer sich nur einigermassen im Land auskennt, weiss aber, dass nahezu eine Million Georgier derzeit im Ausland lebt, dort Geld verdient und die Verwandten zu Hause unterstützt, rund 800.000, so schätzt man, allein in Russland, trotz Visaregime. Wer das Geld, das auf diesem Wege ins Land gelangt, unterschlägt, schildert alles andere als die wirtschaftliche Realität Georgiens.

Bis heute gibt es keine verlässlichen Bevölkerungsdaten aus der grossen Volkszählung vom Frühjahr diesen Jahres. Warum wohl? Weil niemand, schon gar nicht die staatlichen Stellen, ein Interesse daran hat, die wirkliche Situation im Lande darzustellen. Denn dann könnte es durchaus sein, dass Georgien seinen Status als Entwicklungsland schneller verliert als es vielen lieb ist.

Brechen wir hier ab, wir wären durchaus in der Lage, mit weitaus mehr Zahlen und Fakten die unsäglichen Klischees des BNN-Artikels zu widerlegen. GN setzt weiter darauf, mit vor Ort recherchierten Hintergrundberichten und Analysen über die Distanz von Monaten ein einigermassen realistisches Bild der georgischen Wirklichkeit zu zeichnen. Und vielleicht schaut dann der eine oder andere deutsche Zeitungsredakteur hin und wieder bei uns rein, um all das zu überprüfen, was ihm von Kollegen, die sich nur selten vor Ort aufhalten, auf den Schreibtisch flattert. Armutsschlagzeilen sind wohlfeil, sie gehen aber zumindest im Fall Georgien heute meilenweit an der Realität, so problembeladen sie auch immer sein mag, vorbei. Die georgische Realität ist viel, viel komplexer.

Rainer Kaufmann

P.S.: Ich habe vor 30 Jahren meine journalistische Laufbahn als Volontär bei den BNN in Karlsruhe begonnen und biete der Redaktion, deren Kolleginnen und Kollegen ich teilweise noch persönlich kenne, gerne jede Hilfestellung und Information in Sachen Georgien an. Wie wärs mit einer Diskussion während meines Heimaturlaubs im Januar in der Karlsruher Redaktion?




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