Die wachsende Armut drückt das stolze Volk
in der Kaukasusrepublik
Viele Georgier machen Präsident Schewardnadse für den
Niedergang verantwortlich/Tiflis erinnert inzwischen an Metropole
der Dritten Welt
Von unserem Mitarbeiter Friedemann Kohler
Tiflis. "Sche-ward-na-dse Ter-ro-rist, Sche-ward-na-dse
Ter-ro-rist!" Wütende Sprechchöre schallen über
den Rustaweli-Prospekt, dem schönsten Boulevard in Georgiens
Hauptstadt Tiflis. Doch die wenigsten Passanten kümmern sich
um die etwa 250 Rufer. Im Schutz des klotzigen Parlamentsgebäudes
schwenken die Demonstranten die weinroten Fahnen Georgiens und
halten Bilder des vor zehn Jahren gestürzten Präsidenten
Swiad Gamsachurdia hoch. Seit fünf Monaten fordert die kleine
Schar jeden Abend den Rücktritt von Staatschef Eduard Schewardnadse
und Neuwahlen.
Für die Demonstrantin Elsa Obrawa ist Schewardnadse persönlich
an allen Übeln Georgiens schuld. "Er hasst die Menschen",
schimpft die Maschinenbauingenieurin. Seit ihrem Hochschulexamen
1989 arbeitete sie teils in staatlichen Firmen - ,aber die Löhne
wurden nicht gezahlt" -, teils war sie arbeitslos. Gelegentlich
kann sich Obrawa mit ihrem bruchstückhaften Englsich als
Dolmetscherin verdingen. Ansonsten ernährt ihre Mutter mit
einem Stand auf dem Markt die Familie. "Den Leuten bleibt
nichts anderes übrig, als auf dem Markt zu sitzen und zu
handeln."
Umständlich und beharrlich wie Sektenprediger erläutern
die Gamsachurdia-Anhänger, warum alles, was seit dem Sturz
ihres Helden 1992 in Georgien pasiert ist, ihrer Ansicht nach
illegitim und verbrecherisch ist. Gamsachurdia, der Dissident,
Unabhängigkeitsheld und unberechenbare erste Präsident,
starb 1993. Seine "Swiadisten" sind keine bedeutende
politische Kraft mehr. Doch die Krise des Landes im Kaukasus muss
tief sein, wenn ein Teil der Bevölkerung das letzte Jahrzehnt
am liebsten vergessen und das rad der Geschichte zurückdrehen
möchte.
Bis zur Auflösung der Sowjetunion 1991 war Georgien die
reichste Unionsrepublik, ein subtropisches Paradies voller Wein,
Tee und Orangen. Ein südliches Sehnsuchtsland zwischen Orient
und Okzident, wirtschaftlich den baltischen Republiken um drei
bis fünf Jahre voraus. Heute stehen die baltischen Länder
kurz vor der Aufnahme in die Europäische Union (EU), wähernd
Georgien politisch und wirtschaftlich im Chaos versunken ist und
sich mit den Armenhäusern Moldawie, Armenien und Tadschikistan
vergleichen muss.
Tiflis, eins die modernste Großstadt der Sowjetunion, wirkt
nun wie eine Metropole der Dritten Welt. Die historische Altstadt
mit ihren malerischen Balkons und weinüberrankten Hinterhöfen
verfällt. An den Plattenbauten rund um das Zentrum bröselt
der Beton. Zwar gibt es Luxushotels, feine Läden für
die dünne Schicht der Reichen, dei Straßen davor aber
werden jedoch von bettlern beherrscht.
Jahrelang überspielten die Georgier die fortschreitende
Verarmung mit kaukasischem Stolz und Großmut. Doch ein Besucher
in diesem herbst spürt, dass der Stolz gebrochen ist, dass
Armut die Menschen niederdrückt und verschlossen macht. Die
traurigen Wirtschaftsdaten sind schnell aufgezählt. Fünf
Millionen Georgier erarbeiteten 2001 ein Bruttoinlandsprodukt
(BIP) von nur 3,14 Milliarden US-Dollar.
2002 wird ein Wachstum von 3,8 Prozent erwartet, doch für
einen spürbaren Aufschwung müsste die Zahl doppelt so
hoch sein. Experten sprechen von "tief verwurzelter Korruption".
60 Prozent der Georgier leben unter der offiziellen Armutslinie
von monatlich 205 Lari (95 Euro) für eine vierköpfige
Familie. Auf dem Gebrauchtwarenmarkt mit Haushaltströdel
und Elektroschrott am Ufer des Flusses Mtvari herrscht kaum Betrieb.
"Früher haben die Leute hier noch viel gekauft, jetzt
ist die Kaufkraft gesunken", meint Waleri Tumjan fachmännisch.
Schliesslich ist er studierter Ökonom. Doch in seinem Hauptjob
im Statistikamt verdient er nur 30 Lari monatlich. "Das reicht
lediglich für Brot". Um Frau und Tochter zu ernähren,
bietet er auf dem Markt seine Dienste als Polsterer an. Zwei Aufträge
im Monat bringen weitere 40, 50 Lari in die Familienkasse. "Dann
gibt es auch noch Butter", sagt Tumjan.
Neben ihm bei Walentina, einer blondierten Russin im Rentenalter,
wird nicht um Lari, sondern um zehn Tetri (4,5 Cent) gefeilscht.
Von den geforderten zwei Lari für ein orangefarbenes Negligee
angeblich deutscher Herkunft ist sie schon auf 1,50 Lari heruntergegangen.
"Ich habe nur 1,40 Lari dabei, ehrlich" klagt die Käuferin.
Walentina lenkt ein und giftet der abziehenden Kundin noch "Du
willst das ja nur weiterverkaufen!" hinterher. Die Witwe
eines sowjetischen Offiziers sitzt aus Not mit ihrem Sammelsurium
aus alten Brillen, einem Wasserkrug und billigen Broschen auf
dem Markt. "Von nur 14 Lari Rente kann ich nicht leben",
sagt sie.
Walentina lässt wie viele Menschen in Georgien ihrem Ärger
über den Präsidenten freien Lauf. "Schewardnadse
hat das Land verraten", wirft sie ihm vor. "Er hat Abchasien
und Süd-Ossetien verloren." Tatsächlich ist Georgien
in zehn Jahren Unabhängigkeit immer kleiner geworden. 1992
konnte Tiflis selbst mit Gewalt die Abspaltung der Teilrepublik
Süd-Ossetien nicht verhindern, die sich zu einem Schmugglernest
mit offener Grenze nach Russland entwickelt hat.
In zwei Kriegen von 1992 bis 1994 spaltete sich die reiche Küstenprovinz
Abchasien am Schwarzen Meer ab. Die Teilrepublik Adscharien an
der Grenze zur Türkei geht unter der Führung von Präsident
Aslan Abaschidse eigene Wege.
Bildunterschrift:
FÜR DIE ARMEE ist in Gorgien auch in Zeiten der wirtschaftlichen
Not Geld vorhanden. Die Soldaten sollen weitere Abspaltungen verhindern.
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