Moskauer
Staatsterrorismus
GN-Kommentar
zum Moskauer Geiseldrama
Unter zivilisierten Menschen muss gelten: Niemand hat das Recht,
um seiner eigenen Ziele willen Unschuldige als Geiseln und damit
deren Tod in Kauf zu nehmen. Das ist unstrittig und das muss ganz
einfach unstrittig bleiben.
Genauso unstrittig
aber sollte sein, dass niemand als Geiselnehmer und Terrorist
geboren wird. Und genau bei dieser Erkenntnis beginnt das Moskauer
Geiseldrama wirklich interessant zu werden. Denn Putin und seine
Mit-Mächtigen in der Armee machen sich die Situation nach
dem überstandenen Geiseldrama recht einfach: Russland hat
in - mehr oder weniger erfolgreich - einem Schlag des internationalen
Terrorismus widerstanden. Und Moskau wird, George Bush lässt
grüssen, den Terrorismus bekämpfen, wo immer er sich
zeigt oder sich versteckt.
Trotz möglicher
Querverbindungen zu internationalen Netzwerken ist das russische
Problem mit den Terroristen aus Tschetschenien aber ohne jeden
Zweifel ein hausgemachtes, kein internationales. Denn der Nährboden,
auf dem der tschetschenische Terrorismus gedeihen konnte, ist
nichts anderes als der Moskauer Staatsterrorismus, der sich in
Grosny und den Bergen des Nordkaukasus seit Jahren austoben darf.
Und die Welt hat davon kaum noch Notiz genommen. Jetzt, nach dem
jähen Ende eines Moskauer Musicals, kann sich niemand mehr
um die grausame Wahrheit herumdrücken.
Die russisch-tschetschenische
Leidensgeschichte ist ein paar Jahrhunderte alt, den Freiheitswillen
des kaukasischen Bergvolkes konnte Russland schon zur Zarenzeit
kaum unterdrücken. Neu entfacht wurde der Streit nach dem
Zusammenbruch der UdSSR, als Jelzin mit Waffengewalt den Tschetschenen
zunächst einmal verweigerte, was er vielen Völkern Russlands
gewährte: die Autonomie innerhalb der russischen Föderation.
Erst nachdem die Tschetschenen die russische Armee schmählich
aus Grosny vertrieben hatten, konnte Ex-General Lebed einen Waffenstillstand
aushandeln, der nach einer Übergangsfrist von fünf Jahren
eine wie auch immer geartete verfassungsrechtliche Lösung
für Tschetschenien in Aussicht stellte. Man muss heute davon
ausgehen: Moskau hat dieses Versprechen Lebeds und Jelzins nie
ernsthaft in Erwägung gezogen. Moskau hat die Tschetschenen
mit diesem Waffenstillstand über den Tisch gezogen. Jedenfalls
muss man den Tschetschenen zugestehen, dass sie aus ihrer Sicht
der Dinge zu keiner anderen Bewertung kommen können.
Denn wenige
Jahre später starteten Moskaus Generale mit Billigung des
von Jelzin eingesetzten Überraschungspräsidenten Putin,
der seinen ersten Wahlkampf zu bestehen hatte, einen zweiten,
in der Bevölkerung durchaus populären Feldzug in Tschetschenien.
Heute kann man diesem Feldzug das Ziel unterstellen, das widerspenstige
und eigenwillige Kaukasusvolks endgültig zu unterwerfen,
auch um den Preis eines Genozids im eigenen Land. Dabei mussten
als Begründung für diesen neuen Waffengang Anschläge
auf Wohnhäuser in Moskau herhalten, die man den Tschetschenen
zuschrieb, ohne jemals wirklich einen schlüssigen Beweis
dafür vorgelegt zu haben. Viele, die verschiedene Moskauer
Sicherheitsapparate und deren Möglichkeiten genauer kennen,
zweifeln bis heute daran, dass wirklich Tschetschenen diese Anschläge
verübt haben, oder sie wollen zumindest nicht ausschließen,
dass bestimmte Organe Moskaus bei den Anschlägen mitgeholfen
haben, um einen Grund zu schaffen, den ungeliebten Lebed-Waffenstillstand
brechen und eine militärische Endabrechnung in Tschetschenien
beginnen zu können. Natürlich haben auch Tschetschenen
an dieser Schraube der Gewalt mitgedreht, als sie sich im Innern
zerstritten hatten und ihre eigenen Abenteurer daran gingen, abstruse
Gottesstaatsideen nach Daghestan auszubreiten.
Seither wütet
in Tschetschenien eine wilde russische Soldadeska, während
ihre Generalität, wie man weiss, keine Skrupel hat, die Waffenarsenale
der früheren Roten Armee zu öffnen, um sich an deren
Verkauf, auch an Tschetschenen, persönlich zu bereichern.
Geld stinkt nicht und in den Weiten der russischen Föderation
gibt es genügend junger Burschen, die - wiederum gegen besondere
Entlohnung - ins tschetschenische Feuer geschickt werden können.
Menschenleben zählen nach wie vor wenig in diesem zynischen
System der Machterhaltung.
Man weiß
in Georgien zum Beispiel genau, wie sich Tschetschenen in russischen
Militärbasen mit Waffen versorgten. Und man weiß auch
sehr genau, dass der tschetschenische Feldkommandant Gulajew vor
wenigen Wochen das georgische Pankisital zusammen mit 200 Kämpfern
per Hubschrauber, der in Russland gechartert worden war, in Richtung
Inguschetien und verlassen hat. Diese Verletzung der russischen
Grenze wäre ohne die ebenso helfende wie offene Hand eines
russischen Grenzgenerals nie möglich gewesen.
Mehr als 100.000
Menschenleben hat dieser an Zynismus kaum zu überbietende,
schmutzige Krieg in Tschetschenien bisher auf beiden Seiten gekostet.
Zeugenberichte aus dem besetzten Grosny, wie sie jüngst gerade
wieder in ARTE gezeigt wurden, bezeugen, dass die russischen Soldaten
alles andere tun als das Land zu befrieden, wie es Putin nach
dem militärischen Erfolg versprochen hatte. Das ungehinderte
Morden, Plündern und Vergewaltigen geht munter weiter und
es gibt kaum eine Familie in Tschetschenien, die nicht einen Teil
ihrer jungen Söhne in den letzten Jahren verloren hätte.
Zig Tausende Tschetschenen leben unter unsäglichen Bedingungen
in Flüchtlingslagern oder eben in ihren total zerbombten
Städten und Dörfern: Zig Tausende junger Witwen, zig
Tausende klagender Mütter, zig Tausende junger Waisenkinder,
die alle auch nicht als Terroristen geboren wurden, deren Weg
aber vorgezeichnet zu sein scheint.
Um diesen
Hintergrund darf sich niemand herummogeln, der die wahnsinnige
und verurteilenswerte, aber in ihrer verzweifelten Logik zumindest
nachzuvollziehende Todesaktion der tschetschenischen Frauen und
Männer im Moskauer Musical-Theater einordnen und bewerten
will. Wenn schon Putin und sein Generalstab dazu nicht in der
Lage sind, dann müssen diejenigen, die sich seiner Freundschaft
rühmen, nicht nur hinter verschlossenen Türen eine klare
Sprache sprechen und den Kremlfürsten zu einer politischen
Lösung des Tschetschenienproblems drängen, wenn er denn
überhaupt noch Macht und Willen hat, eine solche gegen die
Betonköpfe im Generalstab durchzusetzen.
Die Art und
Weise, wie die Armeeführung in Moskau Ärzte und Geiseln
tagelang im Ungewissen über das eingesetzte Gas ließ
und dabei weitere Todesopfer in Kauf nahm statt das Leben unschuldiger
Menschen zu retten, lässt nicht viel Gutes ahnen. Auch die
Reaktion der russischen Duma, im Eilgang die Pressefreiheit einzuschränken,
passt in dieses Bild. Wenn über Anti-Terror-Maßnahmen
nicht mehr berichtet werden darf, dann heißt dies nichts
anderes als dass es gefährlich wird, aus Tschetschenien die
Wahrheit zu berichten. Denn aus Moskauer Sicht ist der Tschetschenien-Feldzug
nichts anderes als eine ganz normale Anti-Terror-Operation.
Wladimir Putin
muss sich entscheiden und dem Treiben Einhalt gebieten. Ansonsten
wird er als nichts anderes zu gelten haben als alle seine Vorgänger:
als ein gnadenloser Zyniker Moskauer Macht, ein Staatsterrorist.
Hat Russland wirklich nicht die Kraft, sich zu ändern? Der
Europarat in Straßburg hat noch viel Überzeugungsarbeit
bei seinem Mitglied Russland zu leisten. Und Joschka Fischer muss
das, was er jüngst im Bundestag zum Tschetschenienkonflikt
erklärte, auch einmal laut und deutlich sagen, wenn er das
nächste Mal nach Moskau reist. Es gibt auch in Russland Menschen,
die darauf warten.
Rainer
Kaufmann
Druckversion
|