Ausgabe 17/02, 06. Nov. Archiv
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Moskauer Staatsterrorismus
GN-Kommentar zum Moskauer Geiseldrama

Unter zivilisierten Menschen muss gelten: Niemand hat das Recht, um seiner eigenen Ziele willen Unschuldige als Geiseln und damit deren Tod in Kauf zu nehmen. Das ist unstrittig und das muss ganz einfach unstrittig bleiben.

Genauso unstrittig aber sollte sein, dass niemand als Geiselnehmer und Terrorist geboren wird. Und genau bei dieser Erkenntnis beginnt das Moskauer Geiseldrama wirklich interessant zu werden. Denn Putin und seine Mit-Mächtigen in der Armee machen sich die Situation nach dem überstandenen Geiseldrama recht einfach: Russland hat in - mehr oder weniger erfolgreich - einem Schlag des internationalen Terrorismus widerstanden. Und Moskau wird, George Bush lässt grüssen, den Terrorismus bekämpfen, wo immer er sich zeigt oder sich versteckt.

Trotz möglicher Querverbindungen zu internationalen Netzwerken ist das russische Problem mit den Terroristen aus Tschetschenien aber ohne jeden Zweifel ein hausgemachtes, kein internationales. Denn der Nährboden, auf dem der tschetschenische Terrorismus gedeihen konnte, ist nichts anderes als der Moskauer Staatsterrorismus, der sich in Grosny und den Bergen des Nordkaukasus seit Jahren austoben darf. Und die Welt hat davon kaum noch Notiz genommen. Jetzt, nach dem jähen Ende eines Moskauer Musicals, kann sich niemand mehr um die grausame Wahrheit herumdrücken.

Die russisch-tschetschenische Leidensgeschichte ist ein paar Jahrhunderte alt, den Freiheitswillen des kaukasischen Bergvolkes konnte Russland schon zur Zarenzeit kaum unterdrücken. Neu entfacht wurde der Streit nach dem Zusammenbruch der UdSSR, als Jelzin mit Waffengewalt den Tschetschenen zunächst einmal verweigerte, was er vielen Völkern Russlands gewährte: die Autonomie innerhalb der russischen Föderation. Erst nachdem die Tschetschenen die russische Armee schmählich aus Grosny vertrieben hatten, konnte Ex-General Lebed einen Waffenstillstand aushandeln, der nach einer Übergangsfrist von fünf Jahren eine wie auch immer geartete verfassungsrechtliche Lösung für Tschetschenien in Aussicht stellte. Man muss heute davon ausgehen: Moskau hat dieses Versprechen Lebeds und Jelzins nie ernsthaft in Erwägung gezogen. Moskau hat die Tschetschenen mit diesem Waffenstillstand über den Tisch gezogen. Jedenfalls muss man den Tschetschenen zugestehen, dass sie aus ihrer Sicht der Dinge zu keiner anderen Bewertung kommen können.

Denn wenige Jahre später starteten Moskaus Generale mit Billigung des von Jelzin eingesetzten Überraschungspräsidenten Putin, der seinen ersten Wahlkampf zu bestehen hatte, einen zweiten, in der Bevölkerung durchaus populären Feldzug in Tschetschenien. Heute kann man diesem Feldzug das Ziel unterstellen, das widerspenstige und eigenwillige Kaukasusvolks endgültig zu unterwerfen, auch um den Preis eines Genozids im eigenen Land. Dabei mussten als Begründung für diesen neuen Waffengang Anschläge auf Wohnhäuser in Moskau herhalten, die man den Tschetschenen zuschrieb, ohne jemals wirklich einen schlüssigen Beweis dafür vorgelegt zu haben. Viele, die verschiedene Moskauer Sicherheitsapparate und deren Möglichkeiten genauer kennen, zweifeln bis heute daran, dass wirklich Tschetschenen diese Anschläge verübt haben, oder sie wollen zumindest nicht ausschließen, dass bestimmte Organe Moskaus bei den Anschlägen mitgeholfen haben, um einen Grund zu schaffen, den ungeliebten Lebed-Waffenstillstand brechen und eine militärische Endabrechnung in Tschetschenien beginnen zu können. Natürlich haben auch Tschetschenen an dieser Schraube der Gewalt mitgedreht, als sie sich im Innern zerstritten hatten und ihre eigenen Abenteurer daran gingen, abstruse Gottesstaatsideen nach Daghestan auszubreiten.

Seither wütet in Tschetschenien eine wilde russische Soldadeska, während ihre Generalität, wie man weiss, keine Skrupel hat, die Waffenarsenale der früheren Roten Armee zu öffnen, um sich an deren Verkauf, auch an Tschetschenen, persönlich zu bereichern. Geld stinkt nicht und in den Weiten der russischen Föderation gibt es genügend junger Burschen, die - wiederum gegen besondere Entlohnung - ins tschetschenische Feuer geschickt werden können. Menschenleben zählen nach wie vor wenig in diesem zynischen System der Machterhaltung.

Man weiß in Georgien zum Beispiel genau, wie sich Tschetschenen in russischen Militärbasen mit Waffen versorgten. Und man weiß auch sehr genau, dass der tschetschenische Feldkommandant Gulajew vor wenigen Wochen das georgische Pankisital zusammen mit 200 Kämpfern per Hubschrauber, der in Russland gechartert worden war, in Richtung Inguschetien und verlassen hat. Diese Verletzung der russischen Grenze wäre ohne die ebenso helfende wie offene Hand eines russischen Grenzgenerals nie möglich gewesen.

Mehr als 100.000 Menschenleben hat dieser an Zynismus kaum zu überbietende, schmutzige Krieg in Tschetschenien bisher auf beiden Seiten gekostet. Zeugenberichte aus dem besetzten Grosny, wie sie jüngst gerade wieder in ARTE gezeigt wurden, bezeugen, dass die russischen Soldaten alles andere tun als das Land zu befrieden, wie es Putin nach dem militärischen Erfolg versprochen hatte. Das ungehinderte Morden, Plündern und Vergewaltigen geht munter weiter und es gibt kaum eine Familie in Tschetschenien, die nicht einen Teil ihrer jungen Söhne in den letzten Jahren verloren hätte. Zig Tausende Tschetschenen leben unter unsäglichen Bedingungen in Flüchtlingslagern oder eben in ihren total zerbombten Städten und Dörfern: Zig Tausende junger Witwen, zig Tausende klagender Mütter, zig Tausende junger Waisenkinder, die alle auch nicht als Terroristen geboren wurden, deren Weg aber vorgezeichnet zu sein scheint.

Um diesen Hintergrund darf sich niemand herummogeln, der die wahnsinnige und verurteilenswerte, aber in ihrer verzweifelten Logik zumindest nachzuvollziehende Todesaktion der tschetschenischen Frauen und Männer im Moskauer Musical-Theater einordnen und bewerten will. Wenn schon Putin und sein Generalstab dazu nicht in der Lage sind, dann müssen diejenigen, die sich seiner Freundschaft rühmen, nicht nur hinter verschlossenen Türen eine klare Sprache sprechen und den Kremlfürsten zu einer politischen Lösung des Tschetschenienproblems drängen, wenn er denn überhaupt noch Macht und Willen hat, eine solche gegen die Betonköpfe im Generalstab durchzusetzen.

Die Art und Weise, wie die Armeeführung in Moskau Ärzte und Geiseln tagelang im Ungewissen über das eingesetzte Gas ließ und dabei weitere Todesopfer in Kauf nahm statt das Leben unschuldiger Menschen zu retten, lässt nicht viel Gutes ahnen. Auch die Reaktion der russischen Duma, im Eilgang die Pressefreiheit einzuschränken, passt in dieses Bild. Wenn über Anti-Terror-Maßnahmen nicht mehr berichtet werden darf, dann heißt dies nichts anderes als dass es gefährlich wird, aus Tschetschenien die Wahrheit zu berichten. Denn aus Moskauer Sicht ist der Tschetschenien-Feldzug nichts anderes als eine ganz normale Anti-Terror-Operation.

Wladimir Putin muss sich entscheiden und dem Treiben Einhalt gebieten. Ansonsten wird er als nichts anderes zu gelten haben als alle seine Vorgänger: als ein gnadenloser Zyniker Moskauer Macht, ein Staatsterrorist. Hat Russland wirklich nicht die Kraft, sich zu ändern? Der Europarat in Straßburg hat noch viel Überzeugungsarbeit bei seinem Mitglied Russland zu leisten. Und Joschka Fischer muss das, was er jüngst im Bundestag zum Tschetschenienkonflikt erklärte, auch einmal laut und deutlich sagen, wenn er das nächste Mal nach Moskau reist. Es gibt auch in Russland Menschen, die darauf warten.

Rainer Kaufmann

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