Die innenpolitische Schonfrist für Eduard Schewardnadse ist
abgelaufen. Haben sich die wichtigsten Oppositionspolitiker vor
dem Gipfel in Kischniew mit kritischen Stellungnahmen noch zurückgehalten,
kam es nach dem jährlichen Rechenschaftsbericht Schewardnadses
vor dem Parlament am 11. Oktober zu einem handfesten Eklat. Fünf
Fraktionen verliessen sofort nach der Rede demonstrativ das Parlament
und lehnten es ab, über diesen Rechenschaftsbericht überhaupt
zu debattieren. Der Präsident sei auf keines der drängenden
Probleme des Landes wirklich eingegangen und habe damit zu erkennen
gegeben, dass er überhaupt nicht gewillt sei, mit der Bevölkerung
und dem Parlament in einen ernsthaften Meinungsaustausch einzutreten.
Demgegenüber verlautet aus der Umgebung des Präsidenten,
die Opposition habe mit ihrem Boykott wohl den bequemsten Weg
der Auseinandersetzung gewählt, weil sie fürchten müsse,
in einem direkten Austausch von Argumenten den Kürzeren zu
ziehen. Schewardnadse sei bereit gewesen, auf die Oppositionskritik
die richtige Antwort zu geben. Doch auch im verbliebenen Rumpfparlament
hagelte es böse Kritik an Schewardnadses Politik und Person.
Nach einem harschen Statement zog später auch noch die Fraktion
Wiederaufbau des adscharischen Präsidenten Aslan Abaschidse
aus dem Saal. Nur zwei Fraktionen standen mit ihren Bewertungen
ohne wenn und aber hinter dem Präsidenten, der es in den
letzten Jahren seiner Amtszeit sehr schwer haben wird, parlamentarische
Mehrheiten zu organisieren.
Schewardnadse
beschäftigte sich in seiner Rede tatsächlich weniger
mit den aktuellen innenpolitischen und wirtschaftlichen Problemen
des Landes als vielmehr mit tiefgreifenden Strukturreformen im
Aufbau des georgischen Staates und kündigte dabei wichtige
Verfassungsänderungen an. So soll Georgien aus einem zentralistisch
organisierten Staat in eine Föderation umstrukturiert werden.
Das Parlament soll in ein Zweikammersystem mit einem höchstens
100-köpfigen Parlament und einer zweiten Kammer, dem Senat,
in dem die Vertreter der Föderationssubjekte vertreten sind,
umgewandelt werden. Gleichzeitig kündigte er die Einführung
eines sogenannten Ministerkabinetts an und forderte mehr Kompetenzen
für das Staatsministerium, das derzeit nichts anderes ist
als eine Regierungskanzulei. Ganz nebenbei will Schewardnadse
noch die staatlichen Symbole geändert wissen, zum Beispiel
die Nationalhymne. Die heutige Hymne sei eines Landes mit der
musikalischen Tradition Georgiens unwürdig.
Wichtige Reformen
kündigte er auch im Sicherheitsbereich an. So soll zum Beispiel
der Nationale Sicherheitsrat, derzeit eine wichtige Stelle im
zentralen Nervensystem der georgischen Politik, zu einem reinen
Informationsbeschaffungsdienst für Analysen und Prognosen
umgebaut werden. Das Justizministerium soll aufgewertet werden
und die Kompetenz bekommen, alle staatlichen juristischen Angelegenheiten
zu koordinieren.
Im aussenpolitischen
Teil seiner etwas mehr als einstündigen Rede beschäftige
sich der Präsident vor allem mit dem aktuellen Thema des
Verhältnisses Georgiens zu Russland und Amerika. Beide Länder
seien gleichermassen strategische Partner Georgiens und das Land
habe keinen Grund, sich für einen von beiden zu entscheiden.
Im Gegenteil: Georgien sei eine Bühne, auf der Russland und
Amerika zusammenarbeiten könnten, aber niemals eine Bühne
für russisch-amerikanische Konfrontationen.
Eindeutig
bekannte sich Eduard Schewardnadse zum Beitritt Georgiens zur
Europäischen Union und zur NATO. Schon nach dem Prager NATO-Gipfel
will Georgien offiziell mit einem Aufnahmeantrag vorstellig werden.
Dies sei keine einfache und rasch umzusetzende Perspektive, aber
strategisch real, da Georgien bereits erhebliche Anstrenungen
in der Reform seiner Landesverteidigung unternommen habe. In wenigen
Jahren werde Georgien über eine kleine, gut ausgerüstete
und ausgebildete Armee verfügen, die NATO-Standards genüge,
erklärte Schewardnadse. Eine NATO-Mitgliedschaft Georgiens
richte sich nicht gegen Russland, da Russland selbst in alle wichtigen
Entscheidungen der NATO eingebunden sei.
Mit einigen
Überraschungen wartete Schewardnadse zum Thema Abchasien
auf, als er die baldige Einberufung einer Internationalen Abchasienkonferenz
unter der Präsidentschaft Russlands und Amerikas mit aktiver
Beteiligung der Ukraine und der Türkei ankündigte. Er
hätte mit dieser Initiative bereits früher an die Öffentlichkeit
können, aber die Idee sei noch nicht ausgegoren gewesen.
Georgien werde auf dieser Konferenz konkrete Vorschläge auf
der Basis des UN-Dokuments zur Aufteilung der Kompetenzen zwischen
Tbilissi und Suchumi unterbreiten. Dieses Papier sollte nicht
von der Agenda verschwinden. Wie diese Vorschläge aussehen
könnten, zeigte Schewardnadse mit seiner Ankündigung,
den Vorsitz im künftigen Senat Georgiens, der zweiten Kammer,
automatisch dem höchsten Führer Abchasiens zuzubilligen,
der damit zweiter Mann im georgischen Staat würde.
Für die
Fünfer-Koalition in der Opposition, die das Parlament aus
Protest gegen die Rede Schewardnadses verlies, erklärte der
Vorsitzende der "Neuen Rechten" David Gamkrelidze, die
Opposition habe gehofft, Schewardnadse würde sich mit den
schweren Problemen, die im Land existierten befassen. So habe
der Präsident die Frage der Budgetkrise mit einem Defizit
von 110 Millionen GEL nicht erwähnt, auch nicht die politischen
Verstösse seiner Regierung, zum Beispiel die Tatsache, dass
das Stadtparlament von Tbilissi seit mehr als fünf Monaten
nach der Wahl noch nicht zu seiner ersten Sitzung zusammentreten
konnte. Dem Boykott der Parlamentssitzung haben sich neben den
"Neuen Rechten" auch die "Bewegung für demokratische
Reformen" des früheren Justizministers Michael Saakaschwili,
die "Vereinten Demokraten" des ehemaligen Parlamentspräsidenten
Surab Schwania, die "Traditionalisten" von Akaki Tsereteli
und die "Christdemokraten - neues Abchasien" unter Wascha
Lordkipanidse, dem ehemaligen Staatsminister Schewardnadses, angeschlossen.
Drei dieser Fraktionen (Neue Rechte, Vereinigte Demokraten und
Bewegung für demokratische Reformen) haben sich in den letzten
drei Jahren von der Bürgerunion Schewardnadses abgespalten,
ihre Führer waren bis zum vergangenen Jahr noch prominente
Mitglieder der ehemaligen Mehrheitspartei.
Surab Schwania
und Michael Sakaschwili fuhren ebenfalls schweres Geschütz
gegen ihren ehemaligen Mentor Schewardnadse auf. Die Rede, erklärten
sie unisono, habe sie an eine Parteiveranstaltung der KP aus den
60-er Jahren erinnert. Die Führer der fünf Boykottfraktionen
liessen erkennen, dass sie sich ab sofort als ein Oppositionsblock
verstehen und gemeinsame Aktionen gegen die Regierungspolitik
planen. David Gamkrelidse sprach sogar von einem historischen
Tag. Es sei höchste Zeit, der Politik des Teilens und Herrschens
ein Ende zu bereiten. Surab Schwania erklärte dazu, dass
man sich darauf geeinigt habe, gemeinsam das Parlament zu verlassen
aus Protest gegen die Pläne der Regierung, die Opposition
aufspalten zu wollen. Man habe umfangreiche Stellungnahmen zur
Regierungspolitik vorbereitet gehabt, sei aber angesichts der
Rede Schewardnadses derart bestürzt gewesen, dass man sich
zum Boykott der Diskussion entschlossen habe.
Insbesondere
die Pläne zur Parlaments- und Verfassungsreform, die Schewardnadse
in seiner Rede vorlegte, hat die Opposition zur Rage gebracht.
Sie wittert hinter der föderalen Lösung und dem Zwei-Kammern-System
bei gleichzeitiger Aufwertung des Kabinetts nichts anderes als
den Versuch Schewardnadses, das Parlament zu entmachten. Dem müsse
die Oppositon mit Geschlossenheit gegenübertreten. Unterstützung
fand Schewardnadse bei der Bürgerunion und der Fraktion "Neues
Georgien", die seine Rede und die darin enthaltenen Vorschläge
begrüssten.
Schewardnadse
reagierte mit Unverständnis auf den Auszug der Opposition
aus dem Parlament und nannte dies eine Revolution und Notstandssituation.
Da er von den Plänen der Opposition wusste, sogar seine Rede
zu boykottieren, habe er noch am Abend zuvor mit Schwania und
Gamkrelidse gesprochen und sie gebeten, seinem Rechenschaftsbericht
zuzuhören. Er sei bereit, sich mit diesen Abgeordneten zu
treffen, aber die siebenjährige Erfahrung zeige, dass weder
das Staatsoberhaupt noch diese Personen irgendeinen Nutzen aus
diesen Kontakten hätten ziehen können, wobei Schewardnadse
grosszügig unterschlug, dass er fünf dieser sieben Jahre
vor allem mit Surab Schwania äusserst effektiv zusammengearbeitet
hat.
Nach dieser
Rede sind die Fronten in Georgien klarer denn zuvor. Die fünf
Boykottparteien repäsentieren derzeit mit insgesamt 76 Abgeordneten
den stärksten Block im georgischen Parlament, während
es die offenen Unterstützer des Präsidenten, Bürgerunion
und "Neues Georgien", gerade einmal auf 21 Sitze bringen.
Die Kommunalwahlen vom Frühjahr haben aber gezeigt, dass
die Oppositionsparteien bei Neuwahlen wohl weitaus stärker
zu veranschlagen sind. Damals hatten Schwania, Saakaschwili und
Gamkrelidze in der georgischen Hauptstadt mit 42 % der Stimmen
fast die Hälfte der Wähler auf sich vereinen können.
Darauf stützen sich die drei mit ihrer Totalopposition gegen
Schewardnadse.
Insgesamt
hat das Parlament 232 Sitze und Schewardnadse muss sich im nächsten
Jahr seine Mehrheiten von Fall zu Fall durch Verhandlungen und
informelle Kontakte unter den insgesamt 15 Fraktionen und 24 fraktionslosen
Abgeordneten zusammenbasteln. Im Herbst 2003 wird ein neues Parlament
gewählt, mit dem Eklat um die Präsidentenrede hat wohl
ein einjähriger Dauerwahlkampf begonnen, der das Parlament
zunächst einmal lähmen wird.
Regieren wird
dadurch nicht unbedingt einfacher. Wie Eduard Schewardnadse in
einer solchen innenpolitischen Situation Verfassungsänderungen
der Bedeutung durchbringen will, die er in seiner Rede ankündigte,
hat er nicht erklärt. Denn nach dieser Rede, so Michael Saakaschwili,
ehemals Fraktionsvorsitzender der Bürgerunion und später
Justizminister, sind alle Ressourcen des gegenseitigen Dialogs
erschöpft. Demonstrationen, wie gleich nach Schewardnadses
Rechenschaftsbericht in den Wandelgängen des Parlaments befürchtet,
seien derzeit nicht geplant, heisst es. Surab Schwania liess aber
keinen Zweifel daran, dass man wieder die Strasse mobilisieren
werde, sollte die Regierung irgendwelchen Druck auf NGO`s, kritische
TV-Sender oder gar Parteien ausüben. Nach überstandener
aussenpolitischer Krise steht Eduard Schewardnadse ein heisses
innenpolitisches Jahr bevor.
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