"Wer hätte vor zehn Jahren daran geglaubt, dass Georgien
heute so ein schönes Fussballstadion haben würde und
ein Länderspiel auf diesem Niveau austragen könnte?"
sagte ein Besucher kurz vor dem Anpfiff des EM-Qualifikationsspiels
Georgien-Russland noch voll Stolz. Mit diesem Stadion habe Georgien
endlich das Sowjetniveau verlassen und wer heute am Fernseher
zuschaue, müsse doch anerkennen, dass sich in den letzten
Jahren etwas getan habe in Georgien. In der Tat, das erst im letzten
Jahr fertiggestellte Lokomotive-Stadion, finanziert von der staatlichen
georgischen Eisenbahn, ist ein kleines Schmuckkästchen, der
Stolz des georgischen Sports, d.h. es war der Stolz des georgischen
Sports bis zu jener 39. Minute, als die Flutlichtanlage ausfiel
und nur für eine kurze Zeit wieder hochgefahren werden konnte.
Jetzt sind die Bettreiber des Lokomotive-Stadions zur Zielscheibe
internationalen Spotts geworden. Und was als sportlich-friedliches
Ende im georgisch-russischen Propagandakrieg der letzten Wochen
gedacht war, geriet zur grösstmöglichen Blamage für
das Land und vor allem seinen Präsidenten, der zusammen mit
einigen Ehrengästen aus Russland das Stadion in völliger
Dunkelheit verlassen musste.
Natürlich war sofort von Sabotage die Rede, von finsteren
Mächten, die die Regierung blamieren oder gar stürzen
wollten oder eben einfach nur etwas dagegen hatten, dass da entgegen
aller Medienhysterie, die politische Spannungen auf den Rasen
übertragen wollte, nichts anderes stattfand als ein - übrigens
bemerkenswert fairer - Sportwettkampf zweier Profiteams in erstaunlich
freundschaftlicher Atmosphäre. Der Präsident des russischen
Fussballverbandes, Wjatscheslaw Koloskow, hatte noch am Vorabend
davon gesprochen, dass seine Delegation keinerlei besonderen Sicherheitsmassnahmen
von Tbilissi verlangt habe, da man doch zu "engen Freunden"
gekommen sei. Trotzdem sorgten unübersehbar einige Tausend
Polizeibeamte für Ordnung und Sicherheit. Und am Rande des
Spiels absolvierten georgische Spitzenpolitiker eine ganze Reihe
freundschaftlicher Treffen auf politischer Ebene, so mit dem Vorsitzenden
des russischen Föderationsrates, Sergej Mironow, und dem
nordossetischen Präsidenten Alexander Dsassochow. Beide waren
Schewardnadses Gäste auf der Ehrentribüne zusammen mit
Diplomaten und einem Teil der georgischen Regierung. Und dann
der grosse Knall - ein Stadion im Candlelight.
Was war geschehen? Soweit die technischen Untersuchungen bis
heute ergaben, können alle finsteren Theorien von Sabotage
nahezu ausgeschlossen werden. Der Grund für den Ausfall der
Flutlichtanlage ist wohl eher in einer unglückseligen Kette
von Schlampereien bei der Installation und beim Betrieb der elektrischen
Anlage des Stadions zu suchen. Die Stromversorgung ins Stadion
war nachweislich nicht unterbrochen, der Transformator und der
Ersatztransformator haben einwandfrei gearbeitet. Bis zu dieser
Stelle ist der Stromverteiler AES-TELASI verantwortlich und dessen
Aggregate haben störungsfrei funktioniert, wie auch die gesamte
Stadt an diesem Abend mit Strom versorgt worden war.
Der Schaden entstand im Stadion-internen Elektrosystem und zwar
im dahinter geschalteten Spannungsregulator, der zusammengebrochen
ist und die Stromzufuhr zur Flutlichtanlage auf einen Schlag völlig
ausser Kraft setzte. Der angeblich rund 300.000 $ teure Spannungsregulator
ist, wie die gesamte Stadion-eigene elektrische Anlage, ein türkisches
Produkt. Experten des Herstellers sind derzeit noch auf der Suche
nach den Ursachen, wenngleich sie sich völlig sicher sind,
dass es nicht an ihren Anlagen gelegen haben kann. Diese Haltung
ist verständlich, denn vor allem aus versicherungstechnischen
Gründen muss einwandfrei geklärt werden, ob es sich
um einen Herstellungs-, Wartungs- oder Betriebsfehler handelt.
Denn die Wiederholung eines EM-Qualifikationsspiels wird den georgischen
Fussballverband teuer zu stehen kommen, daher wird die Suche nach
dem letztendlich Verantwortlichen akribisch vorangetrieben. Irgendeiner
muss den Schaden schliesslich bezahlen.
Bis zu diesem Punkt der Ereignisse ist eigentlich alles noch
normal abgelaufen, ein technischer Schaden kann überall auf
der Welt passieren. Alles weitere aber ist nicht nur für
den Kenner des Landes mehr als nur pikant. Innerhalb weniger Minuten
konnte der Generator gezündet und die Flutlichtanlage wieder
hochgefahren werden. Allerdings nur für wenige Minuten, denn
der Generator war anscheinend völlig ungzureichend belüftet,
lief nach nur kurzer Zeit heiss und gab - pünktlich mit dem
Pausenpfiff des Schiedsrichters - den Geist auf. Den Probelauf
des Generators hatte man bei offenen Türen des Generatorenhauses
gefahren, aus Sicherheitsgründen mussten diese während
des Spiels geschlossen werden.......
Nach Auskunft von Elektrizitätsexperten hätte man auch
den Spannungsregulator mit einer einfachen Schaltung relativ leicht
und in wenigen Minuten reparieren können. Aber anscheinend
war kein entsprechend erfahrener Fachmann vor Ort und es gab keine
technischen Informationen auf georgisch, englisch oder russisch.
Die vor Ort vorhandenen technischen Instruktionen waren auf türkisch
und im Augenblick der Katastrophe war niemand zugegen, der dieser
Sprache mächtig war. Dabei muss noch einmal darauf verwiesen
werden, dass das Lokomotive-Stadion, wie der Name vermuten lässt,
auf der Bilanz der staatlichen Eisenbahnverwaltung steht, die
es finanziert und gebaut hat. Und diese sollte, wie man bis zur
Halbzeit des Fussballspiels annehmen durfte, doch etwas von Elektrizität
und dem Umgang mit derselben verstehen.
Erstaunlich war, wie ruhig und gelassen die rund 20.000 Fussballfans,
die zwischen 10 und 50 Lari für ein Ticket zu zahlen hatten,
den Abbruch des Spiels hingenommen haben. Zunächst einmal
hat man sie mehr als eine halbe Stunde im Unklaren im Stadion
sitzen lassen, anscheinend um erst einmal die Mannschaften und
Ehrengäste in Sicherheit zu bringen. Erst danach leerte sich
das Stadion, wobei keinerlei grösseren Aggressionen gemeldet
wurden. Lediglich ein paar jugendliche Fans haben den Bus mit
den russischen Fussballern mit Steinen und Eiern beworfen, ein
Vorgang, den der Präsident des russischen Fussbalverbandes
mit der Bemerkung herunterspielte, so etwas komme in allen Stadien
der Welt vor und man müsse die Verärgerung der georgischen
Fans verstehen, die sich auf dieses Spiel gefreut hätten.
Auch die georgischen Sicherheitsbehörden lobten unisono die
Disziplin der georgischen Fans, die sich wegen des Spiellabbruchs
zu keinerlei Provokationen hätten hinreissen lassen. Szenen
marodierender Hooligans, wie sie in Moskau nach einer Niederlage
bei der WM zu sehen waren, gab es trotz der Enttäuschung
der 20.000 über den Spielabbruch nicht.
Im russischen Fernsehen wurde der ganze Vorfall jedoch völlig
anders bewertet. Die "Ereignisse von Tbilissi" waren
einem russischen Staatssender rund zwei Stunden nach dem Stromausfall
sogar eine 20-minütige Sondersendung mit einigen Live-Schaltungen
nach Tbilissi wert. Dabei wurde immer wieder die einzige Einstellung
gezeigt, als ein Wurfgeschoss den Bus der russischen Nationalmannschaft
traf. Und ein Telefon-Interview mit einem Reporter direkt am Flughafen
beim Einchecken zum Charterflug nach Wolgograd erweckte gar den
Eindruck, die russischen Spieler hätten Georgien aus Sicherheitsgründen
Hals über Kopf verlassen müssen. Tatsache ist, dass
die Kicker bereits zwei Stunden vor dem Spiel um 18.00 Uhr im
Sheraton-Metechi-Palace ausgecheckt hatten, ihr sofortiger Abflug
nach dem Spiel war Wochen vorher schon geplant, da in Wolgograd
wenige Tage danach ein weiteres EM-Qualifikationsspiel auf dem
Spielplan stand. Aus diesem Grund lehnten die Russen auch eine
Wiederholung des Georgienspiels sofort am Sonntag, wie es in den
UEFA-Statuten vorgesehen ist, ab. Die Wiederholung soll jetzt
im Frühjahr stattfinden, Zeit genung, die Elektrik des Stadions
auf Vordermann zu bringen, wenn nicht die UEFA das Spiel auf einem
neutralen Platz ansetzen wird. Entsprechende Forderungen aus Russland
wurden bereits erhoben.
Das Vorspiel zu diesem Nachspiel fand dann in der vergangenen
Woche in Moskau statt, wo eine Delegation des georgischen Fussballverbandes
über den Termin für das Wiederholungsspiel verhandelte.
Die Gespräche mussten wegen Stromausfalls beim russischen
Fussballverband unterbrochen werden.
Natürlich wurde auch Fussball gespielt an diesem Abend und
zwar trotz der fünfminütigen Unterbrechung immerhin
ganze 45 Minuten, also eine Halbzeit. Es war ein flottes und spannendes,
überaus faires Spiel, bei dem beide Seiten ihre Torchancen
hatten. Das Unentschieden entsprach dem Spielverlauf, die Georgier
hatten sich gegen die weitaus stärker eingeschätzten
Russen tapfer behauptet und hatten alle Chancen, das Spiel mit
einem Achtungserfolg, vielleicht sogar mit einem glücklichen
Sieg zu beenden, was Präsident Schewardnadse von seinem Nationaltrainer
Alexander Tschiwadse mehr oder weniger deutlich eingefordert hatte.
Dem Staatschef war das Spiel so wichtig, dass er sich tags zuvor
in einem Telefonat mit dem Nationaltrainer ausführlich über
den Stand der Vorbereitungen erkundigt hatte. Und die Sportzeitung
Tribüne, die im Stadion kostenlos verteilt wurde, zierte
eine Karrikatur, in der ein frisch gelockter Schewardnadse einem
etwas trostlos dreinschauenden Torwart Putin mit strammen Schuss
das Leder im Netz versenkt. Dank der Kompetenz seiner staatseigenen
Eisenbahn-Verwaltung in Sachen Elektrizität muss sich Schewardnadse
jetzt wohl eher damit beschäftigen, als Schütze eines
fulminanten Eigentores in die Geschichte der internationalen Sport-Karrikatur
einzugehen.
Tags darauf war dann die georgische Sportwelt wieder in Ordnung.
Am hellen Nachmittag und im alten Dynamo-Stadion, das im Gegensatz
zum Lokomotive-Schmuckkästchen den Charme früherer Zeiten
nicht verbergen kann, schlug die georgische Rugby-Nationalmannschaft
Russland in einem WM-Qualifikationsspiel mit 17:13 und sicherte
sich damit die Teilnahme an der Weltmeisterschaft 2003 in Australien.
50.000 Zuschauer verwandelten die alte Betonschüssel von
Dynamo in einen Hexenkessel und feierten ihre neuen Nationalhelden.
Zum ersten Mal nimmt eine georgische Rugby-Nationalmannschaft
an einem grossen internationalen Turnier teil. Bis tief in die
Nacht hinein liessen georgische Fans mit hupenden Autokorsos in
der Stadtmitte von Tbilissi ihren Gefühlen freien Lauf.
Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn am Tag zuvor
auch nur ein kompetenter Elektriker im Stadion gewesen wäre
und den Fussballern möglicherweise ein ähnliches Ergebnis
gelungen wäre. Der zwölfte Mann ist ab sofort nicht
mehr der Zuschauer, der zwölfte Mann ist zumindest in Georgien
der Stadionelektriker, wenn der nicht gerade auf einer Beerdigung
weilt.
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