Ausgabe 16/02, 23. Okt. Archiv
 Home
  :: Impressum
Tbilisi Tourist Center
ERKA-REISEN
Last Minute Hotels
Low Budget Trips & Tipps
Nicht-Region
Brüchige Sicherheit im Kaukasus

Bei dem Seminar der Parlamentarischen Versammlung der NATO im September zum Thema Sicherheit im Kaukasus hielt der holländische Journalist und Kaukasus-Spezialist Thomas de Waal einen beachtenswerten Vortrag, aus dem GN Auszüge veröffentlicht. De Waal hielt sich über viele Jahre im gesamten Kaukasus auf, demnächst erscheint sein Buch über den Karabach-Konflikt.
"Als Journalist spreche ich nicht nur mit Politikern. Ich habe viel Zeit im Nord- und Südkaukasus darauf verwendet, mit Händlern, Bauern und Flüchtlingen zu reden - einfachen Menschen aller Herkünfte, denen das Schicksal eine Rolle in dem zuwies, was Auswärtigen eine News-Stories wert war. Die meisten dieser Leute wollten nicht Teil eines Konflikts sein, aber keiner hatte sie um ihre Meinung gefragt.
Sie hatten sehr oft eine gemeinsame Haltung, einen Instinkt für Frieden und Zusammenarbeit, den man bei ihren Führern vermissen musste. Ich denke da an einen Flüchtling aus der Staat Saatly in Azerbaidschan, der seinen Lebensunterhalt verloren hatte, sein Haus und all seine Bücher, aber kein schlechtes Wort über seine früheren armenischen Nachbarn verlor; an die Karabach-Armenier, die regelmässig nach Baku fuhren, um ihre aserbaidschanischen Freunde zu besuchen; an die georgischen und abchasischen Kollegen, die jetzt nun zehn Dollar im Monat verdienen, ihr früheres Leben vermissen und froh wären, wenn sie wieder zusammenarbeiten könnten. All diese Menschen haben weitaus mehr verloren als sie gewinnen konnten.
Zehntausende von Menschen haben ihr Leben lassen müssen und über eine Million musste die Heimat verlassen. Das ist die eigentliche, grosse menschliche Tragödie. Aber auch Menschen, die nicht direkt in den Konfliktzonen leben, sind von den Konflikten in ihrem Leben beeinflusst. Für einen Armenier ist die Unterbrechung der Eisenbahnlinie durch Abchasien ein wirtschaftliches Desaster. In Daghestan, Nord-Aserbaidschan und Georgien ist der Krieg in Tschetschenien ein ernsthafter Grund für Angst und Instabilität.

Wir stimmen sicher darin überein, dass das Defizit an Sicherheit das grösste Problem ist, das der Kaukasus heute hat. Ich möchte einige Überlegungen anstellen, warum dies so ist, und was, wenn überhaupt, Aussenstehende tun können.

Zunächst muss einmal gesagt werden, dass Unsicherheit in dieser Gegend schon immer sozusagen region-immanent war. Die ungeheure kulturelle Vielfalt des Kaukasus, die starken lokalen Traditionen und die allgemeine Haltung, Konflikte mit Gewalt zu lösen, haben es hier niemandem jemals leicht gemacht, mit seinem Nachbarn zu leben.
Dies ist eine Region, die niemals ein effektives Sicherheitssystem kannte, es sei denn, eine auswärtige Macht hätte es mit Gewalt von aussen eingeführt. Die einzige Zeit, in der die drei Staaten Georgien, Armenien und Aserbaidschan in der Vergangenheit unabhängig waren, war für alle ein Desaster. 1918 - 1920 gab es Hungersnöte, Epidemien, Kämpfe um Nachitschewan und Karabach. Keine der Grenzen zwischen den drei Staaten wurde bestimmt. Es gab sogar einen Konflikt zwischen Armenien und Georgien, der zu unseren Zeiten dankenswerter Weise verhindert werden konnte.

Die Sowjetzeit brachte ein Sicherheitssystem von aussen, aber nicht etwa in der Form einer Kooperation untereinander. Im Gegenteil: Die drei Kaukasusstaaten sahen sich meist als Wettbewerber um die Ressourcen, die Moskau verteilte, denn als gegenseitige Partner.

Und jetzt, in der zweiten Zeit der Unabhängigkeit, kam wieder zur Geltung, was nach meiner Meinung die grösste Herausforderung für die Sicherheit dieser Region ist, und mit dieser Region meine ich den Südkaukasus. Es ist das Muster, das schon immer vorherrschte in dieser Region und jetzt mit den Konflikten der 90-er Jahre wieder evident wurde. Was ich damit meine, ist dies: Obwohl der Südkaukasus auf der Landkarte als eine Region erscheint, ist er wirtschaftlich und politisch alles andere als eine geschlossene Region. Objektiv gesehen ist dieser Teil der Welt ein Gewirr an geschlossenen Grenzen, Einbahnstrassen und Strassenblockaden, deren verschiedene Teile nicht miteinander kommunizieren. In diesem Sinne ist dies nicht wirklich eine einheitliche Region.
Die zwei längsten Grenzen Armeniens sind geschlossen. Nachitschewan ist vom übrigen Aserbaidschan abgeschnitten. Von Eriwan fliegt man leichter nach Los Angeles als nach Tbilissi. Abchasien und Südossetien sind für Georgier nicht zugänglich. Und selbst wenn ein Händler die Grenze zwischen Aserbaidschan und Georgien überschreiten will, das sind die beiden Staaten mit den freundschaftlichsten Beziehungen in der Region, muss er einige Stunden mit rund zehn verschiedenen Kontrollstationen verbringen.
Dabei ist dies eine kleine Region. Die Bevölkerung des Südkaukasus beträgt rund 15 Millionen Menschen. Das Bruttosozialprodukt dieser drei Staaten zusammengenommen ist winzig, etwa 10 Milliarden US-$. In der direkten Nachbarschaft liegen drei grosse und bevölkerungsstarke Staaten. Für einen Aussenstehenden ist es klar, dass Armenien, Aserbaidschan und Georgien nur dann eine prosperierende Zukunft haben können, wenn sie die regionale Zusammenarbeit enorm verstärken.
Die Hindernisse für eine solche Kooperation und Prosperität haben alle mit Sicherheitsfragen zu tun. Ich möchte alle drei besprechen. Es sind:Versäumnisse in der staatlichen Kontrolle von bewaffneten Gruppen; die nicht anerkannten Staaten; unterschiedliche Beziehungen zu den grösseren Mächten.
Das erste Problem ist ganz sicher weniger akut als es noch vor Jahren war, aber es hat nach wie vor das Potential, die Sicherheit zu schwächen. Es geht darum, dass die Staaten des Kaukasus die bewaffneten Männer nicht unter Kontrolle haben, die für ihre Sicherheit verantwortlich sind. Weber definierte einen Staat als eine Institution, die das "Gewaltmonopol" inne haben sollte. In dieser Hinsicht haben alle staatlichen Institutionen in diesem Teil der Welt in den letzten zehn Jahren hoffnungslos versagt. Oft genug wurde das Gewalt-Monopol wie ein Geschäft geradezu vertraglich an nicht offizielle Kämpfer, Söldner, Gangster, Kriminelle oder meist eine Kombination aus all dem übertragen. Viel zu oft waren sie ins Drogengeschäft, Alkoholschmuggel oder anderen Formen der Kriminalität verwickelt. Vielleicht ist dies nicht so sehr ein Sicherheitsproblem als vielmehr ein sozio-ökonomisches. Und es ist sicher eher zu lösen durch Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und Kriminalität als durch Sicherheitsfragen.

Als ich für mein Buch über den Karabach-Konflikt recherchierte, hat mir ein höherer armenischer Militär zugestanden, dass viele der ersten Freiwilligen in Karabach, als 1991 die Kämpfe in vollem Masse ausgebrochen waren, Kriminelle waren, die ganz einfach ihre Karriere auf andere Weise fortsetzen wollten. Und wir wissen, dass einige der hauptsächlichen Verteidiger der aserischen Stadt Aghdam eine Gruppe von Gangstern war, bekannt als die "Falken", deren Basis der Friedhof der Stadt war. Ihr Führer war bekannt geworden als "Freud", da er cleverer war als die anderen und ihm der Ruf eines Intellektuellen vorausging.
All diese bewaffneten Männer waren formal Teil von Gruppen, die wir Milizen nennen würden. Und für einen aussenstehenden Beobachter war die Unterscheidung zwischen regulären und irregulären Kämpfern nur schwer möglich. In Tschetschenien habe ich mit eigenen Augen gesehen, wie russische Truppen Menschen ermordet, ausgeplündert und ausgeraubt haben, die sie als russische Staatsbürger anzusehen hatten, die aber Tschetschenen waren. Damit haben sie ihren Auftrag, die "verfassungsmässige Ordnung" nach Tschetschenien zu bringen, diskreditiert; in der Tat haben sie genau das Gegenteil gemacht.

Das Versäumnis der Staaten, ihre eigene Sicherheitspolitik zu organisieren, hat ihren längerfristigen Interessen geschadet. Haben die bewaffneten Männer, die Tengiz Kitowani 1992 nach Suchumi gefolgt sind, den nationalen Interessen Georgiens gedient? Natürlich nicht. War es für Abchasien von Vorteil, ausländische Söldner in den Kampf gegen Tbilissi einzubeziehen? Kurzfristig möglicherweise, langfristig aber keinesfalls.

Natürlich hat sich während der letzten sieben oder acht Jahre die Lage verbessert. Die Mchedrioni-Miliz ist verschwunden. Verbände wurden mehr und mehr regulär, sie sind besser ausgebildet. Und wir haben sogar US-Ausbilder in Georgien, die Spezialtruppen ausbilden.

Das sind Entwicklungen, die zu begrüssen sind. Aber ich fürchte, die Regierungen haben ihren Instinkt noch nicht verloren, konspirative Methoden zu nutzen, Geheimoperationen zu lancieren und sich auf irreguläre Kämpfer zu verlassen. Die Sicherheitssituation im Kaukasus ist nach wie vor gefährdet, leicht zu beeinflussen durch plötzliche, unerwartete Krisen und Dramen, wo ein schwaches Verständnis von Ordnung oder ein willkürlicher Feuerwechsel die schrecklichsten Konsequenzen haben kann. In anderen Worten: das Recht, Gewalt auszuüben, wird nach wie vor nach unten und oben auf andere Akteure übertragen.

Ich denke da insbesondere an zwei Gebiete, die in jüngster Zeit Probleme bereiteten. Das erste ist die Bombardierung des Pankisitals durch "nicht identifizierte" Flugzeuge, von denen jedermann vermutet, dass es russische waren. Wissen wir, ob diese Flugzeuge einer höheren Weisung Moskaus folgten? Wir hoffen es, aber das Fehlen von Klarheit oder öffentlicher Verwantwortung in dieser Frage machen Angst. War dies so etwas wie ein weiterer Fall des bekannten russischen Einmarsches nach Pristina am Ende des Kosovo-Konflikts im Jahr 1999?
Und wenn wir uns dem Pankisital selbst zuwenden, was sagt es denn über Georgien aus, dass seine Regierung versäumt hat, ein relativ enges Tal zu kontrollieren, das eine Quelle von Kriminalität und Instabilität zunächst für Georgier selbst wurde? Einem Aussenstehenden muss dies rätselhaft bleiben.
Gehen wir zu einer anderen Konfliktzone. Im vergangenen Oktober fand ein desaströser Einfall von einer Gruppe von einigen Hundert tschetschenischer Kämpfer aus dem nördlichen Kodorital nach Abchasien statt. Und wieder gehen die meisten Beobachter von aussen davon aus, dass die Kämpfer nur mit der Hilfe oberer Chargen der georgischen Sicherheitsorgane dorthin gelangen konnten. Der frühere Innenminister Kacha Targamadze hat dies vermutlich erlaubt. Offensichtlich wollten georgische Autoritäten zwei Probleme auf einmal lösen, das Pankisi-Problem und das Kodori-Problem. Und wieder hat die abchasiche Seite "nicht identifzierbare" Flugzeuge benutzt, die Rebellen anzugreifen. Niemand auf allen Seiten hat die Verantwortung für die Gewaltanwendungen übernommen und das Resultat war eine wahre Katastrophe. Menschen sind gestorben und die Verhandlungen zwischen Abchasen und Georgiern wurden vermutlich um Jahre zurückgeworfen. Nicht der Vorfall alleine war schädlich, auch alle Informationen über ihn haben die Situation verschlechtert.
Ich weiss, vieler Zuhörer sind nicht einverstanden damit, dass ich über einen souveränen Staat wie Georgien in derselben Weise rede wie über ein nicht anerkanntes Territorium wie Abchasien. Ich akzeptiere durchaus, die fehlende Legitimität dieser abtrünnigen Territorien. Aber ich glaube, dass ihre Ansichten nicht ernst genug genommen werden können und das ist ein zweiter Punkt, den ich anschneiden möchte.
Für nahezu eine Dekade gibt es drei - zeitweilig auch vier, wenn Sie Tschetschenien dazuzählen - abtrünnige Staaten in dieser Region, die nicht anerkannt sind. Das dürfte ein Weltrekord sein und es macht überhaupt keinen Sinn, darin nur ein vorübergehendes Phänomen zu sehen, das von selbst verschwinden wird. Das unterstellt, dass diese Möchtegern-Statten ein Symptom tieferer Probleme der gesamten Region darstellen.

Abchasien, Südossetien und Nagorny Karabch existieren als sich selbst regierende Strukturen, die von ihren ursprünglichen Hauptstädten, Tbilissi und Baku, abgerückt sind. Sie haben Regierungen, Budgets und Polizeien. Natürlich fehlt es an vielen anderen notwendigen Attributen der Staatlichkeit. Und man darf letzten Endes nie vergessen, dass sie sich selbst nur deshalb als selbst verwaltende Einheiten etablieren konnten, indem sie sich von grossen Gemeinschaften von rund 200.000 Georgiern und 500.000 Aserbaidschanern trennten, wobei ich mich ausschliesslich auch die Aserbaidschaner von Karabach und der Umgebung beziehe, nicht auf die aus Armenien direkt vertriebenen oder die Armenier aus Aserbaidschan. Diese Menschen wurden in Gebieten geboren, die jetzt von anderen okkupiert sind und sie haben ihre elementaren Rechte verloren.
Jetzt würde man einen schweren Fehler machen, wenn man die Ziele der Abchasen oder der Karabach-Armenier mehr oder weniger als eine Illusion bezeichnen würde, die man beiseite wischen könnte. Der Kern des Problems liegt darin, dass sie sich in ihrer eigenen Identität auf ein Mindestmass zurückgedrängt fühlten.
Es sollte nicht vergessen werden, dass sich diese Menschen über Jahrzehnte als Sowjetbürger fühlten, gleichermassen zu Hause in Eriwan, Moskau, Rostow, baku oder Tbilissi. Ihre Unzufriedenheit der jüngeren Zeit begann am Ende der Sowjetunion und insbesondere in der Art und Weise, wie die Sowjetunion endete, das heisst, dass die Nachfolgestaaten nicht annähernd so gut konstruiert waren als versprochen. An einem Tag waren Abchasen und Karabach-Armenier Teil der Sowjetunion, am Tag darauf wurde sie zu Bürgern Georgiens und Aserbaidschans erklärt. Das ist einer der Gründe, warum sich diese abtrünnigen Territorien nicht mit einer Loyalität zu den modernen Staaten Georgien und Aserbaidschan anfreunden können.
Und damit haben wir das Problem. Diese kleinen Staaten leiden unter einer Legitimationskrise und setzen sich über ein Grundprinzip des Völkerrechts hinweg, welches ist die Bereitschaft, die Staatsbürgerschaft jedem zu verleihen, der auf ihrem Gebiet geboren wurde. Dies kann keine Basis sein, die Unabhängigkeit zu erhalten.
Und jetzt sind im Rahmen ihres eigenen eng begrenzten Weltbildes ihre Befürchtungen zu verstehen. Wenn Sie ein Abchase oder Karabach-Armenier wären und die Nachrichten aus Georgien oder Aserbaidschan hörten - und glauben Sie mir, viele von ihnen tun dies - und sie hörten sich selbst bezeichnet als "Faschist" oder "Terrorist", welche Bereitschaft ist dann dort, zurückzukehren zu georgien oder Aserbaidschan?
Wenn die kleinen Territorien unter einer Legitimitätskrise leiden, leiden die grossen Staaten, Georgien und Aserbaidschan, unter einer Vertrauenskrise. Sie lassen jede Basis vermissen, die ein Staat braucht, um zu überleben: die freiwillige Beteiligung seiner Bürger an der Aufgabe, den Staat aufzubauen. Ich bin erstaunt, wie wenig sich die Regierungen in Tbilissi und Baku dieser Herausforderung gestellt haben: Während sie - durchaus verständlich - auf ihrem Recht bestehen, ihre territoriale Integrität wiederherzustellen, haben sie schrecklich dabei versagt, ihre Wunsch-Bürgern mit dem Argument zu überzeugen, dass Georgien oder Aserbaidschan ein sicheres Land sei, um ein Teil dessen werden zu wollen. Im Gegenteil, wie wir mit der Kodorikrise im letzten Jahr gesehen haben, es scheint geradezu, als wollten sie das Gegenteil davon.
All dies fördert nur den dritten Sicherheits-Kopfschmerz dieser Region, das ist die komplexe Rolle der grossen ausländischen Staaten, den sogenannten Grossen Mächten.
Natürlich müssen sich kleine Staaten wie Georgien und Armenien - und umso mehr kleine Territorien wie Abchasien und Nagorny-Karabach - nach grösseren Nachbarn umschauen, die ihnen helfen, Sicherheit zu gewähren. Deshalb sucht Aserbaidschan traditionell in der Türkei nach Hilfe und Solidarität, Armenien in Russland. Georgien erwartet in derselben Weise Schutz von den vereinigten Staaten. Abchasien und Südossetien haben sich an Russland gewandt, sie zu beschützen.
Das ist durchaus normal. Was mich aber wundert, ist, dass überall in dieser Region - oder nennen Sie es, wenn Sie wollen, Nicht-Region - alle Überlegungen in einer sehr engen und nach innen gewandten Manier angestellt werden ohne jeden Zugang zu einer grösseren Gesamtschau. Die Tatsache, dass wir es hier mit einer Nicht-Region zu tun haben, also die Versäumnisse beim Aufbau einer Region, wird durch das Einwirken auswärtiger kräfte unterstützt.
Wenngleich ich den kleinen Staaten im Kaukasus keinen Vorwurf daraus mache, wenn sie sich nach einer grösseren Schutzmacht unter den Grossmächten Russland, Türkei und der USA umsehen, muss ich sie jedoch darauf aufmerksam machen, dass sie nicht überrascht sein dürfen, wenen ihr Nachbar dasselbe macht.
Die Gefahr dieser Balance der Kräfte besteht darin, dass sich Angste und Unsicherheiten multiplizieren und voneinander zehren und ein vorweggenommener oder angenommener Druck, aggressiv eingeschätzt, kann jederzeit zu einem realen Druck werden. Jedes Land dieser Region fühlt sich als eine kleine Macht unter dem Druck einer Grossmacht, was dazu führt, dass es eine andere Grossmacht zu seinem Schutz sucht. Diese Instinkte haben ihre tiefen Wurzeln in der lang währenden historischen Einengung der einen doer anderen Nation. Und sie fördern das, was ich "fear narratives" nenne, in der die Nationen sich darum bemühen, ihre eigene Sicherheit unter einem Druck zu sehen, während sie die Sicherheitsbedenken ihrer Nachbarn ignorieren. Lassen Sie mich zwei Beispiele aus Armenien und Aserbaidschan zitieren, wobei ich die Namen der beiden Männer, die ich zitiere, nicht nenne. Ich sage aber, dass beide höhere und geachtete Politiker sind.
Zunächst die Meinung des aserbaidschanischen Politikers: "Wenn ich sage, dass der Konflikt, in den wir hineingezogen wurden, ein "armenisch-aserbaidschanischer" ist, dann führe ich uns und andere in die Irre. In Wahrheit ist dies die letzte Aktion der alten russisch-türkischen Konfrontation, in der Armenien nichts anderes ist als ein Exekutor seines Meisters, aber Aserbaidschan ist ein kleines Hindernis auf dem Weg zum Hauptziel darstellt. Es ist bekannt, dass sogar zu Beginn des Jahrhunderts während des ersten Weltkriegs Russland die Armenier gegen die Türkei benutzt hat. Offensichtlich wiederholt sich die Geschichte von selbst."
Die armenische Meinung: "Heute ist Armenien nur noch ein kleine Barriere auf dem Weg der türkischen Hoffnung, die Türkisch sprechenden Staaten zu vereinigen, weil wir ihnen nicht erlauben, sich mti Aserbaidschan zu vereinigen."
Bemerken Sie die Ähnlichkeit dieser beiden Weltsichten. In der einen ist Aserbaidschan ein "leines Hindernis" auf dem Weg einer grossen russischen Expansion. In der anderen ist Armenien eine "kleine Barriere" gegen einen massiven Pan-Türkismus.
Diese beiden Weltsichten spiegel sich. Beide sind sie halb richtig, beide sind extrem üebrtrieben und beide führen zu extrem gefährlichen Schlussfolgerungen über die andere Seite. Das gefährlichste daran ist, dass sie dazu benutzt werden können, die alte Lüge zu legitimieren, dass ein Akt von Aggression lediglich zur Selbstverteidigung ausgeführt wird.
Wenn wir etwas näher zu dem Ort, an dem wir uns gerade befinden, bewegen, erschweren einige derselben Probleme den georgisch-abchasischen Konflikt. Während sich Abchasien vor den Georgiern und sogar vor den Vereinigten Staaten fürchtet, fürchtet sich Georgien vor Abchasiens grossem Bruder und Verbündeten, Russland.
Im April diesen Jahres verstärkten sich die Spannungen zwischen Georgiern und Abchasen, als die Russen unerwarteterweise einen Militärposten ins obere Kodorital verlegen wollten. Ich war daran interessiert, die Reaktionen beider Seiten zu hören.
In Tbilissi war die Befürchtung, dass Russland die Gelegenheit nutzen würde, ein neues militärisches Standbein im Kodorital zu bekommen und die georgische Bevölkerung hinauszudrängen. In Suchumi befürchtete man, dass die Georgier die Krise nutzen könnten, das Kodorital noch weiter zu übernehmen und Abchasien anzugreifen.
Wieder gab es spiegelbildliche Ansichten: Beide Seiten waren von den eigenen Befürchtungen gefangen, dass sie nur die Befürchtungen des anderen schürten. Ein Ausbruch von Kampfhandlungen durch einen direkt vorgetragenen Akt von Aggression war im Kodorital nicht zu erwarten. Was gefährlich war, war die durchaus vorhandene Möglichkeit des Ausbruchs von Kampfhandlungen, hervorgerufen durch Missverständnisse. Es war ein Glück, dass die Vereinten Nationen bereit standen, zu vermitteln.
Schliesslich will ich in diesem Sicherheits-Wirrwarr auch die grösseren Mächte, die Grossmächte selbst, nicht von der Kritik ausnehmen. Der enge Blickwinkel ihrer Politik fördert allzu oft die Konfrontationen und Verdächtigungen in der Region und ist unverantwortlich.
In Moskau, wie auch in anderen Hauptstädten, leidet die Politik darunter, dass sie zu verschiedenen politischen Stellen delegiert wurde mit verschiedenen politischen Zelsetzungen. Unter Präsident Putin ist die russische Politik zwar koordinierte als sie jemals war, aber sie steht nach wie vor unter dem Eindruck einer Zeit, als es in Moskau etwa ein halbes Dutzend Zentren für die Kaukasus-Politik gab, sei es der Sicherheitsrat im Kreml, das Aussenministerium, die Ölfirmen oder das Verteidigungsministerium. Insbesondere das Verteidigungsministerium wäre da zu nennen. Das Militär war in grosser Anzahl vor Ort, lange bevor Russland Botschaften in den Hauptstädten des Südkaukasus einrichtete und sein Einfluss ist nach wie vor stark. Wir können es derzeit im Ärger über das Pankisital sehen.
Dies erzeugt offensichtlich einen destabilisierenden Effekt, wenn russische Generäle - wie real auch immer ihre Sicherheitsbedenken sind - in Georgien die Ausweitung des Tschetschenienkonfliktes sehen, aber versäumen, die weiteren Implikationen ihres Handels in Betracht zu ziehen. Und dabei kümmert sich Russland überhaupt nicht um die politische Stabilität Georgiens und der ganzen Region im Süden. Ihre Aktionen setzen eine ganze Kette von Aktionen und Reaktionen frei, die sich ausweiten und verstärken über Jahre hinweg. Es ist hart, zu erkennen, dass das Russland, das gerade bei den Verhandlungen über Nagorny-Karabach in der Minsk-Gruppe eine verantwortliche Rolle spielt, dasselbe Russland ist, das in dieser bedrohenden und aggressiven Sprache zu Georgien spricht.
Auch die Politik Washingtons leidet under einer Version derselben Krankheit, nämlich dass in derselben Stadt verschiedene politische Handelnde mit unterschiedlichen Zielsetzungen anzutreffen sind. Ich übertreibe jetzt ein bisschen, aber wenn man vor ein paar Jahren im Kongress in Washington war, konnte man eine Sicht vom Kaukaus hören, nämlich die, die voll und ganz auf die Notwendigkeit fokussiert war, Armenien zu unterstützen. Sprach man mit einer anderen Gruppe von Leuten, die auf dem Energiesektor arbeiteten, dann glaubten die, dass der grössten strategische Verbündete der Vereinigten Staaten in dieser Region Aserbaidschan sei und alles der amerikanischen Priorität Nr. 1, der Baku-Ceyhan-Pipeline unterzuordnen wäre. Und später, am selben Tag noch, hätte man im Aussenministerium hören können, die erste Priorität Amerikas in dieser Region sei Georgien. Wenn schon ein Besucher in Washington konfus wurde, ist es doch kein Wunder, dass viele Leute in der Region ebenfalls konfus wurden. Sie mögen vielleicht sagen, eine Art von Aausgleich der konkurrierenden Interessen der drei Länder sei erreicht worden, aber das geschah eher aus Zufall denn aus einer vernünftigen Planung.
Es ist klar, wenn ich zu meiner ersten These zurückkomme, es ist Zeit für die Grossmächte, den Südkaukasus als eine einheitliche Region zu betrachten, von der jeder Teil die Fähigkeit hat, auf jeden anderen einzuwirken, manchmal desaströs, und von der alle Teile eine prosperierende Zukunft in gegenseitiger Kooperation verdient hätten. Das geschieht zur Zeit noch nicht. Im Gegenteil, Georgien erscheint in der zweifelhaften Situation, vielleicht der letzte Schauplatz in der Welt zu sein, auf dem Washington und Moskau Kalten Krieg spielen.
Ich habe bislang Europa nicht angesprochen, weil in strategischen Fragen - nicht in wirtschaftlichen - die Europäische Union bisher keinen Beitrag in dieser Region geleistet hat. Aber es gibt ein durchaus nützliches Modell einer gesamt-kaukasischen Kooperation und das ist der Europarat. Der Aufnahmeprozess von Armenien udn Aserbaidschen fand gleiczieitig statt und es war eines der raren Beispiele, bei dem beide Länder ein Interesse am positiven Ausgang für das andere Land hatten. Jetzt sind alle drei Länder Mitglieder Teil des Europarat-Prozesses, das heisst, dass dort keine Thema des Kaukasus angesprochen werden kann, ohne dass die anderen interessierten Länder die Chance hätten, ihren Beitrag zu leisten. Das Umfeld der internationalen Menschenrechte, das der Europarat bringt, ist nun zu einem gemeinsamen Unternehmen geworden.
Sicher gibt uns dieses Beispiel eine bedeutende Lehre für die Mitgliedschaften in anderen europäischen und internationalen Institutionen, einschliesslich der NATO. Ein Beitritt der Kaukasischen Gruppe stärkt die region. Aber wenn ein Land Mitglied wird und andere nicht, riskieren wir einen neuen Riss in der Region.
Derzeit erinnert mich das Sicherheitssystem an ein Haus nach einem mittelschweren Erdbeben. Wände sind etwas versetzt, einige Stockwerke sind eingefallen. Die besitzer haben kein Geld, es ordentlich zu reparieren, aber sie haben es sich wieder einigermassen wohnlich eingerichtet. Aber für einen Aussenstehenden ist es offensichtlich, dass das Haus zerstört ist und gefährdet und dass mit einem weiteren Erdbeben die gesamte Struktur einfallen kann.
Um das Haus wirklich wieder bewohnbar und ansehnlich zu machen, müssen Reparaturen an der ganzen Struktur vorgenommen werden, nicht nur an ein paar Teilen. Das ganze Haus braucht neue Eletrizität, neue Etagen, ein neues Dach. Diese Reparatur ist nicht nur Aufgabe der Gesellschaften des Südkaukasus, es ist Aufgabe aller Aussenstehenden, die sich um die Zukunft dieser Region Gedanken machen.

Übersetzung: Georgien News

 
Copyright © 2002 ERKA-Verlag Kontakte :: e-mail :: webmaster