Nicht-Region
Brüchige
Sicherheit im Kaukasus
Bei dem Seminar
der Parlamentarischen Versammlung der NATO im September zum Thema
Sicherheit im Kaukasus hielt der holländische Journalist und
Kaukasus-Spezialist Thomas de Waal einen beachtenswerten Vortrag,
aus dem GN Auszüge veröffentlicht. De Waal hielt sich
über viele Jahre im gesamten Kaukasus auf, demnächst erscheint
sein Buch über den Karabach-Konflikt.
"Als Journalist spreche ich nicht nur mit Politikern. Ich habe
viel Zeit im Nord- und Südkaukasus darauf verwendet, mit Händlern,
Bauern und Flüchtlingen zu reden - einfachen Menschen aller
Herkünfte, denen das Schicksal eine Rolle in dem zuwies, was
Auswärtigen eine News-Stories wert war. Die meisten dieser
Leute wollten nicht Teil eines Konflikts sein, aber keiner hatte
sie um ihre Meinung gefragt.
Sie hatten sehr oft eine gemeinsame Haltung, einen Instinkt für
Frieden und Zusammenarbeit, den man bei ihren Führern vermissen
musste. Ich denke da an einen Flüchtling aus der Staat Saatly
in Azerbaidschan, der seinen Lebensunterhalt verloren hatte, sein
Haus und all seine Bücher, aber kein schlechtes Wort über
seine früheren armenischen Nachbarn verlor; an die Karabach-Armenier,
die regelmässig nach Baku fuhren, um ihre aserbaidschanischen
Freunde zu besuchen; an die georgischen und abchasischen Kollegen,
die jetzt nun zehn Dollar im Monat verdienen, ihr früheres
Leben vermissen und froh wären, wenn sie wieder zusammenarbeiten
könnten. All diese Menschen haben weitaus mehr verloren als
sie gewinnen konnten.
Zehntausende von Menschen haben ihr Leben lassen müssen und
über eine Million musste die Heimat verlassen. Das ist die
eigentliche, grosse menschliche Tragödie. Aber auch Menschen,
die nicht direkt in den Konfliktzonen leben, sind von den Konflikten
in ihrem Leben beeinflusst. Für einen Armenier ist die Unterbrechung
der Eisenbahnlinie durch Abchasien ein wirtschaftliches Desaster.
In Daghestan, Nord-Aserbaidschan und Georgien ist der Krieg in Tschetschenien
ein ernsthafter Grund für Angst und Instabilität.
Wir stimmen
sicher darin überein, dass das Defizit an Sicherheit das
grösste Problem ist, das der Kaukasus heute hat. Ich möchte
einige Überlegungen anstellen, warum dies so ist, und was,
wenn überhaupt, Aussenstehende tun können.
Zunächst
muss einmal gesagt werden, dass Unsicherheit in dieser Gegend
schon immer sozusagen region-immanent war. Die ungeheure kulturelle
Vielfalt des Kaukasus, die starken lokalen Traditionen und die
allgemeine Haltung, Konflikte mit Gewalt zu lösen, haben
es hier niemandem jemals leicht gemacht, mit seinem Nachbarn zu
leben.
Dies ist eine Region, die niemals ein effektives Sicherheitssystem
kannte, es sei denn, eine auswärtige Macht hätte es
mit Gewalt von aussen eingeführt. Die einzige Zeit, in der
die drei Staaten Georgien, Armenien und Aserbaidschan in der Vergangenheit
unabhängig waren, war für alle ein Desaster. 1918 -
1920 gab es Hungersnöte, Epidemien, Kämpfe um Nachitschewan
und Karabach. Keine der Grenzen zwischen den drei Staaten wurde
bestimmt. Es gab sogar einen Konflikt zwischen Armenien und Georgien,
der zu unseren Zeiten dankenswerter Weise verhindert werden konnte.
Die Sowjetzeit
brachte ein Sicherheitssystem von aussen, aber nicht etwa in der
Form einer Kooperation untereinander. Im Gegenteil: Die drei Kaukasusstaaten
sahen sich meist als Wettbewerber um die Ressourcen, die Moskau
verteilte, denn als gegenseitige Partner.
Und jetzt,
in der zweiten Zeit der Unabhängigkeit, kam wieder zur Geltung,
was nach meiner Meinung die grösste Herausforderung für
die Sicherheit dieser Region ist, und mit dieser Region meine
ich den Südkaukasus. Es ist das Muster, das schon immer vorherrschte
in dieser Region und jetzt mit den Konflikten der 90-er Jahre
wieder evident wurde. Was ich damit meine, ist dies: Obwohl der
Südkaukasus auf der Landkarte als eine Region erscheint,
ist er wirtschaftlich und politisch alles andere als eine geschlossene
Region. Objektiv gesehen ist dieser Teil der Welt ein Gewirr an
geschlossenen Grenzen, Einbahnstrassen und Strassenblockaden,
deren verschiedene Teile nicht miteinander kommunizieren. In diesem
Sinne ist dies nicht wirklich eine einheitliche Region.
Die zwei längsten Grenzen Armeniens sind geschlossen. Nachitschewan
ist vom übrigen Aserbaidschan abgeschnitten. Von Eriwan fliegt
man leichter nach Los Angeles als nach Tbilissi. Abchasien und
Südossetien sind für Georgier nicht zugänglich.
Und selbst wenn ein Händler die Grenze zwischen Aserbaidschan
und Georgien überschreiten will, das sind die beiden Staaten
mit den freundschaftlichsten Beziehungen in der Region, muss er
einige Stunden mit rund zehn verschiedenen Kontrollstationen verbringen.
Dabei ist dies eine kleine Region. Die Bevölkerung des Südkaukasus
beträgt rund 15 Millionen Menschen. Das Bruttosozialprodukt
dieser drei Staaten zusammengenommen ist winzig, etwa 10 Milliarden
US-$. In der direkten Nachbarschaft liegen drei grosse und bevölkerungsstarke
Staaten. Für einen Aussenstehenden ist es klar, dass Armenien,
Aserbaidschan und Georgien nur dann eine prosperierende Zukunft
haben können, wenn sie die regionale Zusammenarbeit enorm
verstärken.
Die Hindernisse für eine solche Kooperation und Prosperität
haben alle mit Sicherheitsfragen zu tun. Ich möchte alle
drei besprechen. Es sind:Versäumnisse in der staatlichen
Kontrolle von bewaffneten Gruppen; die nicht anerkannten Staaten;
unterschiedliche Beziehungen zu den grösseren Mächten.
Das erste Problem ist ganz sicher weniger akut als es noch vor
Jahren war, aber es hat nach wie vor das Potential, die Sicherheit
zu schwächen. Es geht darum, dass die Staaten des Kaukasus
die bewaffneten Männer nicht unter Kontrolle haben, die für
ihre Sicherheit verantwortlich sind. Weber definierte einen Staat
als eine Institution, die das "Gewaltmonopol" inne haben
sollte. In dieser Hinsicht haben alle staatlichen Institutionen
in diesem Teil der Welt in den letzten zehn Jahren hoffnungslos
versagt. Oft genug wurde das Gewalt-Monopol wie ein Geschäft
geradezu vertraglich an nicht offizielle Kämpfer, Söldner,
Gangster, Kriminelle oder meist eine Kombination aus all dem übertragen.
Viel zu oft waren sie ins Drogengeschäft, Alkoholschmuggel
oder anderen Formen der Kriminalität verwickelt. Vielleicht
ist dies nicht so sehr ein Sicherheitsproblem als vielmehr ein
sozio-ökonomisches. Und es ist sicher eher zu lösen
durch Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und Kriminalität
als durch Sicherheitsfragen.
Als ich für
mein Buch über den Karabach-Konflikt recherchierte, hat mir
ein höherer armenischer Militär zugestanden, dass viele
der ersten Freiwilligen in Karabach, als 1991 die Kämpfe
in vollem Masse ausgebrochen waren, Kriminelle waren, die ganz
einfach ihre Karriere auf andere Weise fortsetzen wollten. Und
wir wissen, dass einige der hauptsächlichen Verteidiger der
aserischen Stadt Aghdam eine Gruppe von Gangstern war, bekannt
als die "Falken", deren Basis der Friedhof der Stadt
war. Ihr Führer war bekannt geworden als "Freud",
da er cleverer war als die anderen und ihm der Ruf eines Intellektuellen
vorausging.
All diese bewaffneten Männer waren formal Teil von Gruppen,
die wir Milizen nennen würden. Und für einen aussenstehenden
Beobachter war die Unterscheidung zwischen regulären und
irregulären Kämpfern nur schwer möglich. In Tschetschenien
habe ich mit eigenen Augen gesehen, wie russische Truppen Menschen
ermordet, ausgeplündert und ausgeraubt haben, die sie als
russische Staatsbürger anzusehen hatten, die aber Tschetschenen
waren. Damit haben sie ihren Auftrag, die "verfassungsmässige
Ordnung" nach Tschetschenien zu bringen, diskreditiert; in
der Tat haben sie genau das Gegenteil gemacht.
Das Versäumnis
der Staaten, ihre eigene Sicherheitspolitik zu organisieren, hat
ihren längerfristigen Interessen geschadet. Haben die bewaffneten
Männer, die Tengiz Kitowani 1992 nach Suchumi gefolgt sind,
den nationalen Interessen Georgiens gedient? Natürlich nicht.
War es für Abchasien von Vorteil, ausländische Söldner
in den Kampf gegen Tbilissi einzubeziehen? Kurzfristig möglicherweise,
langfristig aber keinesfalls.
Natürlich
hat sich während der letzten sieben oder acht Jahre die Lage
verbessert. Die Mchedrioni-Miliz ist verschwunden. Verbände
wurden mehr und mehr regulär, sie sind besser ausgebildet.
Und wir haben sogar US-Ausbilder in Georgien, die Spezialtruppen
ausbilden.
Das sind Entwicklungen,
die zu begrüssen sind. Aber ich fürchte, die Regierungen
haben ihren Instinkt noch nicht verloren, konspirative Methoden
zu nutzen, Geheimoperationen zu lancieren und sich auf irreguläre
Kämpfer zu verlassen. Die Sicherheitssituation im Kaukasus
ist nach wie vor gefährdet, leicht zu beeinflussen durch
plötzliche, unerwartete Krisen und Dramen, wo ein schwaches
Verständnis von Ordnung oder ein willkürlicher Feuerwechsel
die schrecklichsten Konsequenzen haben kann. In anderen Worten:
das Recht, Gewalt auszuüben, wird nach wie vor nach unten
und oben auf andere Akteure übertragen.
Ich denke
da insbesondere an zwei Gebiete, die in jüngster Zeit Probleme
bereiteten. Das erste ist die Bombardierung des Pankisitals durch
"nicht identifizierte" Flugzeuge, von denen jedermann
vermutet, dass es russische waren. Wissen wir, ob diese Flugzeuge
einer höheren Weisung Moskaus folgten? Wir hoffen es, aber
das Fehlen von Klarheit oder öffentlicher Verwantwortung
in dieser Frage machen Angst. War dies so etwas wie ein weiterer
Fall des bekannten russischen Einmarsches nach Pristina am Ende
des Kosovo-Konflikts im Jahr 1999?
Und wenn wir uns dem Pankisital selbst zuwenden, was sagt es denn
über Georgien aus, dass seine Regierung versäumt hat,
ein relativ enges Tal zu kontrollieren, das eine Quelle von Kriminalität
und Instabilität zunächst für Georgier selbst wurde?
Einem Aussenstehenden muss dies rätselhaft bleiben.
Gehen wir zu einer anderen Konfliktzone. Im vergangenen Oktober
fand ein desaströser Einfall von einer Gruppe von einigen
Hundert tschetschenischer Kämpfer aus dem nördlichen
Kodorital nach Abchasien statt. Und wieder gehen die meisten Beobachter
von aussen davon aus, dass die Kämpfer nur mit der Hilfe
oberer Chargen der georgischen Sicherheitsorgane dorthin gelangen
konnten. Der frühere Innenminister Kacha Targamadze hat dies
vermutlich erlaubt. Offensichtlich wollten georgische Autoritäten
zwei Probleme auf einmal lösen, das Pankisi-Problem und das
Kodori-Problem. Und wieder hat die abchasiche Seite "nicht
identifzierbare" Flugzeuge benutzt, die Rebellen anzugreifen.
Niemand auf allen Seiten hat die Verantwortung für die Gewaltanwendungen
übernommen und das Resultat war eine wahre Katastrophe. Menschen
sind gestorben und die Verhandlungen zwischen Abchasen und Georgiern
wurden vermutlich um Jahre zurückgeworfen. Nicht der Vorfall
alleine war schädlich, auch alle Informationen über
ihn haben die Situation verschlechtert.
Ich weiss, vieler Zuhörer sind nicht einverstanden damit,
dass ich über einen souveränen Staat wie Georgien in
derselben Weise rede wie über ein nicht anerkanntes Territorium
wie Abchasien. Ich akzeptiere durchaus, die fehlende Legitimität
dieser abtrünnigen Territorien. Aber ich glaube, dass ihre
Ansichten nicht ernst genug genommen werden können und das
ist ein zweiter Punkt, den ich anschneiden möchte.
Für nahezu eine Dekade gibt es drei - zeitweilig auch vier,
wenn Sie Tschetschenien dazuzählen - abtrünnige Staaten
in dieser Region, die nicht anerkannt sind. Das dürfte ein
Weltrekord sein und es macht überhaupt keinen Sinn, darin
nur ein vorübergehendes Phänomen zu sehen, das von selbst
verschwinden wird. Das unterstellt, dass diese Möchtegern-Statten
ein Symptom tieferer Probleme der gesamten Region darstellen.
Abchasien,
Südossetien und Nagorny Karabch existieren als sich selbst
regierende Strukturen, die von ihren ursprünglichen Hauptstädten,
Tbilissi und Baku, abgerückt sind. Sie haben Regierungen,
Budgets und Polizeien. Natürlich fehlt es an vielen anderen
notwendigen Attributen der Staatlichkeit. Und man darf letzten
Endes nie vergessen, dass sie sich selbst nur deshalb als selbst
verwaltende Einheiten etablieren konnten, indem sie sich von grossen
Gemeinschaften von rund 200.000 Georgiern und 500.000 Aserbaidschanern
trennten, wobei ich mich ausschliesslich auch die Aserbaidschaner
von Karabach und der Umgebung beziehe, nicht auf die aus Armenien
direkt vertriebenen oder die Armenier aus Aserbaidschan. Diese
Menschen wurden in Gebieten geboren, die jetzt von anderen okkupiert
sind und sie haben ihre elementaren Rechte verloren.
Jetzt würde man einen schweren Fehler machen, wenn man die
Ziele der Abchasen oder der Karabach-Armenier mehr oder weniger
als eine Illusion bezeichnen würde, die man beiseite wischen
könnte. Der Kern des Problems liegt darin, dass sie sich
in ihrer eigenen Identität auf ein Mindestmass zurückgedrängt
fühlten.
Es sollte nicht vergessen werden, dass sich diese Menschen über
Jahrzehnte als Sowjetbürger fühlten, gleichermassen
zu Hause in Eriwan, Moskau, Rostow, baku oder Tbilissi. Ihre Unzufriedenheit
der jüngeren Zeit begann am Ende der Sowjetunion und insbesondere
in der Art und Weise, wie die Sowjetunion endete, das heisst,
dass die Nachfolgestaaten nicht annähernd so gut konstruiert
waren als versprochen. An einem Tag waren Abchasen und Karabach-Armenier
Teil der Sowjetunion, am Tag darauf wurde sie zu Bürgern
Georgiens und Aserbaidschans erklärt. Das ist einer der Gründe,
warum sich diese abtrünnigen Territorien nicht mit einer
Loyalität zu den modernen Staaten Georgien und Aserbaidschan
anfreunden können.
Und damit haben wir das Problem. Diese kleinen Staaten leiden
unter einer Legitimationskrise und setzen sich über ein Grundprinzip
des Völkerrechts hinweg, welches ist die Bereitschaft, die
Staatsbürgerschaft jedem zu verleihen, der auf ihrem Gebiet
geboren wurde. Dies kann keine Basis sein, die Unabhängigkeit
zu erhalten.
Und jetzt sind im Rahmen ihres eigenen eng begrenzten Weltbildes
ihre Befürchtungen zu verstehen. Wenn Sie ein Abchase oder
Karabach-Armenier wären und die Nachrichten aus Georgien
oder Aserbaidschan hörten - und glauben Sie mir, viele von
ihnen tun dies - und sie hörten sich selbst bezeichnet als
"Faschist" oder "Terrorist", welche Bereitschaft
ist dann dort, zurückzukehren zu georgien oder Aserbaidschan?
Wenn die kleinen Territorien unter einer Legitimitätskrise
leiden, leiden die grossen Staaten, Georgien und Aserbaidschan,
unter einer Vertrauenskrise. Sie lassen jede Basis vermissen,
die ein Staat braucht, um zu überleben: die freiwillige Beteiligung
seiner Bürger an der Aufgabe, den Staat aufzubauen. Ich bin
erstaunt, wie wenig sich die Regierungen in Tbilissi und Baku
dieser Herausforderung gestellt haben: Während sie - durchaus
verständlich - auf ihrem Recht bestehen, ihre territoriale
Integrität wiederherzustellen, haben sie schrecklich dabei
versagt, ihre Wunsch-Bürgern mit dem Argument zu überzeugen,
dass Georgien oder Aserbaidschan ein sicheres Land sei, um ein
Teil dessen werden zu wollen. Im Gegenteil, wie wir mit der Kodorikrise
im letzten Jahr gesehen haben, es scheint geradezu, als wollten
sie das Gegenteil davon.
All dies fördert nur den dritten Sicherheits-Kopfschmerz
dieser Region, das ist die komplexe Rolle der grossen ausländischen
Staaten, den sogenannten Grossen Mächten.
Natürlich müssen sich kleine Staaten wie Georgien und
Armenien - und umso mehr kleine Territorien wie Abchasien und
Nagorny-Karabach - nach grösseren Nachbarn umschauen, die
ihnen helfen, Sicherheit zu gewähren. Deshalb sucht Aserbaidschan
traditionell in der Türkei nach Hilfe und Solidarität,
Armenien in Russland. Georgien erwartet in derselben Weise Schutz
von den vereinigten Staaten. Abchasien und Südossetien haben
sich an Russland gewandt, sie zu beschützen.
Das ist durchaus normal. Was mich aber wundert, ist, dass überall
in dieser Region - oder nennen Sie es, wenn Sie wollen, Nicht-Region
- alle Überlegungen in einer sehr engen und nach innen gewandten
Manier angestellt werden ohne jeden Zugang zu einer grösseren
Gesamtschau. Die Tatsache, dass wir es hier mit einer Nicht-Region
zu tun haben, also die Versäumnisse beim Aufbau einer Region,
wird durch das Einwirken auswärtiger kräfte unterstützt.
Wenngleich ich den kleinen Staaten im Kaukasus keinen Vorwurf
daraus mache, wenn sie sich nach einer grösseren Schutzmacht
unter den Grossmächten Russland, Türkei und der USA
umsehen, muss ich sie jedoch darauf aufmerksam machen, dass sie
nicht überrascht sein dürfen, wenen ihr Nachbar dasselbe
macht.
Die Gefahr dieser Balance der Kräfte besteht darin, dass
sich Angste und Unsicherheiten multiplizieren und voneinander
zehren und ein vorweggenommener oder angenommener Druck, aggressiv
eingeschätzt, kann jederzeit zu einem realen Druck werden.
Jedes Land dieser Region fühlt sich als eine kleine Macht
unter dem Druck einer Grossmacht, was dazu führt, dass es
eine andere Grossmacht zu seinem Schutz sucht. Diese Instinkte
haben ihre tiefen Wurzeln in der lang währenden historischen
Einengung der einen doer anderen Nation. Und sie fördern
das, was ich "fear narratives" nenne, in der die Nationen
sich darum bemühen, ihre eigene Sicherheit unter einem Druck
zu sehen, während sie die Sicherheitsbedenken ihrer Nachbarn
ignorieren. Lassen Sie mich zwei Beispiele aus Armenien und Aserbaidschan
zitieren, wobei ich die Namen der beiden Männer, die ich
zitiere, nicht nenne. Ich sage aber, dass beide höhere und
geachtete Politiker sind.
Zunächst die Meinung des aserbaidschanischen Politikers:
"Wenn ich sage, dass der Konflikt, in den wir hineingezogen
wurden, ein "armenisch-aserbaidschanischer" ist, dann
führe ich uns und andere in die Irre. In Wahrheit ist dies
die letzte Aktion der alten russisch-türkischen Konfrontation,
in der Armenien nichts anderes ist als ein Exekutor seines Meisters,
aber Aserbaidschan ist ein kleines Hindernis auf dem Weg zum Hauptziel
darstellt. Es ist bekannt, dass sogar zu Beginn des Jahrhunderts
während des ersten Weltkriegs Russland die Armenier gegen
die Türkei benutzt hat. Offensichtlich wiederholt sich die
Geschichte von selbst."
Die armenische Meinung: "Heute ist Armenien nur noch ein
kleine Barriere auf dem Weg der türkischen Hoffnung, die
Türkisch sprechenden Staaten zu vereinigen, weil wir ihnen
nicht erlauben, sich mti Aserbaidschan zu vereinigen."
Bemerken Sie die Ähnlichkeit dieser beiden Weltsichten. In
der einen ist Aserbaidschan ein "leines Hindernis" auf
dem Weg einer grossen russischen Expansion. In der anderen ist
Armenien eine "kleine Barriere" gegen einen massiven
Pan-Türkismus.
Diese beiden Weltsichten spiegel sich. Beide sind sie halb richtig,
beide sind extrem üebrtrieben und beide führen zu extrem
gefährlichen Schlussfolgerungen über die andere Seite.
Das gefährlichste daran ist, dass sie dazu benutzt werden
können, die alte Lüge zu legitimieren, dass ein Akt
von Aggression lediglich zur Selbstverteidigung ausgeführt
wird.
Wenn wir etwas näher zu dem Ort, an dem wir uns gerade befinden,
bewegen, erschweren einige derselben Probleme den georgisch-abchasischen
Konflikt. Während sich Abchasien vor den Georgiern und sogar
vor den Vereinigten Staaten fürchtet, fürchtet sich
Georgien vor Abchasiens grossem Bruder und Verbündeten, Russland.
Im April diesen Jahres verstärkten sich die Spannungen zwischen
Georgiern und Abchasen, als die Russen unerwarteterweise einen
Militärposten ins obere Kodorital verlegen wollten. Ich war
daran interessiert, die Reaktionen beider Seiten zu hören.
In Tbilissi war die Befürchtung, dass Russland die Gelegenheit
nutzen würde, ein neues militärisches Standbein im Kodorital
zu bekommen und die georgische Bevölkerung hinauszudrängen.
In Suchumi befürchtete man, dass die Georgier die Krise nutzen
könnten, das Kodorital noch weiter zu übernehmen und
Abchasien anzugreifen.
Wieder gab es spiegelbildliche Ansichten: Beide Seiten waren von
den eigenen Befürchtungen gefangen, dass sie nur die Befürchtungen
des anderen schürten. Ein Ausbruch von Kampfhandlungen durch
einen direkt vorgetragenen Akt von Aggression war im Kodorital
nicht zu erwarten. Was gefährlich war, war die durchaus vorhandene
Möglichkeit des Ausbruchs von Kampfhandlungen, hervorgerufen
durch Missverständnisse. Es war ein Glück, dass die
Vereinten Nationen bereit standen, zu vermitteln.
Schliesslich will ich in diesem Sicherheits-Wirrwarr auch die
grösseren Mächte, die Grossmächte selbst, nicht
von der Kritik ausnehmen. Der enge Blickwinkel ihrer Politik fördert
allzu oft die Konfrontationen und Verdächtigungen in der
Region und ist unverantwortlich.
In Moskau, wie auch in anderen Hauptstädten, leidet die Politik
darunter, dass sie zu verschiedenen politischen Stellen delegiert
wurde mit verschiedenen politischen Zelsetzungen. Unter Präsident
Putin ist die russische Politik zwar koordinierte als sie jemals
war, aber sie steht nach wie vor unter dem Eindruck einer Zeit,
als es in Moskau etwa ein halbes Dutzend Zentren für die
Kaukasus-Politik gab, sei es der Sicherheitsrat im Kreml, das
Aussenministerium, die Ölfirmen oder das Verteidigungsministerium.
Insbesondere das Verteidigungsministerium wäre da zu nennen.
Das Militär war in grosser Anzahl vor Ort, lange bevor Russland
Botschaften in den Hauptstädten des Südkaukasus einrichtete
und sein Einfluss ist nach wie vor stark. Wir können es derzeit
im Ärger über das Pankisital sehen.
Dies erzeugt offensichtlich einen destabilisierenden Effekt, wenn
russische Generäle - wie real auch immer ihre Sicherheitsbedenken
sind - in Georgien die Ausweitung des Tschetschenienkonfliktes
sehen, aber versäumen, die weiteren Implikationen ihres Handels
in Betracht zu ziehen. Und dabei kümmert sich Russland überhaupt
nicht um die politische Stabilität Georgiens und der ganzen
Region im Süden. Ihre Aktionen setzen eine ganze Kette von
Aktionen und Reaktionen frei, die sich ausweiten und verstärken
über Jahre hinweg. Es ist hart, zu erkennen, dass das Russland,
das gerade bei den Verhandlungen über Nagorny-Karabach in
der Minsk-Gruppe eine verantwortliche Rolle spielt, dasselbe Russland
ist, das in dieser bedrohenden und aggressiven Sprache zu Georgien
spricht.
Auch die Politik Washingtons leidet under einer Version derselben
Krankheit, nämlich dass in derselben Stadt verschiedene politische
Handelnde mit unterschiedlichen Zielsetzungen anzutreffen sind.
Ich übertreibe jetzt ein bisschen, aber wenn man vor ein
paar Jahren im Kongress in Washington war, konnte man eine Sicht
vom Kaukaus hören, nämlich die, die voll und ganz auf
die Notwendigkeit fokussiert war, Armenien zu unterstützen.
Sprach man mit einer anderen Gruppe von Leuten, die auf dem Energiesektor
arbeiteten, dann glaubten die, dass der grössten strategische
Verbündete der Vereinigten Staaten in dieser Region Aserbaidschan
sei und alles der amerikanischen Priorität Nr. 1, der Baku-Ceyhan-Pipeline
unterzuordnen wäre. Und später, am selben Tag noch,
hätte man im Aussenministerium hören können, die
erste Priorität Amerikas in dieser Region sei Georgien. Wenn
schon ein Besucher in Washington konfus wurde, ist es doch kein
Wunder, dass viele Leute in der Region ebenfalls konfus wurden.
Sie mögen vielleicht sagen, eine Art von Aausgleich der konkurrierenden
Interessen der drei Länder sei erreicht worden, aber das
geschah eher aus Zufall denn aus einer vernünftigen Planung.
Es ist klar, wenn ich zu meiner ersten These zurückkomme,
es ist Zeit für die Grossmächte, den Südkaukasus
als eine einheitliche Region zu betrachten, von der jeder Teil
die Fähigkeit hat, auf jeden anderen einzuwirken, manchmal
desaströs, und von der alle Teile eine prosperierende Zukunft
in gegenseitiger Kooperation verdient hätten. Das geschieht
zur Zeit noch nicht. Im Gegenteil, Georgien erscheint in der zweifelhaften
Situation, vielleicht der letzte Schauplatz in der Welt zu sein,
auf dem Washington und Moskau Kalten Krieg spielen.
Ich habe bislang Europa nicht angesprochen, weil in strategischen
Fragen - nicht in wirtschaftlichen - die Europäische Union
bisher keinen Beitrag in dieser Region geleistet hat. Aber es
gibt ein durchaus nützliches Modell einer gesamt-kaukasischen
Kooperation und das ist der Europarat. Der Aufnahmeprozess von
Armenien udn Aserbaidschen fand gleiczieitig statt und es war
eines der raren Beispiele, bei dem beide Länder ein Interesse
am positiven Ausgang für das andere Land hatten. Jetzt sind
alle drei Länder Mitglieder Teil des Europarat-Prozesses,
das heisst, dass dort keine Thema des Kaukasus angesprochen werden
kann, ohne dass die anderen interessierten Länder die Chance
hätten, ihren Beitrag zu leisten. Das Umfeld der internationalen
Menschenrechte, das der Europarat bringt, ist nun zu einem gemeinsamen
Unternehmen geworden.
Sicher gibt uns dieses Beispiel eine bedeutende Lehre für
die Mitgliedschaften in anderen europäischen und internationalen
Institutionen, einschliesslich der NATO. Ein Beitritt der Kaukasischen
Gruppe stärkt die region. Aber wenn ein Land Mitglied wird
und andere nicht, riskieren wir einen neuen Riss in der Region.
Derzeit erinnert mich das Sicherheitssystem an ein Haus nach einem
mittelschweren Erdbeben. Wände sind etwas versetzt, einige
Stockwerke sind eingefallen. Die besitzer haben kein Geld, es
ordentlich zu reparieren, aber sie haben es sich wieder einigermassen
wohnlich eingerichtet. Aber für einen Aussenstehenden ist
es offensichtlich, dass das Haus zerstört ist und gefährdet
und dass mit einem weiteren Erdbeben die gesamte Struktur einfallen
kann.
Um das Haus wirklich wieder bewohnbar und ansehnlich zu machen,
müssen Reparaturen an der ganzen Struktur vorgenommen werden,
nicht nur an ein paar Teilen. Das ganze Haus braucht neue Eletrizität,
neue Etagen, ein neues Dach. Diese Reparatur ist nicht nur Aufgabe
der Gesellschaften des Südkaukasus, es ist Aufgabe aller
Aussenstehenden, die sich um die Zukunft dieser Region Gedanken
machen.
Übersetzung:
Georgien News
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