Es ist ein wirklich ausgeschlafener, wunderschöner Dokumentarfilm,
den Stefan Tolz vor zwei Jahren an vier Orten im Kaukasus gedreht
hat. Eine optische Labsal im kurzatmig geschnittenen Alltag hastiger
Medienclips. Ein Film, der auf allen modernen Montageschnickschnack
verzichten kann, weil Bilder und Protagonisten so viel zu erzählen
haben, dass man sich auch über die lange Strecke eines Kinofilms
blendend und intelligent unterhalten fühlt. Es ist ein Film
über Lebenserfahrungen und Lebenssituationen in Swantien, Daghestan,
am Schwarzen Meer und am Kaspischen Meer.
Wer
sich - geprägt von den herkömmlichen Klischees vom Wilden
Kaukasus - auf einen Film über Männerwelten im Kaukasus
einlässt, erwartet zunächst einmal Archaisches, erwartet
wild-entschlossene Kämpfer mit Kalaschnikows und Pferden,
erwartet Geschichten vom Krieg und Kampf, erwartet markerschütternde
Gesänge und opulente Gelage, Männergehabe eben. Stefan
Tolz bedient dieses Klische im Opening mit einer fast brutalen
Schlachtszene aus Uschguli, dem höchsten Dorf in Swanetien.
Doch damit hat es sich dann mit dem Archaischen. Stefan Tolz sucht
im Laufe der folgenden eineinhalb Stunden den weichen Kern seiner
harten Protagonisten, er zeigt Sensibilitäten von Menschen,
die andere Kaukasus-Filmreisende, die ihrer Arbeit mehr im Durchreisen
nachgegangen sind, nicht erkannt haben, nicht erkennen konnten,
vielleicht sogar überhaupt nicht erkennen wollten. Für
sie war, ist und bleibt der Kaukasus eben wild und seine Menschen
haben als solche zu gelten. Dieses Klischee wurde allzu oft bedient
im deutschen Fernsehen. Es ist eines der vielen Verdienste dieses
Films, dass er mit diesen Klischees aufräumt.
Stefan
Tolz kennt den Kaukasus, er hat hier Anfang der 90-er Jahre für
eineinhalb Jahre gelebt und studiert und ist danach immer wieder
zurückgekommen. Er hat die Sprachen gelernt, er kennt die
Mentalitäten der Menschen, die er uns da vorführt, ohne
sie auch nur eine einzige Sekunde vorzuführen. Und er liebt
sie. Das spürt man in jeder Einstellung des Films, in jeder
Szene. Es wäre ein leichtes gewesen, sich mit den Vorurteilen
und Überheblichkeiten unserer modernen Welt an den vier Drehorten
umzuschauen. Aber dazu kennt Stefan Tolz den Kaukasus und seine
Menschen viel zu genau.
Die Gesichter
sind gegerbt von dem harten Leben, das die Menschen, die uns der
Film in ruhigen Beobachtungen und Gesprächsszenen näher
bringt, zu führen haben. In Uschguli ist es der Bergbauer
Roland, der nicht weiss, wie er seinen Hof auf Dauer bewirtschaften
soll, da seine Nachkommen wenig Lust verspüren, dem kargen
Leben ihres Vaters nachzufolgen. Im daghestanischen Batluch ist
es Abdul Hamid, ein Lehrer, der seinen Kindern die Weisheit des
Islam beibringt, bevor er sie in die Welt entlässt. Auf den
künstlichen Ölinseln im Kaspischen Meer ist es die Maschinenführerin
Elmira, die in der harten Arbeitswelt längst das Leben eines
Mannes zu führen hat. Und im Sanatorium "Freundschaft"
am Schwarzen Meer ist es der blinde Schakro mit seinen Kumpels,
der nicht nur von seinen eigenen besseren Zeiten als Maitre de
Plaisir schwärmt.
Und
alle kommen sie am Ende auf diesselben Einsichten, obwohl sie
in unterschiedlichen Welten und Zeiten zu leben scheinen. Alle
träumen sie ein wenig von der guten, alten Sowjetzeit, alle
sind sie verunsichert, was auf sie zukommt. Und in allen kämpft
etwas Depressives mit ihrem nicht zu übersehenden kaukasischen
Stolz. Nur für die Koranschüler in Daghestan ist die
Welt irgendwie in Ordnung, seit nach dem weltlichen Sowjetrecht
wieder die 1.400 Jahre alte Scharia gilt.
Stefan Tolz
konnte bei der Montage seines Films auf Kameraleistungen zurückgreifen,
die aussergewöhnlich sind. Intensive Beobachtungen, immer
ganz nah an den Menschen, auf ihren Gesichtern, die wie Landschaften
erscheinen. Die Bilder sind immer unaufdringlich, sie erzählen
die Geschichten dieser Menschen, sie verraten und verkaufen sie
nie. Holger Schüppel (Bartluch), Thomas Riedelsheimer (Uschguli),
Dieter Stürmer (Ölinsel) und Nugsar Nozadze (Blindensanatorium)
haben eine Bildersprache gefunden, die wie aus einem Guss erscheint.
Nicht zu Unrecht wurden sie in Deutschland für ihre Arbeit
für den Grimme-Preis nominiert.
In
Deutschland wurde der Film in Arte gezeigt und in einigen dritten
Programmen. Wegen der Co-Finanzierung durch ARD-Anstalten konnte
er nicht auf Festivals vorgeführt werden, er hätte sicher
einige Preise bekommen. Stefan Tolz hat diese Anerkennung im Ausland
gefunden mit Preisen in Amsterdam und Los Angeles. Weitere Festivals
stehen bevor.
Nach seiner
gut besuchten und viel beklaschten Premiere in Tbilissi hat Stefan
Tolz die meisten seiner Akteure auf die Kinobühne gebracht.
Eine nette Geste, die zeigt, wie nahe sich Autor und Protagonisten
bei den Dreharbeiten gekommen sind. Eine Intimität, die den
ganzen Film über durchhält, die ihn trägt und ihn
zu einem besonderen Erlebnis macht. "Dro sopelia" sagen
die Georgier. Die Zeit ist ein Dorf. Stefan Tolz führt uns
durch Zeiten-Dorf und, indem er uns die Geschichten seiner Bewohner
erzählt, erzählt er uns auch unendlich viel über
uns selbst und die Welt, in der wir leben. Lebensentwurf nennen
wir manchmal die Vorstellung, die wir von unserem Leben haben,
und sind stolz auf die Freiheit, diesen Entwurf gestalten, verwerfen,
verändern zu können. Der Kaukasus kennt keine Lebensentwürfe,
er kennt nur Lebenssituationen und Lebenserfahrungen, vielleicht
kann man es auch Überlebensinstinkte nennen. Diesen kleinen,
aber feinen Unterschied zu erkennen, ist eine durchaus nicht unbeabsichtigte
Wirkung.
"Am
Rande der Zeit" ist ein Film aus dem Kaukasus, und jeder,
der den Kaukasus kennt, kann so unendlich viel von dem wiedererkennen,
was ihm diese unvergleichliche, dramatisch schöne Landschaft
so wertvoll macht: seine Menschen, ihre Schicksale, ihre Erfahrungen.
Aber eigentlich ist dieser Film an keinen Ort gebunden, an keine
Zeit. Er führt uns deshalb auch immer wieder an den Rand
unserer eigenen Zeit und unserer eigenen Welt.
Rainer
Kaufmann
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