Ausgabe 15/02, 9. Okt. Archiv
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Es ist ein wirklich ausgeschlafener, wunderschöner Dokumentarfilm, den Stefan Tolz vor zwei Jahren an vier Orten im Kaukasus gedreht hat. Eine optische Labsal im kurzatmig geschnittenen Alltag hastiger Medienclips. Ein Film, der auf allen modernen Montageschnickschnack verzichten kann, weil Bilder und Protagonisten so viel zu erzählen haben, dass man sich auch über die lange Strecke eines Kinofilms blendend und intelligent unterhalten fühlt. Es ist ein Film über Lebenserfahrungen und Lebenssituationen in Swantien, Daghestan, am Schwarzen Meer und am Kaspischen Meer.

Wer sich - geprägt von den herkömmlichen Klischees vom Wilden Kaukasus - auf einen Film über Männerwelten im Kaukasus einlässt, erwartet zunächst einmal Archaisches, erwartet wild-entschlossene Kämpfer mit Kalaschnikows und Pferden, erwartet Geschichten vom Krieg und Kampf, erwartet markerschütternde Gesänge und opulente Gelage, Männergehabe eben. Stefan Tolz bedient dieses Klische im Opening mit einer fast brutalen Schlachtszene aus Uschguli, dem höchsten Dorf in Swanetien. Doch damit hat es sich dann mit dem Archaischen. Stefan Tolz sucht im Laufe der folgenden eineinhalb Stunden den weichen Kern seiner harten Protagonisten, er zeigt Sensibilitäten von Menschen, die andere Kaukasus-Filmreisende, die ihrer Arbeit mehr im Durchreisen nachgegangen sind, nicht erkannt haben, nicht erkennen konnten, vielleicht sogar überhaupt nicht erkennen wollten. Für sie war, ist und bleibt der Kaukasus eben wild und seine Menschen haben als solche zu gelten. Dieses Klischee wurde allzu oft bedient im deutschen Fernsehen. Es ist eines der vielen Verdienste dieses Films, dass er mit diesen Klischees aufräumt.

Stefan Tolz kennt den Kaukasus, er hat hier Anfang der 90-er Jahre für eineinhalb Jahre gelebt und studiert und ist danach immer wieder zurückgekommen. Er hat die Sprachen gelernt, er kennt die Mentalitäten der Menschen, die er uns da vorführt, ohne sie auch nur eine einzige Sekunde vorzuführen. Und er liebt sie. Das spürt man in jeder Einstellung des Films, in jeder Szene. Es wäre ein leichtes gewesen, sich mit den Vorurteilen und Überheblichkeiten unserer modernen Welt an den vier Drehorten umzuschauen. Aber dazu kennt Stefan Tolz den Kaukasus und seine Menschen viel zu genau.

Die Gesichter sind gegerbt von dem harten Leben, das die Menschen, die uns der Film in ruhigen Beobachtungen und Gesprächsszenen näher bringt, zu führen haben. In Uschguli ist es der Bergbauer Roland, der nicht weiss, wie er seinen Hof auf Dauer bewirtschaften soll, da seine Nachkommen wenig Lust verspüren, dem kargen Leben ihres Vaters nachzufolgen. Im daghestanischen Batluch ist es Abdul Hamid, ein Lehrer, der seinen Kindern die Weisheit des Islam beibringt, bevor er sie in die Welt entlässt. Auf den künstlichen Ölinseln im Kaspischen Meer ist es die Maschinenführerin Elmira, die in der harten Arbeitswelt längst das Leben eines Mannes zu führen hat. Und im Sanatorium "Freundschaft" am Schwarzen Meer ist es der blinde Schakro mit seinen Kumpels, der nicht nur von seinen eigenen besseren Zeiten als Maitre de Plaisir schwärmt.

Und alle kommen sie am Ende auf diesselben Einsichten, obwohl sie in unterschiedlichen Welten und Zeiten zu leben scheinen. Alle träumen sie ein wenig von der guten, alten Sowjetzeit, alle sind sie verunsichert, was auf sie zukommt. Und in allen kämpft etwas Depressives mit ihrem nicht zu übersehenden kaukasischen Stolz. Nur für die Koranschüler in Daghestan ist die Welt irgendwie in Ordnung, seit nach dem weltlichen Sowjetrecht wieder die 1.400 Jahre alte Scharia gilt.

Stefan Tolz konnte bei der Montage seines Films auf Kameraleistungen zurückgreifen, die aussergewöhnlich sind. Intensive Beobachtungen, immer ganz nah an den Menschen, auf ihren Gesichtern, die wie Landschaften erscheinen. Die Bilder sind immer unaufdringlich, sie erzählen die Geschichten dieser Menschen, sie verraten und verkaufen sie nie. Holger Schüppel (Bartluch), Thomas Riedelsheimer (Uschguli), Dieter Stürmer (Ölinsel) und Nugsar Nozadze (Blindensanatorium) haben eine Bildersprache gefunden, die wie aus einem Guss erscheint. Nicht zu Unrecht wurden sie in Deutschland für ihre Arbeit für den Grimme-Preis nominiert.

In Deutschland wurde der Film in Arte gezeigt und in einigen dritten Programmen. Wegen der Co-Finanzierung durch ARD-Anstalten konnte er nicht auf Festivals vorgeführt werden, er hätte sicher einige Preise bekommen. Stefan Tolz hat diese Anerkennung im Ausland gefunden mit Preisen in Amsterdam und Los Angeles. Weitere Festivals stehen bevor.

Nach seiner gut besuchten und viel beklaschten Premiere in Tbilissi hat Stefan Tolz die meisten seiner Akteure auf die Kinobühne gebracht. Eine nette Geste, die zeigt, wie nahe sich Autor und Protagonisten bei den Dreharbeiten gekommen sind. Eine Intimität, die den ganzen Film über durchhält, die ihn trägt und ihn zu einem besonderen Erlebnis macht. "Dro sopelia" sagen die Georgier. Die Zeit ist ein Dorf. Stefan Tolz führt uns durch Zeiten-Dorf und, indem er uns die Geschichten seiner Bewohner erzählt, erzählt er uns auch unendlich viel über uns selbst und die Welt, in der wir leben. Lebensentwurf nennen wir manchmal die Vorstellung, die wir von unserem Leben haben, und sind stolz auf die Freiheit, diesen Entwurf gestalten, verwerfen, verändern zu können. Der Kaukasus kennt keine Lebensentwürfe, er kennt nur Lebenssituationen und Lebenserfahrungen, vielleicht kann man es auch Überlebensinstinkte nennen. Diesen kleinen, aber feinen Unterschied zu erkennen, ist eine durchaus nicht unbeabsichtigte Wirkung.

"Am Rande der Zeit" ist ein Film aus dem Kaukasus, und jeder, der den Kaukasus kennt, kann so unendlich viel von dem wiedererkennen, was ihm diese unvergleichliche, dramatisch schöne Landschaft so wertvoll macht: seine Menschen, ihre Schicksale, ihre Erfahrungen. Aber eigentlich ist dieser Film an keinen Ort gebunden, an keine Zeit. Er führt uns deshalb auch immer wieder an den Rand unserer eigenen Zeit und unserer eigenen Welt.

Rainer Kaufmann


TV-Tipp - TV-Tipp

Das 3. Programm des SWR zeigt den Film
"Am Rande der Zeit"
von Stefan Tolz am 6.3.2003 um 23.15

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