Jelena
Bonner: Primitiv, zynisch und verlogen
Stellungnahme
der Sacharow-Witwe und anderer Intellektueller zu Putins Ultimatum
Im Namen eines "Allgemeinen Nationalen Komitees für die
Einstellung des Krieges und für den Frieden in Tschetschenien"
bezeichnete die Witwe Juri Sacharows, Jelena Bonner, die Begründung
eines möglichen russischen Eingreifens in Georgien als primitiv,
zynisch und verlogen. GN übersetzte den Appell, den Jelena
Bonner zusammen mit anderen Intellektuellen und Politikern unterzeichnet
hat.
"Die Flut der Militärerklärungen, adressiert an
Georgien, erreichte den Höhepunkt. Präsident Putin ist
gegen den südlichen Nachbarn nicht nur mit einem Ultimatum
aufgetreten, er hat auch öffentlich die Militärs beauftragt,
gegen einen souveränen Staat Kampfhandlungen vorzubereiten.
Ähnliches hat sich bis jetzt kein Staatschef erlaubt.
Hiermit erklären wir, dass jeder Versuch, in Georgien einzudringen,
zur Katastrophe für Russland führt. Georgien ist nicht
nur ein schwaches und armes Land, das mit grossem Bemühen
versucht, den Verfall zu überwinden und einen demokratischen
Staat aufzubauen. Das georgische Volk ist seit mehreren Jahrhunderten
der geistige Bruder Russlands. Der Angriff auf Georgien wäre
das schwerste Verbrechen gegen die russische Geschichte und seine
Staatlichkeit. Es wird ein Schlag ins Herz Russlands, dessen schlimme
Folgen nachfolgende Generationen büßen müssen.
Die Aggression gegen Georgien wird einen neuen Kaukasuskrieg
auslösen, dessen Flammen nicht nur das Territorium Georgiens
erfassen sondern auch auf andere südkaukasische Republiken
sowie auch auf nordkaukasische Gebiete übergreifen werden.
Der Versuch, den Tschetschenienkrieg nach Transkaukasien zu verlagern,
ist das offensichtliche Eingeständnis durch die militärisch-politische
Führung Russlands, dass der Tschetschenienkrieg in eine Sackgasse
geraten ist.
Statt friedlicher Verhandlungen, wie sie von führenden Politikern
und Vertretern der Öffentlichkeit immer wieder gefordert
werden, sehen wir nur eine Tendenz zur unaufhaltsamen Eskalation
des Konflikts.
Ähnliche Aktionen haben andere schon unternommen. Zum Beispiel
Frankreich, als es sich wegen seine Misserfolge im Algerienkrieg
zu Aggressionen gegen Ägypten und Tunis hinreissen liess.
Oder die USA, als man mit einem Angriff auf Kambodscha von dem
in die Sackgasse geratenenen Vietnamkrieg ablenken wollte. Müssen
die russischen Machthaber noch einmal auf den Rechen treten? (russisches
Sprichwort, meint: denselben Fehler wiederholen).
Die Rechtfertigung eine Krieges gegen Georgien sind primitiv,
zynisch und verlogen. Man soll und darf Georgien und Schewardnadse
nicht mit Irak und Saddam Hussein vergleichen. Es ist offensichtlich,
dass die russischen Einheiten, die in den vergangenen drei Jahren
den Widerstand in Tschetschenien nicht brechen konnten, noch viel
weniger einen Krieg in dem grösseren Land jenseits des Kaukasus
gewinnen können.
Wir rufen den Föderationsrat auf, Pläne für einen
Angriff auf Georgien abzulehnen und die Vernatwortung für
dieses schwere Abenteuer nicht zu übernehmen. Wir fordern
die westeuropäischen Staaten auf, die Staatsführung
Russlands von der Unzulässigkeit dieser Aggression zu überzeugen.
Wir fordern die russische und Weltöffentlichkeit auf, gegen
einen neuen Kaukasuskrieg aufzustehen, unverzüglich Verhandlungen
mit Maschadow aufzunehmen, da die Entwicklung des Krieges gezeigt
hat, dass seine Weiterführung zur seiner Ausdehnung und zu
einer internationalen Krise führen wird."
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