Das
grösste militärische Desaster
IWPR-Analyse
zur Situation in Tschetschenie
Das grösste militärische Desaster für Russland seit
Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges nennt der angesehene International
War and Peace Report (IWPR) die jüngste Offensive tschetschenischer
Rebellen. GN übersetzt Ausschnitte aus dem Artikel des IWPR-Korrespondenten
Timur Aliew, der als freier Journalist in der inguschetischen Hauptstadt
Nasran arbeitet. Die Lage in Tschetschenien bildet ganz sicher einen
der Hintergründe für den massiven Druck Russlands auf
Georgien. Moskau will vom eigenen Versagen in seinem Teil des Kaukasus
ablenken, in dem der tschetschenische Widerstand noch lange nicht
gebrochen ist. Im Gegenteil, die Rebellen scheinen in jüngster
Zeit wieder stärker zu werden, zumal sie einige Differenzen
im eigenen Lager beigelegt haben.
Der russische Generalstaatsanwalt Wladimir Ustinow erklärte,
dass eine Rakete, abgefeuert von Rebellen, einen russischen MI-26
Hubschrauber am 19. August in Tschetschenien vom Himmel geholt
hätte, obwohl die exakte Unfallursache nicht nicht geklärt
ist. Was auch immer bei den Untersuchungen herauskommen wird,
der Todeszoll von 116 Menschen ist der grösste Moskauer Menschenverlust
an einem Tag seit der Tschetschenienkonflikt vor drei Jahren wieder
aufflammte. Und es scheint, dass der Konflikt mit unverminderter
Härte weiter ginge.
Der Helikopter fiel in ein Minenfeld in der Nähe der russischen
Militärbasis Khankala ausserhalb von Grosny. Obwohl der Hubschrauber
nur für 80 Personen zugelassen ist, war er mit der doppelten
Zahl an Passagieren besetzt, ein Zeichen dafür, dass sich
das russische Militär sogar in Regionen, die weit entfernt
sind von den Rebellenzentren in Nordtschetschenien, nicht traut,
öffentliche Strassen zu benutzen.
Viele in Tschetschenien haben eine Offensive der Rebellen am
6. August erwartet, dem 6. Jahrestag der Erstürmung von Grosny,
die damals zu Friedensverhandlungen führte. Die Checkpoints
rund um die Hauptstadt wurden deshalb verstärkt und unter
Alarmbereitschaft versetzt und die Grenze nach Inguschtien geschlossen.
In der Tat verstrich der 6. August ohne jeden Zwischenfall. Die
erwartete Rebellenattacke begann am 14. und 15. August, nachdem
die russischen Truppen über eine zehntägige Ruhepause
eingelullt wurden.
Eine grosse Zahl von Kämpfern began damit, in Dörfer
der Gegenden Urus-Martan und Achkoi-Martan in West-Tschetschenien
einzusickern. Die Kämpfe in einigen Dörfern dauerten
bis zum 16. August, als die Kämpfer sich wieder in die berge
zurückzogen.
Die Rebellen erklärten, sie hätten grosse Erfolge erzielt
und dem Gegner schwere Verluste beigebracht, dessen Kommandoposten
und gepanztere Fahrzeuge zerstört. Sie erklärten ausserdem,
das Dorf Vedeno in Südost-Tschetschenien attackiert zu haben.
Ausserdem hätten sie im Dorf Golsonchu am 21.August ein russische
Militärkolonne zerstört.
Eine Presseerklärung des russischen Militärs in Tschetschnien
sprach von einem für "Tschetschen typischen Bandenüberfall",
der durch eine "geplante Aktion von Sonderheinheiten"
beantwortet worden ware.
Die Rebellen bezeichneten die Attacken lediglich als ein Manöver,
es sei ein Teil eines Militärplans der tschetschenischen
Feldkommandanten, bei dem nur die Fähigkeit der Kooperation
verschiedener bewaffneter Einheiten der Tschetschenen getestet
werden sollte.
Während des zweiten Tschetschenienkreiges erschienen die
Rebellen mehr zerstreut und desorganisiert. Der bekannte Schamil
Basajew, der für die jüngsten Operationen verantwortlich
zeichnete, erklärte, dass die Aktionen der Tschetschenen
jetzt viel koordinierter seien als früher. Es gibt tatsächlich
klare Anzeichen, dass die verschiedenen Fraktionen der Tschetschenen
in den letzten drei Monaten ihre Differenzen beigelegt haben.
Im Mai schloss der Rebellen-Präsident Aslan Maschkadov Frieden
mit seinem Vorgänger Selimkhan Jandarbiew. Im Juli meldete
die Webseite der Guerilla-Bewegung, dass sich Maschchadow und
Basajew über eine neue Machtverteilung geeinigt hätten.
Während Maschadow Präsident und Oberkommandierender
bleibe, wurde Basajew zum Chef eines neu geschaffenen Verteidigungsrates
ernannt und damit defacto zum Verantwortlichen für militärische
Operationen.
Bei demselben Treffen erreichte Maschadow eine Aussöhnung
mit dem Feldkommandeur Khamzat Gelajew, den er früher als
Verräter verurteilt hatte. Er schuf ausserdem ein neues Informations-Komitee,
das von einem anderen politischen Veteranen geleitet wird, Achmed
Zakajew, verantwortlich für die Koordination aller Informationen
auf Seiten der Rebellen.
Es gibt für diese Entwicklung zwei Erklärungen. Entweder
hat sich Maschadow von seinem Plan verabschiedet, eine politische
Lösung für Tschetschenien zu finden und vertraut wieder
alleine der Gewalt. Oder, was mehr wahrscheinlich erscheint, er
nutzt die erneut aufflackernden Kämpfe dazu, Russland zu
verängstigen und ihm klar zu machen, dass der Preis für
eine Verlängerung des Krieges zu hoch ist.
Die zweite Erklärung wird gestützt durch ein Treffen
zwischen Zakajew und dem früheren Sekretär des russischen
Sicherheitsrates, Iwan Ribkin, das jüngst in Zürich
stattfand.
Die Rebellen haben den Sommer zu einer neuen Offensive genutzt.
Basajew erklärte, seien Kämpfer seien in der Lage, grossräumige
militärische Operationen im gesamten Gebiet von Tschetschenien
durchzuführen.
Das russische Militär dagegen erklärt, die tschetschenischen
Guerillas würden ihre Kräfte vergeuden, da sie nur ein
paar Hundert Mann zur Verfügung hätten, während
etwa 80.000 russische Soldaten in Tschetschenien stationiert sind.
Tschetschenische Zivilisten sind verunsichert von der Aussicht
auf neue Kämpfe in ihrer Republik. Viele, die die Flüchtlingslager
in Inguschetien Anfang diesen Jahres verlassen hattene, kehren
zwischenzeitlich wieder zurück, da viele bewaffnete Leute
wieder in die Dörfer zurückgekehrt seien. Sollten die
Kämpfe sich wieder verstärken, ist vor allem die Zivilbevölkerung
betroffen.
|