Ausgabe 9/02, 19. Juni
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Auszug aus dem Buch "Kaukasus - Georgien, Armenien, Aserbaidschan"
Mit freundlicher Genehmigung des Prestel-Verlags/München

Unvorstellbar, durch Georgien zu reisen, ohne an einer der berühmten georgischen Tafeln teilzunehmen. Allerdings kommen die wenigsten Touristen in den Genuß einer privaten Einladung, wo man am ehesten erlebt, was dies bedeuten kann - eine unvergleichliche Inszenierung. Gastgeber und Gäste sitzen dabei nicht einfach zusammen, unterhalten sich miteinander und laben sich an den Köstlichkeiten der georgischen Küche. Das wäre viel zu banal für ein Land, in dem der Gast als gottgesandt gilt. Und dies wiederum erklärt, daß ein Gastmahl hierzulande geradezu rituellen Charakter annimmt. Oder darf man einen Gesandten Gottes einfach mit profanem Essen und Gesprächen abspeisen?

Speisen als kulturelle Institution

Ein georgisches Gastmahl folgt strengen Regeln. Zunächst ist die Speisefolge genau festgelegt. Kalte Vorspeisen verschiedenster Art stehen bereits auf dem Tisch, wenn der Gast kommt, ebenso die Getränke, Wein, Wasser, Limonade, oft auch Wodka, Kognak und Champagner. Das Vorspeisenrepertoire umfaßt Tomaten, Gurken und Grünzeug, Sulguni-Käse, Käsefladen mit Pfefferminzquark gefüllt, geräucherten oder gekochten Stör, gekochte Bachforellen, Kaviar, mit Walnüssen gefüllte Auberginen, einen Brei aus Spinat oder grünen Bohnen mit Walnüssen, manchmal Schinken oder gepökelte Zunge, gefüllte Blinis, immer Kartoffelsalat mit Erbsen und Mayonnaise, sauer eingelegtes Gemüse, Spanferkel, Truthahnstückchen in einer Walnußsauce - und selbstverständlich jede Menge georgisches Fladenbrot.

Danach wird warmes Maisbrot gereicht oder ein Maisbrei, in den Sulguni-Käse gedrückt wird, und auf alle Fälle Chatschapuri, warme Fladenbrote mit Käsefüllung. An warmen Speisen kennt man Bratkartoffeln mit Atschika, einer scharf-würzigen Tomatensauce, verschiedene Fleischragouts und Schaschlik aus Rind, Schwein, Lamm oder Stör, den, wenn es sich um eine der traditionsbewußte Gastgeberfamilie handelt, der Hausherr höchstpersönlich am offenen Kamin zubereitet. Und jeder Hausherr ist stolz auf seinen Schaschlik. Zum Stör-Schaschlik gibt es eine dicke Sauce aus eingekochten Granatäpfeln. Oft bietet man auch Chinkali, kunstvoll gefaltete Nudeltaschen mit Hackfleischfüllung, die man ganz einfach mit der Hand an den Mund führt, anbeißt und auszuzelt.

Es ist übrigens durchaus erlaubt, praktisch alles, was man mit den Fingern anfassen kann, auch mit den Fingern zu essen, Schaschlik beispielsweise oder Fisch. Es gibt Georgier, die auch an einer Tafel selten Messer und Gabel benutzen, man schiebt sich alles zusammen mit einem Stückchen Brot, das wie ein Art Besteck benutzt wird, in den Mund. Als Desserts serviert man Obst und Kuchen, dazu Kaffee oder Tee, Konfitüren und Marmeladen.

Alles wird in kleinen Schälchen und Schüsselchen aufgetischt, übereinander gestapelt, da der Platz für die unzähligen Köstlichkeiten selten reicht. Eine georgische Tafel, das lernen wir schnell, ist eine Art Leistungsschau des Gastgebers, natürlich verbrämt durch das ehrenwerte Motiv, dem von Gott gesandten Gast all das zu bieten, wozu man fähig ist. Oft genug helfen Nachbarn und Freunde mit, die später auch an der Resteverwertung teilhaben, denn auf einem georgischen Tisch steht immer ein Vielfaches dessen, was die Teilnehmer des Mahles physisch zu bewältigen in der Lage sind. Kein Teller wird weggenommen, im Gegenteil, ständig kommen dienstbare Geister aus der Küche und plazieren neue Teller mit Vorspeisen, warmen Ragouts oder Schaschlik auf dem Tisch.

Wer ein solches Gastmahl durchstehen will, sollte dem Drang widerstehen, sich schnell satt zu essen. So eine Tafel kann sich über mehrere Stunden hinziehen, und georgische Gastgeber werden sich niemals damit abfinden, daß der Teller eines Gastes leer ist. Immer muß etwas vorgelegt sein. Es wird auch selten abgeräumt, solange die Gäste am Tisch sitzen, dies gilt als unhöflich. Und kein Gastgeber wird Anstalten machen, die Tafel von sich aus zu beenden, solange der Gast keine deutlichen Anstalten macht, aufzustehen.

Sind Gäste angesagt, werden Freunde und Verwandte der Familie geladen. Man will den Gast auch damit ehren, daß man möglichst ehrenhafte, interessante und hochrangige Freunde zu Tisch bittet, andererseits unterstreicht dies den eigenen Stellenwert in der Gesellschaft, wobei es beinahe so etwas gibt wie eine Tabelle und Rangliste der Freundschaften. Einladungen zu Gastmählern werden meist als Ehrensache behandelt, wenngleich der Hintergrund zuweilen prosaisch ist. Ähnliches gilt auch für Freundschaften, in Georgien einer der höchsten Werte, die, wie man bald erfährt, nicht selten auf einem profanen Tauschprinzip beruhen, das hilft, im Alltag zu überleben. Noch immer ist die Gesellschaft clanartig strukturiert, dominiert das Denken in Netzwerken, gesponnen im Dunstkreis von Verwandten und Freunden, gegenüber einer offenen und transparenten Dienstleistungsgesellschaft. So kommt es, daß man sich mittels Einladung zu einem Gastmahl gelegentlich eine Problemlösung erhofft, für die man bei uns einfach die Gelben Seiten aufschlagen würde. Wie dem auch sei, der Gast aus dem Ausland wird selten an einer georgischen Tafel sitzen, zu der der Gastgeber nicht weitere Gäste geladen hätte.

Der Tamada hat das Wort

Nachdem endlich die Gäste an der Tafel Platz genommen haben, beginnt das Vorspiel. Keine Tafel ohne Tamada, den traditionellen Tischführer. Er wird demokratisch gewählt, Vorschläge können gemacht werden, und natürlich muß es der würdigste der ganzen Gesellschaft sein, nicht unbedingt der Hausherr. Im Gegenteil, manche Gastgeber rechnen es sich als große Ehre an, wenn ein Freund, der bekannt ist als guter Tamada, die ehrenvolle Aufgabe übernimmt. Vorsorglich hat der Gastgeber schon beim Zusammenstellen der Gästeliste dafür Sorge getragen, daß bei entsprechender Gelegenheit in der tamadalosen Tischgruppe einer, der entsprechende Autorität besitzt, demjenigen zuprostet, der für diese Aufgabe auserkoren wurde: "Tamadas gaumardschoss" - "Auf das Wohl des Tamada." Und alle, die eben noch heftig darum gerungen hatten, wer denn am würdigsten für die verantwortungsvolle Aufgabe sei, stimmen ein: "Tamadas gaumardschoss", wonach zur Bekräftigung der Wahl das erste Glas des Abends zu leeren ist.

Hier sollten wir dem Kaukasus-Neuling noch einen praktischen Tip mit auf den Weg geben: Da der Aufforderung des Tamadas unbedingt Folge zu leisten und, seinen Trinksprüchen folgend, auch das Glas zu erheben und zu leeren ist, kann sich dies bei einem fleißigen Tischführer im Laufe des Abends zu einem recht ordentlichen Quantum an Alkohol summieren. Daher hat es sich bewährt, das Wein- oder Kognakglas nur dann anzufassen, wenn der Tamada ausdrücklich zu einem Trinkspruch aufruft. Eventuelle Durstanfälle in der Zwischenzeit sollte man mit besser mit Mineralwasser oder Limonade bekämpfen. Denn vor jedem Trinkspruch wird das Weinglas ganz gefüllt, und man muß bei bestimmten Trinksprüchen immer damit rechnen, daß der Tamada "bolomde" anordnet, was nichts anderes heißt als "ex" und für den Gast bedeutet, das Glas bis auf den Grund zu leeren. Außerdem sollte man besser der Versuchung widerstehen, neben Wein auch Hochprozentiges wie Wodka oder Kognak zu probieren. Sortenrein und diszipliniert hingegen läßt sich jedes noch so ausgiebige georgische Gastmahl unbeschadet überstehen. Denn es gibt nichts, was Georgier mehr verachten, als betrunken und unkontrolliert vom Tisch aufzustehen.
Nach der Wahl des Tamada, dem einzig demokratischen Akt der Veranstaltung, wird es autokratisch. Nachdem er sich artig für die Wahl bedankt hat, indem er das Ende aller Gratulationstoasts abwartet, bevor er sein Glas ebenfalls bis zur Neige leert, bestimmt er die Reihenfolge der Trinksprüche. Er erteilt jeweils einem Redner das Wort, und seinen Anweisungen, meist in launiger Form vorgetragen, ist Folge zu leisten. Der Tamada ist der absolute Herr des Abends, der nicht selten, vor allem wenn es sich um weniger traditionelle Gesellschaften handelt, in einer Art Diktatur des Tamadariats gipfelt.

Eine gesittete Tafel erkennt man auch an den Weingläsern. Meist sind es kleine Gläschen, nicht viel größer als unsere Weinprobiergläser, denn ein traditionelles georgisches Gastmahl hat nichts zu tun mit einem sinnlosen Besäufnis, auch wenn manche Gäste heute den Eindruck gewinnen, es sei charakterisiert durch maßlose Schluckorgien. Der erste Toast ist besonders bedeutsam. In Westgeorgien gilt er immer dem Frieden, im Osten meist der Familie des Gastgebers, sofern dieser nicht selbst zum Tamada bestimmt wurde. Die weiteren Sprüche folgen einem festen Ritual und gelten nach Frieden und Gastgeber in der Regel den Gästen, deretwegen die Tafel veranstaltet wurde, dann zum ersten, aber bestimmt nicht zum letzten Mal Georgien und dem Herkunftsland der Gäste. Keine Tafel auch ohne mindestens einen Trinkspruch auf die Frauen, die Eltern, die Vorfahren, die Verstorbenen, auf den dann zwangsläufig ein weiterer auf die Kinder und die Zukunft des Landes folgt. Gerne gedenkt man dabei auch der Liebe, der Freundschaft und natürlich des Heiligen Georgs, des Schutz- und Namenspatrons von Georgien.
Nicht selten nutzt der Tamada auch die Gelegenheit, um reihum jeden Teilnehmer in Form eines Trinkspruchs dem fremden Gast vorzustellen, eine schöne Sitte, vor allem in kleinerer Runde. Denn jeder steht einmal im Mittelpunkt, und jeder erfährt etwas vom anderen. Jeder Trinkspruch wiederum hat seine feste Regel. Der Tamada gibt ein Thema vor, und jeder am Tisch ist aufgefordert, es mit ein paar Sätzen aufzugreifen und möglichst geistreich fortzuspinnen, bevor er sein Glas leert; ein anderes Thema anzuschneiden ist strengstens verboten.

Hier wäre ein zweiter praktischer Tip angebracht: Man muß bei einer Trinkspruchsequenz nur einmal trinken, nicht jedes Mal, wenn einer aus der Tafelrunde das Glas erhebt. Man wartet, bis man sich in der bald erkennbaren Hierarchie mit einem kleinen Ergänzungsspruch auf den Toast des Tamadas einreihen kann, steht auf, spricht ihn und leert sein Glas. Ganz besonders wichtig ist dies, wenn man selbst Gegenstand des Trinkspruchs ist. Wenn der Tamada danach sein Glas leert, muß der Geehrte nicht sofort trinken, wie man es bei uns gewohnt ist, sondern wird zunächst aufmerksam lauschen, bis jedes Mitglied der Tafel seinen persönlichen Spruch ausgebracht hat. Dann erst ist es für ihn an der Zeit, aufzustehen, sich kurz für die Gesamtheit aller Trinksprüche zu bedanken und dann erst sein Glas Wein zu trinken - natürlich "bolomde", egal wie groß es ist.

"Bolomde" muß übrigens getrunken werden auf Frauen, auf den Frieden, die Verstorbenen und die Liebe, egal ob dies vom Tamada angeordnet wurde oder nicht. Dieser darf für gewisse Trinksprüche auch spezielle Gläser vom Hausherrn anfordern. Jeder georgische Haushalt besitzt dafür ein ganzes Arsenal an geeigneten Gefäßen, die alle ein größeres Fassungsvermögen haben als normale Weingläser, als da wären Tonschalen, Trinkhörner, Tonamphoren, die man wegen ihres spitz zulaufenden Bodens nicht abstellen kann, große Gläser und vieles mehr. In besonders turbulenter Runde mußte ich schon aus Lampenschalen, Fleischwölfen oder bei einer Tafel von Militärärzten sogar aus einem eigens hierfür aus dem Spitalbestand ausgemusterten Klistier trinken. Der Phantasie des Tamada, so eindimensional sie ansonsten auch sein mag, sind hier keine Grenzen gesetzt.

Eine Veranstaltung wie diese verhindert jegliche individuelle Kommunikation, wie man sie bei uns gewohnt ist. Wer bei einem Gastmahl tiefschürfende Zwiegespräche zu führen versucht, ist fehl am Platze, und der Tamada wird ihn schon bald den Regeln entsprechend zur Ordnung rufen. Trotzdem kann das ganze durchaus unterhaltsam und intellektuell anregend verlaufen. Es hängt einzig und allein vom Tamada ab, ob er die funktionärstypischen Routinesprüche, die man immer wieder zu hören bekommt, mechanisch herunterbetet oder ob er, der Atmosphäre und Zusammensetzung der Runde entsprechend, kreativ, witzig und geistreich agiert. In diesem Fall kann ein georgischer Tisch, der nichts anderes ist als eine dramatische Inszenierung, wirklich viel Spaß machen.

Natürlich dominieren die Männer das Ritual, während die Mädchen und Frauen eines Haushaltes für Küche und Bewirtung zuständig sind. So kommt es nicht selten vor, daß eine erwachsene Tochter von über 20 Jahren ohne Murren ihren 15jährigen Bruder, der selbstredend mit an den Tisch gebeten wurde, den ganzen Abend bedient. Daraus jedoch allgemein auf die inneren Strukturen der georgischen Gesellschaft schließen zu wollen, wäre fatal. Nur in der Inszenierung, nur auf der gesellschaftlichen Bühne dominieren die Männer unangefochten, hinter den Kulissen, das weiß jeder, sieht es dagegen anders aus. Selbstverständlich gehört es zu den Regeln eines georgischen Tisches, daß auch die guten Hausgeister hinter der Bühne mit einem Trinkspruch geehrt werden.

Derartige Gastmähler werden auch gerne zur Anbahnung von Geschäften veranstaltet. Nach wie vor liebt man es hierzulande nicht übermäßig, in Geschäftsdingen direkt aufeinander zuzugehen. Der Georgier ziehen es - wie übrigens alle Kaukasier - vor, Ziele weitläufig zu umkreisen, um dann nahezu unvermutet, jedoch nicht ohne eigenes Zutun, doch noch am Ziel anzukommen. Um geschäftlich miteinander zu verhandeln, muß erst eine gewisse Vertrauensbasis hergestellt werden. Freundschaft, so wird immer wieder betont, stehe vor jedem Geschäft, und Freundschaften werden vor allem beim gemeinsamen Tafeln angebahnt. Damit knüpft man sich ein in ein Beziehungsgeflecht, ohne das Geschäfte hierzulande praktisch unmöglich sind. Dies mag für uns, die wir gewohnt sind, ein Ziel möglichst auf direktem Wege anzusteuern und Geschäfte als Aktionen zum gegenseitigen Vorteil der Partner zu definieren, etwas umständlich klingen. Schließlich kann durchaus vorkommen, daß man mehrere Gastmähler absolvieren muß, bis man den angestrebten Kontakt knüpfen kann, bis man, in unserer zielgerichteten Sprache gesprochen, zum Entscheidungsträger vordringt.

Der georgische Tisch mit seinen stereotypen Ritualen ist ein Abbild der kaukasischen Art zu leben, Handel zu treiben und Geschäfte zu machen. Entspricht dies nicht eher orientalischem als westlichem Lebensgefühl? Selten scheint uns Europa so fern und der Orient so nahe wie in Georgien, wie man auch beim Stadtrundgang in Tbilissi erkennen kann, selten aber auch ist uns die Ferne so vertraut wie in diesem Land, das selbst demjenigen, der über Jahre und gar Jahrzehnte hier lebt, in gewisser Weise ein Rätsel bleiben wird. So ganz wird man es wohl nie durchschauen.

Kaum eine georgische Tafel, an der nicht gesungen würde, und kaum eine georgische Wohnstube, in der nicht ein Klavier oder gar einen Flügel steht - zumindest beim Großbürgertum von Tbilissi, das nach wie vor in der Gesellschaft Georgiens den Ton angibt. Georgier singen viel, wenn sie zusammensitzen, und sie singen gut, besonders die traditionellen polyphonen Lieder, die hin und wieder angestimmt werden, wenn genügend stimmkräftige Männer, mindestens sieben oder acht Burschen, beisammensitzen. Dabei fängt einer an zu improvisieren, und die anderen fallen mit ihren Baß- und Tenorstimmen ein - man muß es einfach selbst hören.

Wenn sich bei einem georgischen Gastmahl die allgemeinen Auflösungserscheinungen nicht mehr übersehen lassen, wird es beendet, indem einer aus der Runde dem Tamada mit einem abschließenden Trinkspruch für seine Dienste dankt: "Tamadass gaumardschoss!". Erst wenn auch die anderen Gäste sein Amt mit einem Dankestrinkspruch aufheben, ist er offiziell entlassen: "Tamadas gaumardschoss, Sakartvelos gaumardschoss!"



 



















 




 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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