Auszug aus
dem Buch "Kaukasus - Georgien, Armenien, Aserbaidschan"
Mit freundlicher Genehmigung des Prestel-Verlags/München
Unvorstellbar,
durch Georgien zu reisen, ohne an einer der berühmten georgischen
Tafeln teilzunehmen. Allerdings kommen die wenigsten Touristen in
den Genuß einer privaten Einladung, wo man am ehesten erlebt, was
dies bedeuten kann - eine unvergleichliche Inszenierung. Gastgeber
und Gäste sitzen dabei nicht einfach zusammen, unterhalten sich miteinander
und laben sich an den Köstlichkeiten der georgischen Küche. Das wäre
viel zu banal für ein Land, in dem der Gast als gottgesandt gilt.
Und dies wiederum erklärt, daß ein Gastmahl hierzulande geradezu rituellen
Charakter annimmt. Oder darf man einen Gesandten Gottes einfach mit
profanem Essen und Gesprächen abspeisen?
Speisen als kulturelle Institution
Ein georgisches Gastmahl folgt strengen Regeln. Zunächst ist die Speisefolge
genau festgelegt. Kalte Vorspeisen verschiedenster Art stehen bereits
auf dem Tisch, wenn der Gast kommt, ebenso die Getränke, Wein, Wasser,
Limonade, oft auch Wodka, Kognak und Champagner. Das Vorspeisenrepertoire
umfaßt Tomaten, Gurken und Grünzeug, Sulguni-Käse, Käsefladen mit
Pfefferminzquark gefüllt, geräucherten oder gekochten Stör, gekochte
Bachforellen, Kaviar, mit Walnüssen gefüllte Auberginen, einen Brei
aus Spinat oder grünen Bohnen mit Walnüssen, manchmal Schinken oder
gepökelte Zunge, gefüllte Blinis, immer Kartoffelsalat mit Erbsen
und Mayonnaise, sauer eingelegtes Gemüse, Spanferkel, Truthahnstückchen
in einer Walnußsauce - und selbstverständlich jede Menge georgisches
Fladenbrot.
Danach wird warmes Maisbrot gereicht oder ein Maisbrei, in den Sulguni-Käse
gedrückt wird, und auf alle Fälle Chatschapuri, warme Fladenbrote
mit Käsefüllung. An warmen Speisen kennt man Bratkartoffeln mit Atschika,
einer scharf-würzigen Tomatensauce, verschiedene Fleischragouts und
Schaschlik aus Rind, Schwein, Lamm oder Stör, den, wenn es sich um
eine der traditionsbewußte Gastgeberfamilie handelt, der Hausherr
höchstpersönlich am offenen Kamin zubereitet. Und jeder Hausherr ist
stolz auf seinen Schaschlik. Zum Stör-Schaschlik gibt es eine dicke
Sauce aus eingekochten Granatäpfeln. Oft bietet man auch Chinkali,
kunstvoll gefaltete Nudeltaschen mit Hackfleischfüllung, die man ganz
einfach mit der Hand an den Mund führt, anbeißt und auszuzelt.
Es ist übrigens durchaus erlaubt, praktisch alles, was man mit den
Fingern anfassen kann, auch mit den Fingern zu essen, Schaschlik beispielsweise
oder Fisch. Es gibt Georgier, die auch an einer Tafel selten Messer
und Gabel benutzen, man schiebt sich alles zusammen mit einem Stückchen
Brot, das wie ein Art Besteck benutzt wird, in den Mund. Als Desserts
serviert man Obst und Kuchen, dazu Kaffee oder Tee, Konfitüren und
Marmeladen.
Alles wird in kleinen Schälchen und Schüsselchen aufgetischt, übereinander
gestapelt, da der Platz für die unzähligen Köstlichkeiten selten reicht.
Eine georgische Tafel, das lernen wir schnell, ist eine Art Leistungsschau
des Gastgebers, natürlich verbrämt durch das ehrenwerte Motiv, dem
von Gott gesandten Gast all das zu bieten, wozu man fähig ist. Oft
genug helfen Nachbarn und Freunde mit, die später auch an der Resteverwertung
teilhaben, denn auf einem georgischen Tisch steht immer ein Vielfaches
dessen, was die Teilnehmer des Mahles physisch zu bewältigen in der
Lage sind. Kein Teller wird weggenommen, im Gegenteil, ständig kommen
dienstbare Geister aus der Küche und plazieren neue Teller mit Vorspeisen,
warmen Ragouts oder Schaschlik auf dem Tisch.
Wer ein solches Gastmahl durchstehen will, sollte dem Drang widerstehen,
sich schnell satt zu essen. So eine Tafel kann sich über mehrere Stunden
hinziehen, und georgische Gastgeber werden sich niemals damit abfinden,
daß der Teller eines Gastes leer ist. Immer muß etwas vorgelegt sein.
Es wird auch selten abgeräumt, solange die Gäste am Tisch sitzen,
dies gilt als unhöflich. Und kein Gastgeber wird Anstalten machen,
die Tafel von sich aus zu beenden, solange der Gast keine deutlichen
Anstalten macht, aufzustehen.
Sind Gäste angesagt, werden Freunde und Verwandte der Familie geladen.
Man will den Gast auch damit ehren, daß man möglichst ehrenhafte,
interessante und hochrangige Freunde zu Tisch bittet, andererseits
unterstreicht dies den eigenen Stellenwert in der Gesellschaft, wobei
es beinahe so etwas gibt wie eine Tabelle und Rangliste der Freundschaften.
Einladungen zu Gastmählern werden meist als Ehrensache behandelt,
wenngleich der Hintergrund zuweilen prosaisch ist. Ähnliches gilt
auch für Freundschaften, in Georgien einer der höchsten Werte, die,
wie man bald erfährt, nicht selten auf einem profanen Tauschprinzip
beruhen, das hilft, im Alltag zu überleben. Noch immer ist die Gesellschaft
clanartig strukturiert, dominiert das Denken in Netzwerken, gesponnen
im Dunstkreis von Verwandten und Freunden, gegenüber einer offenen
und transparenten Dienstleistungsgesellschaft. So kommt es, daß man
sich mittels Einladung zu einem Gastmahl gelegentlich eine Problemlösung
erhofft, für die man bei uns einfach die Gelben Seiten aufschlagen
würde. Wie dem auch sei, der Gast aus dem Ausland wird selten an einer
georgischen Tafel sitzen, zu der der Gastgeber nicht weitere Gäste
geladen hätte.
Der Tamada hat das Wort
Nachdem endlich die Gäste an der Tafel Platz genommen haben, beginnt
das Vorspiel. Keine Tafel ohne Tamada, den traditionellen Tischführer.
Er wird demokratisch gewählt, Vorschläge können gemacht werden, und
natürlich muß es der würdigste der ganzen Gesellschaft sein, nicht
unbedingt der Hausherr. Im Gegenteil, manche Gastgeber rechnen es
sich als große Ehre an, wenn ein Freund, der bekannt ist als guter
Tamada, die ehrenvolle Aufgabe übernimmt. Vorsorglich hat der Gastgeber
schon beim Zusammenstellen der Gästeliste dafür Sorge getragen, daß
bei entsprechender Gelegenheit in der tamadalosen Tischgruppe einer,
der entsprechende Autorität besitzt, demjenigen zuprostet, der für
diese Aufgabe auserkoren wurde: "Tamadas gaumardschoss"
- "Auf das Wohl des Tamada." Und alle, die eben noch heftig
darum gerungen hatten, wer denn am würdigsten für die verantwortungsvolle
Aufgabe sei, stimmen ein: "Tamadas gaumardschoss", wonach
zur Bekräftigung der Wahl das erste Glas des Abends zu leeren ist.
Hier sollten wir dem Kaukasus-Neuling noch einen praktischen Tip mit
auf den Weg geben: Da der Aufforderung des Tamadas unbedingt Folge
zu leisten und, seinen Trinksprüchen folgend, auch das Glas zu erheben
und zu leeren ist, kann sich dies bei einem fleißigen Tischführer
im Laufe des Abends zu einem recht ordentlichen Quantum an Alkohol
summieren. Daher hat es sich bewährt, das Wein- oder Kognakglas nur
dann anzufassen, wenn der Tamada ausdrücklich zu einem Trinkspruch
aufruft. Eventuelle Durstanfälle in der Zwischenzeit sollte man mit
besser mit Mineralwasser oder Limonade bekämpfen. Denn vor jedem Trinkspruch
wird das Weinglas ganz gefüllt, und man muß bei bestimmten Trinksprüchen
immer damit rechnen, daß der Tamada "bolomde" anordnet,
was nichts anderes heißt als "ex" und für den Gast bedeutet,
das Glas bis auf den Grund zu leeren. Außerdem sollte man besser der
Versuchung widerstehen, neben Wein auch Hochprozentiges wie Wodka
oder Kognak zu probieren. Sortenrein und diszipliniert hingegen läßt
sich jedes noch so ausgiebige georgische Gastmahl unbeschadet überstehen.
Denn es gibt nichts, was Georgier mehr verachten, als betrunken und
unkontrolliert vom Tisch aufzustehen.
Nach der Wahl des Tamada, dem einzig demokratischen Akt der Veranstaltung,
wird es autokratisch. Nachdem er sich artig für die Wahl bedankt hat,
indem er das Ende aller Gratulationstoasts abwartet, bevor er sein
Glas ebenfalls bis zur Neige leert, bestimmt er die Reihenfolge der
Trinksprüche. Er erteilt jeweils einem Redner das Wort, und seinen
Anweisungen, meist in launiger Form vorgetragen, ist Folge zu leisten.
Der Tamada ist der absolute Herr des Abends, der nicht selten, vor
allem wenn es sich um weniger traditionelle Gesellschaften handelt,
in einer Art Diktatur des Tamadariats gipfelt.
Eine gesittete Tafel erkennt man auch an den Weingläsern. Meist sind
es kleine Gläschen, nicht viel größer als unsere Weinprobiergläser,
denn ein traditionelles georgisches Gastmahl hat nichts zu tun mit
einem sinnlosen Besäufnis, auch wenn manche Gäste heute den Eindruck
gewinnen, es sei charakterisiert durch maßlose Schluckorgien. Der
erste Toast ist besonders bedeutsam. In Westgeorgien gilt er immer
dem Frieden, im Osten meist der Familie des Gastgebers, sofern dieser
nicht selbst zum Tamada bestimmt wurde. Die weiteren Sprüche folgen
einem festen Ritual und gelten nach Frieden und Gastgeber in der Regel
den Gästen, deretwegen die Tafel veranstaltet wurde, dann zum ersten,
aber bestimmt nicht zum letzten Mal Georgien und dem Herkunftsland
der Gäste. Keine Tafel auch ohne mindestens einen Trinkspruch auf
die Frauen, die Eltern, die Vorfahren, die Verstorbenen, auf den dann
zwangsläufig ein weiterer auf die Kinder und die Zukunft des Landes
folgt. Gerne gedenkt man dabei auch der Liebe, der Freundschaft und
natürlich des Heiligen Georgs, des Schutz- und Namenspatrons von Georgien.
Nicht selten nutzt der Tamada auch die Gelegenheit, um reihum jeden
Teilnehmer in Form eines Trinkspruchs dem fremden Gast vorzustellen,
eine schöne Sitte, vor allem in kleinerer Runde. Denn jeder steht
einmal im Mittelpunkt, und jeder erfährt etwas vom anderen. Jeder
Trinkspruch wiederum hat seine feste Regel. Der Tamada gibt ein Thema
vor, und jeder am Tisch ist aufgefordert, es mit ein paar Sätzen aufzugreifen
und möglichst geistreich fortzuspinnen, bevor er sein Glas leert;
ein anderes Thema anzuschneiden ist strengstens verboten.
Hier wäre ein zweiter praktischer Tip angebracht: Man muß bei einer
Trinkspruchsequenz nur einmal trinken, nicht jedes Mal, wenn einer
aus der Tafelrunde das Glas erhebt. Man wartet, bis man sich in der
bald erkennbaren Hierarchie mit einem kleinen Ergänzungsspruch auf
den Toast des Tamadas einreihen kann, steht auf, spricht ihn und leert
sein Glas. Ganz besonders wichtig ist dies, wenn man selbst Gegenstand
des Trinkspruchs ist. Wenn der Tamada danach sein Glas leert, muß
der Geehrte nicht sofort trinken, wie man es bei uns gewohnt ist,
sondern wird zunächst aufmerksam lauschen, bis jedes Mitglied der
Tafel seinen persönlichen Spruch ausgebracht hat. Dann erst ist es
für ihn an der Zeit, aufzustehen, sich kurz für die Gesamtheit aller
Trinksprüche zu bedanken und dann erst sein Glas Wein zu trinken -
natürlich "bolomde", egal wie groß es ist.
"Bolomde" muß übrigens getrunken werden auf Frauen, auf
den Frieden, die Verstorbenen und die Liebe, egal ob dies vom Tamada
angeordnet wurde oder nicht. Dieser darf für gewisse Trinksprüche
auch spezielle Gläser vom Hausherrn anfordern. Jeder georgische Haushalt
besitzt dafür ein ganzes Arsenal an geeigneten Gefäßen, die alle ein
größeres Fassungsvermögen haben als normale Weingläser, als da wären
Tonschalen, Trinkhörner, Tonamphoren, die man wegen ihres spitz zulaufenden
Bodens nicht abstellen kann, große Gläser und vieles mehr. In besonders
turbulenter Runde mußte ich schon aus Lampenschalen, Fleischwölfen
oder bei einer Tafel von Militärärzten sogar aus einem eigens hierfür
aus dem Spitalbestand ausgemusterten Klistier trinken. Der Phantasie
des Tamada, so eindimensional sie ansonsten auch sein mag, sind hier
keine Grenzen gesetzt.
Eine Veranstaltung wie diese verhindert jegliche individuelle Kommunikation,
wie man sie bei uns gewohnt ist. Wer bei einem Gastmahl tiefschürfende
Zwiegespräche zu führen versucht, ist fehl am Platze, und der Tamada
wird ihn schon bald den Regeln entsprechend zur Ordnung rufen. Trotzdem
kann das ganze durchaus unterhaltsam und intellektuell anregend verlaufen.
Es hängt einzig und allein vom Tamada ab, ob er die funktionärstypischen
Routinesprüche, die man immer wieder zu hören bekommt, mechanisch
herunterbetet oder ob er, der Atmosphäre und Zusammensetzung der Runde
entsprechend, kreativ, witzig und geistreich agiert. In diesem Fall
kann ein georgischer Tisch, der nichts anderes ist als eine dramatische
Inszenierung, wirklich viel Spaß machen.
Natürlich dominieren die Männer das Ritual, während die Mädchen und
Frauen eines Haushaltes für Küche und Bewirtung zuständig sind. So
kommt es nicht selten vor, daß eine erwachsene Tochter von über 20
Jahren ohne Murren ihren 15jährigen Bruder, der selbstredend mit an
den Tisch gebeten wurde, den ganzen Abend bedient. Daraus jedoch allgemein
auf die inneren Strukturen der georgischen Gesellschaft schließen
zu wollen, wäre fatal. Nur in der Inszenierung, nur auf der gesellschaftlichen
Bühne dominieren die Männer unangefochten, hinter den Kulissen, das
weiß jeder, sieht es dagegen anders aus. Selbstverständlich gehört
es zu den Regeln eines georgischen Tisches, daß auch die guten Hausgeister
hinter der Bühne mit einem Trinkspruch geehrt werden.
Derartige Gastmähler werden auch gerne zur Anbahnung von Geschäften
veranstaltet. Nach wie vor liebt man es hierzulande nicht übermäßig,
in Geschäftsdingen direkt aufeinander zuzugehen. Der Georgier ziehen
es - wie übrigens alle Kaukasier - vor, Ziele weitläufig zu umkreisen,
um dann nahezu unvermutet, jedoch nicht ohne eigenes Zutun, doch noch
am Ziel anzukommen. Um geschäftlich miteinander zu verhandeln, muß
erst eine gewisse Vertrauensbasis hergestellt werden. Freundschaft,
so wird immer wieder betont, stehe vor jedem Geschäft, und Freundschaften
werden vor allem beim gemeinsamen Tafeln angebahnt. Damit knüpft man
sich ein in ein Beziehungsgeflecht, ohne das Geschäfte hierzulande
praktisch unmöglich sind. Dies mag für uns, die wir gewohnt sind,
ein Ziel möglichst auf direktem Wege anzusteuern und Geschäfte als
Aktionen zum gegenseitigen Vorteil der Partner zu definieren, etwas
umständlich klingen. Schließlich kann durchaus vorkommen, daß man
mehrere Gastmähler absolvieren muß, bis man den angestrebten Kontakt
knüpfen kann, bis man, in unserer zielgerichteten Sprache gesprochen,
zum Entscheidungsträger vordringt.
Der georgische Tisch mit seinen stereotypen Ritualen ist ein Abbild
der kaukasischen Art zu leben, Handel zu treiben und Geschäfte zu
machen. Entspricht dies nicht eher orientalischem als westlichem Lebensgefühl?
Selten scheint uns Europa so fern und der Orient so nahe wie in Georgien,
wie man auch beim Stadtrundgang in Tbilissi erkennen kann, selten
aber auch ist uns die Ferne so vertraut wie in diesem Land, das selbst
demjenigen, der über Jahre und gar Jahrzehnte hier lebt, in gewisser
Weise ein Rätsel bleiben wird. So ganz wird man es wohl nie durchschauen.
Kaum eine georgische Tafel, an der nicht gesungen würde, und kaum
eine georgische Wohnstube, in der nicht ein Klavier oder gar einen
Flügel steht - zumindest beim Großbürgertum von Tbilissi, das nach
wie vor in der Gesellschaft Georgiens den Ton angibt. Georgier singen
viel, wenn sie zusammensitzen, und sie singen gut, besonders die traditionellen
polyphonen Lieder, die hin und wieder angestimmt werden, wenn genügend
stimmkräftige Männer, mindestens sieben oder acht Burschen, beisammensitzen.
Dabei fängt einer an zu improvisieren, und die anderen fallen mit
ihren Baß- und Tenorstimmen ein - man muß es einfach selbst hören.
Wenn sich bei einem georgischen Gastmahl die allgemeinen Auflösungserscheinungen
nicht mehr übersehen lassen, wird es beendet, indem einer aus der
Runde dem Tamada mit einem abschließenden Trinkspruch für seine Dienste
dankt: "Tamadass gaumardschoss!". Erst wenn auch die anderen
Gäste sein Amt mit einem Dankestrinkspruch aufheben, ist er offiziell
entlassen: "Tamadas gaumardschoss, Sakartvelos gaumardschoss!"