Ausgabe 9/02, 19. Juni
Home            

 

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Warten auf die große Polizeiaktion

Das Pankisi-Tal - Zuflucht für Terroristen? / Von Markus Wehner
DUISI, 9. Juni. Der Weg ins Pankisi-Tal ist übersät mit Schlaglöchern, mit kleinen Seen, in denen das Wasser des Juniregens schwimmt. An zwei Kontrollpunkten, aus Sandsäcken und einem Schlagbaum erbaut, überprüfen Soldaten jeden, der hinaus- und hineinfährt. Als "Mini-Afghanistan" hat der russische Verteidigungsminister Sergej Iwanow das achtzehn Kilometer lange und vierzig Kilometer breite Tal im Nordosten Georgiens nahe der Grenze zu Tschetschenien bezeichnet. Der Minister nutzte eine Vorlage der Amerikaner und spekulierte gar, daß sich der Kopf von Al Qaida, Usama Bin Ladin, dorthin geflüchtet habe. Doch die saftigen Wiesen und bewaldeten hohen Berge erinnern in nichts an die karge und zerklüftete Landschaft am Hindukusch.

Elftausend Menschen leben im Pankisi-Tal, die Mehrheit, etwa achttausend, sind Kisten - Tschetschenen, die seit zweihundert Jahren ihre Heimat in Georgien gefunden haben. In Duisi, dem größten der siebzehn Dörfer des Tals, wohnen mehr als dreitausend von ihnen, auch in sieben weiteren Dörfern stellen sie die Mehrheit. Seit mehr als zwei Jahren haben viertausend Flüchtlinge aus Tschetschenien Zuflucht bei ihren Brüdern in Georgien gefunden - Frauen, Kinder und junge Männer, geflohen vor dem Krieg in der russischen Kaukasusrepublik, die hinter den schwer zu überwindenden Bergen des Großen Kaukasus nur achtzig Kilometer entfernt liegt.

Siebenhundert Bojewiki, wie man die tschetschenischen Kämpfer nennt, hielten sich im Tal auf und etwa hundert bewaffnete Araber, hat der georgische Sicherheitsminister Walerian Charburdsania in Tiflis dieser Zeitung gesagt. Im Tal gebe es einen regen Rauschgift- und Waffenschmuggel, kriminelle Banden trieben ihr Unwesen. Man sei, um mit dem Problem fertig zu werden, auf die Hilfe der Amerikaner angewiesen. Im Rahmen ihres Militärhilfeprogramms trainieren seit dem 27. Mai derzeit siebzig amerikanische Ausbilder auf einem Stützpunkt in der Nähe von Tiflis georgische Einheiten im Anti-Terror-Kampf.

Der Bürgermeister von Duisi sieht die Dinge ganz anders. "Terroristen gibt es hier nicht, und auch keine siebenhundert Kämpfer oder hundert Araber. Wenn es so wäre, wüßten es alle", sagt er. Ja, die islamischen Hilfsorganisationen aus Arabien hätten im Tal Gutes getan, sie hätten den Flüchtlingen Vieh gekauft und Lebensmittel gebracht und sogar geholfen, Diebe zu fangen. Zusammen mit der Bevölkerung hätten diese Wahhabiten eine Moschee gebaut, daran sei doch nichts auszusetzen. Auch die Kriminalität sei kein größeres Problem als in anderen Regionen des von Armut und Korruption geprägten Georgiens. Einige Politiker in Rußland, aber auch in Tiflis seien offenbar daran interessiert, die Lage im Tal künstlich hochzuspielen.

Die Wahrheit ist im Kaukasus, wo jeder gegen jeden spielt und Verschwörungstheorien stündlich gedeihen, nur schwer zu erfahren. Im Pankisi-Tal, wo die Geheimdienste von mindestens acht Ländern tätig sind, ist ein solches Unterfangen noch schwerer als andernorts. Den größten Einfluß haben unter diesen Diensten immer noch die Russen - sowohl der FSB als auch der Militärgeheimdienst GRU sind hier tätig, nicht immer Hand in Hand. Um zu erkennen, daß die Lage kaum so rosig ist, wie der Bürgermeister sie malen will, reicht freilich ein Blick auf die Straßen von Duisi oder Tschokolo, dem nächsten Ort im Tal. Unter den jungen Männern, die hier am Straßenrand stehen, tragen einzelne die Tarnuniformen der tschetschenischen Kämpfer. Ein Mann mit dem typischen schwarzen Vollbart, wie ihn die Wahhabiten tragen, verschwindet schnell in einem Hauseingang.

Die von einer arabischen Hilfsorganisation in Duisi erbaute Moschee ist ein Prunkbau, der sich kraß von den ärmlichen Häusern abhebt, in denen die einheimischen Kisten und die Flüchtlinge leben. Das Geld, das diese Moschee gekostet haben muß, hätte wohl ausgereicht, um den Flüchtlingen in Duisi menschenwürdige Unterkünfte zu bauen. Die Moschee zu besuchen wird von David, dem begleitenden georgischen Geheimdienstmann, untersagt. Das könne zu Ärger führen, man habe so seine Erfahrungen. Offenbar soll nicht bekanntwerden, daß hier ein arabischer Mullah residiert. Auch die anderen beiden Moscheen im Tal seien längst in der Hand der Wahhabiten, sagt ein Kenner des Tals in Tiflis; die Geistlichen des traditionellen Islams seien vertrieben worden. "Die Wahhabiten haben dank der Finanzierung aus dem Ausland und ihrer Waffen den Kampf mit dem traditionellen Islam im Pankisi-Tal längst gewonnen."

Tatsächlich sollen arabische islamistische Organisationen, deren Emissäre zwischen Kabul und dem Kaukasus unterwegs waren, versucht haben, im Pankisi-Tal eine Basis aufzubauen. Zu ihnen gehörten Leute der "Muslimbrüder", auch solche des bekannten Islamisten Al Dagestani, mit bürgerlichem Namen Bagautdin Magomedow, und diverse islamische Wohlfahrtsorganisationen, hinter denen vermutlich die Geheimdienste arabischer Länder stehen. Nach dem 11. September haben sie das Pankisi-Tal verlassen. Man sei nicht bereit, diesen fremden Glauben anzunehmen, sagt ein alter Mann in Tschokolo. Doch offenbar haben die Wahhabiten in dem Tal, in dem es neben einer weitgehend brachliegenden Landwirtschaft keine Arbeit gibt, unter den jungen Leuten zahlreiche Anhänger. Knapp ein Drittel der Flüchtlinge haben früher schon hier gelebt, bevor sie nach Tschetschenien, vor allem nach Grosnyj, umgezogen sind. Manche haben dort in der Zeit der faktischen Unabhängigkeit von Itschkerija, wie die Tschetschenen ihre Republik nennen, Mitte der neunziger Jahre den aus Arabien importierten radikalen Islam angenommen.

Das größte Problem des Tales sind aber die kriminellen Gruppen, die hier dem Rauschgift- und Waffenschmuggel nachgehen, immer wieder Menschen entführen. Sie setzen sich aus Tschetschenen, örtlichen Kisten und Georgiern zusammen, die vor der Strafverfolgung in das vom Staat nicht kontrollierte Tal geflohen sind. Ihre genaue Zahl ist unbekannt, doch soll es sich um fünf oder sechs kriminelle Banden handeln, die miteinander konkurrieren und die jeweils zwischen zehn und vierzig Mitglieder zählen. Zu ihren Anführern gehören ein ehemaliger tschetschenischer Feldkommandeur, ein muslimischer Georgier und mehrere einheimische Kisten. Der Sicherheitsminister in Tiflis gibt zu, daß das ertragreiche Geschäft mit Rauschgift und Waffen nicht möglich wäre, wenn nicht führende Personen aus der georgischen Polizei und Armee daran beteiligt seien.

Tschetschenische Kämpfer, die ständig unter Waffen stehen, gibt es kaum in der vom Sicherheitsminister genannten Größenordnung. In die Berge des Tals hat sich der tschetschenische Feldkommandeur Ruslan Gelajew, der selbst den Wahhabismus ablehnt, zurückgezogen, mit etwa siebzig Kämpfern, unter ihnen auch acht bis zehn Araber und türkische Staatsangehörige. Die Lage dieser Kämpfer hat sich in den vergangenen Monaten deutlich verschlechtert. Die internationale Aufmerksamkeit, die das Pankisi-Tal plötzlich durch die Behauptung, hier hätten sich Kämpfer von Al Qaida versteckt, erfahren hat, hat ihre Handlungsoptionen eingeschränkt. Die kriminellen Gruppen gefährden den Ort als Rückzugsgebiet für die Bojewiki. Hinzu kommt der Tod des aus Saudi-Arabien stammenden Islamisten Al Chattab, über den die Finanzströme arabischer Organisationen nach Tschetschenien liefen. Chattab ist kürzlich in Tschetschenien durch einen vom russischen Geheimdienst FSB angeworbenen Agenten getötet worden, der ihm einen vergifteten Brief überreichte. Georgien hat zudem begonnen, Einreise und Aufenthalt arabischer Personen strenger zu überwachen, die zum Teil mit Pässen europäischer Länder, darunter auch Deutschland, ins Land gekommen waren. Im Januar wurden mehr als sechzig Araber und Türken aus Georgien ausgewiesen, die sich zum Teil im Pankisi-Tal, zum Teil in Tiflis und anderen Orten des Landes aufgehalten hatten.

Die tschetschenischen Flüchtlinge im Pankisi-Tal wollen nicht in ihre Heimat zurück, solange dort Menschen verschwinden und getötet werden. Sie erzählen von den gleichen Greueltaten der russischen Soldateska, wie man sie in den Flüchtlingslagern in Inguschien oder in Tschetschenien selbst zu hören bekommt. Sie fürchten sich vor den Filtrationslagern und den "Säuberungen" der Russen, berichten von Verwandten und Bekannten, die ihre Rückkehr nach Tschetschenien mit dem Tode bezahlten. Sie sind Georgien und seinem Präsidenten Schewardnadse dankbar. Als einziger ausländischer Staat hat das überwiegend christliche Nachbarland sie aufgenommen und ihnen den Status von Flüchtlingen zuerkannt. Sie sind verbittert über Rußland, das einen Genozid an ihrem Volk betreibe, und über den Westen, der Präsident Putin zu hofieren begonnen habe. Die Bewaffneten in den Bergen nennen die Flüchtlinge "Kämpfer für den Frieden", und die mutigsten verschweigen nicht, daß man ihnen hilft und die Verletzten pflegt.

Als die Flüchtlinge kamen, haben die Kisten sie aufgenommen, in den Wohnungen lebten sechs, acht Menschen in einem Zimmer. Nun überleben die Tschetschenen weiter im Pankisi-Tal, zu viert, fünft oder sechst in einem Raum, in Kindergärten oder Schulen, mit Lebensmittelmarken des UNHCR, des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen, das ihnen einmal in zwei Monaten zwei Dutzend Kilo Mehl und einige Liter Sonnenblumenöl bringt. Manche fürchten, daß sie das Tal verlassen müßten, sollte hier eine Polizeiaktion beginnen.

In Tiflis ist es ein offenes Geheimnis, daß diese Aktion kommen wird. Daß der Sicherheitsminister die Lage im Tal in dramatischen Farben malt, dient offenbar der propagandistischen Vorbereitung für einen Einsatz der georgischen Sicherheitskräfte im Pankisi-Tal. Doch noch ist es nicht soweit. "Georgien hat derzeit weder die finanziellen Mittel noch die militärischen Kräfte, um das Tal zu kontrollieren", so der Sicherheitsminister. Man sei daher auf die Hilfe der Amerikaner angewiesen. Freilich ist das Tal so klein, daß selbst die äußerst schwache georgische Armee, die 20 000 Mann zählt, es einnehmen könnte. Das Ergebnis wäre freilich ein Blutvergießen, unter dem auch Unbeteiligte zu leiden hätten. Was man in Tiflis für nötig hält, ist eine schnelle, gezielte Operation geschulter Anti-Terror-Kräfte, deren Ausbildung die Amerikaner nun begonnen haben. "Noch ist es möglich", sagt ein Kenner des Tals in Tiflis, "eine Aktion gegen die kriminellen Banden zu führen, die die Bevölkerung gutheißen würde." Doch die Zeit drängt, gibt man zu verstehen. Sollte sich die Lage im Tal an der Grenze zu Tschetschenien zuspitzen, so sei ein Militäreinsatz der Amerikaner möglich, sagt der Sicherheitsminister.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.06.2002, Nr. 131 / Seite 3


 

 

 

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

ERKA-Verlag ©2002