Polyglotter Kindergarten
Spiegel-Artikel vom 22.3. über die Situation in Georgien vor
der Parlamentswahl
Kurz vor der Parlamentswahl besteht der junge Präsident
Saakaschwili seine Bewährungsprobe: Ein Bürgerkrieg
scheint vorerst abgewendet. Tagelang standen hinter der Nato-Außengrenze
die Zeichen auf Krieg. Vor palmenumsäumten Gründerzeitbauten
in Batumi, der Rebellen-Hochburg am Schwarzen Meer, patrouillierten
mit Kalaschnikows bewaffnete Freiwillige. Die "Selbstverteidigungseinheiten"
der Rebellen-Provinz Adscharien am Südrand Georgiens, unweit
der türkischen Grenze, waren ausgerückt. Adschariens
Innenminister Dschemal Gogitidse hatte seine Landsleute aufgerufen,
ihre "Häuser zu verteidigen", sollte die Zentralmacht
einmarschieren. Der neue Präsident in Tiflis, Micheil Saakaschwili,
sei schließlich "unberechenbar".
Der Konflikt zwischen Adschariens überwiegend muslimischer
Bevölkerung, einer Minderheit im vorwiegend christlichen
Georgien, und den Machthabern in der Hauptstadt spitzte sich vergangene
Woche bis an den Rand des Bürgerkriegs zu, weil die Adscharen
an der Grenze ihres Sprengels Mitte März Panzerwagen und
Gardisten auffahren ließen und Georgiens Präsident
die Einreise zu einer Wahlkampfkundgebung verwehrten. Gegen den
Innenminister wie gegen neun weitere adscharische Amtsträger
lief zeitweilig ein Verfahren wegen Hochverrats. Gerüchte
über Anschläge und Attentatsdrohungen machten die Runde.
Die Amerikaner, die mit Militärausbildern in Georgien sind,
riefen zur Besonnenheit auf. Die Russen, die noch aus Sowjetzeiten
Truppen in Adscharien haben, feuerten aus Panzern - angeblich
zu Übungszwecken. Erst nachdem sich Georgiens Präsident
Saakaschwili und der Adscharien-Patriarch Aslan Abaschidse am
Donnerstag drei Stunden gegenübersaßen, beruhigte sich
die Lage vorübergehend. Bewaffnete Milizen zeigten sich aber
auch am Freitag wieder. Die Grenze zum Rest Georgiens ist erneut
geschlossen.
Die "Autonome Republik Adscharien", staatsrechtlich
ein Teil der Ex-Sowjetrepublik Georgien, wird de facto aber weiter
wie ein kleines Privat-Königreich regiert. Der ehemalige
Sowjetfunktionär Abaschidse stützt seine Macht über
380 000 Bürger auf Zoll- und Handelseinnahmen, auf einen
Geheimdienst alten Stils und auf die Unterstützung Moskaus.
Solange der ehemalige sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse
in Tiflis noch die Geschicke Georgiens lenkte, durfte Abaschidse
ungestört sein eigenes Spiel betreiben. Erst seit der "Rosen-Revolution"
Ende November ist es damit vorbei. Micheil Saakaschwili, mit 36
Jahren jüngster Staatschef Europas, mag keine Provinzfürsten
neben sich dulden. 96 Prozent der Stimmen entfielen im Januar
auf Saakaschwili. Westliche Politiker, amerikanische allen voran,
hinderte das nicht daran, das Spektakel als Sieg der Demokratie
zu feiern. US-Präsident George W. Bush empfing den polyglotten
Musterschüler Ende Februar im Weißen Haus und zeigte
sich danach "bezaubert" von dessen "Ansichten und
seinem Mut".
Saakaschwili ist Washingtons Wunschkandidat: Als ehemaliger Stipendiat
des US-Außenministeriums und Mitarbeiter einer auch in der
Ölbranche tätigen Kanzlei aus Manhattan bringt der Jurist
an der Spitze der Kaukasus-Republik zwischen Kaspischem und Schwarzem
Meer ausreichend Einfühlungsvermögen für amerikanische
Interessen mit. Für Überraschungen ist Saakaschwili
immer gut. Nicht nur seinen Premierminister Surab Schwanija verblüffte
er am 11. März durch die Entscheidung, die bisherige Botschafterin
Frankreichs inGeorgien zur neuen Außenministerin zu machen
- Salome Surabischwili stammt von Georgiern ab, die 1921 beim
Einmarsch der Roten Armee flohen. Die mit einem georgischen Ex-Dissidenten
verheiratete Französin werde Georgien "an europäische
Strukturen heranführen", hofft Saakaschwili. Die Chefdiplomatin,
wie der junge Präsident Absolventin der Columbia-Universität
in New York, hatte Frankreich zuvor in Italien, den USA, bei der
EU und der Nato vertreten und ist mit Frankreichs Außenminister
Dominique de Villepin befreundet. Ihr Wechsel in die georgische
Regierung sei mit Präsident Jacques Chirac abgesprochen,
versicherte der Kollege aus Tiflis. Surabischwilis Großvater
väterlicherseits war von 1918 an drei Jahre lang Minister
der Republik Georgien, die von den Bolschewiki zerschlagen wurde.
In Tiflis wird ihr, verständlich vor dem Hintergrund ihrer
Familiengeschichte, eine tiefe Skepsis gegenüber der Moskauer
Politik nachgesagt.
Inzwischen trägt "Kosmopolitismus", vom Georgier
Stalin einst im ganzen Sowjetreich geächtet, in Tiflis maßgeblich
zur Beschleunigung von Karrieren bei. Wer Praktika bei westlichen
Finanzinstitutionen oder, wie allein vier der neuen Minister,
eine Vergangenheit bei der US-Stiftung des Großspekulanten
George Soros vorweisen kann, darf schon im Alter um die 30 auf
höchste Ämter hoffen. Wirtschaftsminister Irakli Rechwiaschwili
war nach einem anderthalbjährigen Gastspiel bei der Weltbank
insgesamt vier Jahre beim Soros-Fonds. Nun steht der 28-Jährige,
der nie in einem Unternehmen gearbeitet hat, vor der Aufgabe,
die zerrüttete Ökonomie eines Landes zu sanieren, in
dem das Sozialprodukt pro Kopf gerade mal 634 Dollar im Jahr beträgt.
Schon mit Verwaltungserfahrung präsentieren sich die Minister
für Verteidigung und Staatssicherheit, 36 Jahre alt der eine,
31 der andere, mit Abschlüssen der Universitäten Groningen
und Harvard dekoriert. Viele Georgier fühlten sich neuerdings
"wie von einem Kindergarten regiert", klagt ein leitender
älterer Beamter der Präsidialverwaltung.
Wenn am Sonntag im 4,4 Millionen Einwohner zählenden Kaukasus-Staat
ein neues Parlament gewählt wird, steht indirekt auch die
Amtsführung des als Heißsporn berüchtigten Saakaschwili
zur Abstimmung. Lässt er den Provinzfürsten Abaschidse
gewähren, so verliert er selbst an Autorität. Kommt
es zum Blutvergießen, ist die Hoffnung auf wirtschaftlichen
Aufschwung in Gefahr. Während die USA in Person ihres unablässig
im Hintergrund wirkenden Botschafters Richard Miles zu vermitteln
versuchen, beobachten die Russen den Kampf um die Macht in der
kaukasischen Küstenregion scheinbar unparteiisch. Dabei verfügen
sie mit ihrer Militärbasis bei Batumi über einen entscheidenden
Hebel. "Sie glauben doch nicht wirklich, dass die Truppen
im Ernstfall neutral bleiben würden", sagt Gela Gwarischwili,
der Leiter der adscharischen Verwaltung. In einem Dossier des
russischen Militärgeheimdiensts heißt es, die Amerikaner
hofften nicht zuletzt deshalb auf einen Sturz Abaschidses durch
eine Mischung aus "kaltem Krieg" und Verhandlungsgeschick.
Käme es hingegen doch noch zum bewaffneten Konflikt, werde
Adscharien, so heißt es in Batumi, wohl den Weg der Provinzen
Abchasien und Süd-Ossetien gehen. Die sagten sich Anfang
der Neunziger in blutigen Kämpfen von Georgien los und fristen
seither, international nicht anerkannt, ein Dasein als Armenhäuser
mit angeschlossener Kaserne. UWE KLUSSMANN
Anmerkungen der GN-Redaktion zu diesem Artikel:
Den Bemerkungen über Saakaschwilis Kindergarten-Kabinett
und seine selbstherrliche Art, das Land zu regieren, kann kaum
widersprochen werden. Die Spiegel-Darstellung der Vorgänge
in und um Adscharien verbiegen die realen politischen Probleme
Georgiens mit seiner Schwarzmeerprovinz jedoch zu einer trivialen
Räuberposse. Nahezu nichts davon entspricht der Wirklichkeit.
Batumi ist keine "Rebellen-Hochburg", Adscharien keine
"Rebellen-Provinz". Noch viel weniger handelt es sich
um einen "Konflikt der überwiegend muslischen Bevölkerung
Adschariens mit den Machthabern in der Hauptstadt des überwiegend
christlichen Georgiens". Es geht einzig und allein darum,
wie lange Tbilissi und die überwiegende Mehrheit der adscharischen
Bevölkerung, die nachweislich nicht hinter Aslan Abaschidse
steht, sich dessen absurde Diktatur, mit der er seine Provinz
ausbeutet, noch gefallen lassen müssen. Dass er dazu bezahlte
Bauern aus den Bergen Adschariens mit Waffen ausrüsten und
in Batumi und Choloki (Verwaltungsgrenze Adschariens) aufmarschieren
ließ, hat mit einem drohenden Bürgerkriegsszenario,
wie im Spiegel beschrieben, nichts zu tun. Hinter den wechselseitig
aufgebauten Drohkulissen verhandeln beide Seiten seit Wochen über
die Modalitäten des Abgangs Abaschidses, der selbst zu wissen
scheint, dass seine Zeit abgelaufen ist. Mit einer sorgfältigen
Recherche vor Ort hätte man dies herausfiltern, seriöser
darstellen und auf die Versatzstücke einer Seifenoper verzichten
können. Dass Adscharien den Weg Abchasiens und Süd-Ossetiens
gehen könnte und dass sich das russische Militär auf
Seiten Abaschidses einmischen könnte, ist nach allem, was
man in diplomatischen Kreisen in Tbilissi recherchieren kann,
ein Hirngespinst, an das nicht einmal mehr Abaschidse selbst glauben
kann. Trotzdem lässt er seine Leute diese Szenarien mediengerecht
aufbauen. Und der Spiegel druckt treu und brav ab. Räuberpossen
schreiben und lesen sich eben leichter als seriöse Analysen.
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