Die Legende von der samtenen Revolution, der Rosenrevolution, an
der ihre Matadore fleißig stricken, ist bereits rund um die
Welt gegangen. Georgien und der Kaukasus, eigentlich Synonyme für
Gewalt, Schiessereien und Blutvergießen, können sich
urplötzlich mit dem Etikett friedliebender demokratischer Gesinnung
schmücken. Keine Frage, dass die innenpolitische Krise gewaltfrei
beendet werden konnte, ist ein Kapital, das der jungen und fragilen
Demokratie noch in Jahren zugute kommen kann. Opposition wie Staatsorgane
haben eine demokratische Reife bewiesen, der sich letzten Endes
auch der Staatschef, der halsstarrig an seinem Amte klebte, nicht
mehr entziehen konnte. An den Tagen im November 2003 kann sich eine
neue Generation demokratischer Politiker aufrichten, wenn es sie
denn gibt.
Trotzdem bleibt die Frage, ob das wirklich eine Revolution war
oder nur ein nicht ganz normaler Machtwechsel, einer, der angesichts
des politischen Urgesteins, das da zu bewegen war, nur einer besonders
dramatischen Inszenierung bedurfte. Während die Medien der
Welt gleichermaßen begierig wie unkritisch die Begriffe
von der unkontrollierbaren Lage, dem drohenden Bürgerkrieg
und dem Staatsnotstand in ihren Schlagzeilen übernahmen,
sah die Situation in Georgien während der letzten Tage ganz
anders aus. Ein Bürgerkrieg war niemals ein ernsthaft zu
erwartendes Szenario. Denn, im Gegensatz zu früheren Zeiten,
hatte die Opposition nicht eine Sekunde lang die Option, militärische
Gewalt einsetzen zu können. Und dieses alleine ist eine Voraussetzung
für einen Bürgerkrieg. Das Machtmonopol lag einzig und
allein beim Staat, es war lediglich die Frage, ob - und wenn ja
wie - dieser von seinem Gewaltpotential Gebrauch machen würde.
Und es war die Frage, ob sich die notorisch unterbezahlten Soldaten
einem etwaigen Befehl, auf ihre Nachbarn, Freunde und Verwandte
zu schießen, nicht letztendlich sogar verweigern würden,
wenn denn jemand - Schewardnadse eingeschlossen - überhaupt
daran gedacht hätte, einen solchen Befehl zu geben.
Eduard Schewardnadse, der mit der Ankündigung von Bürgerkriegszuständen
Assoziationen an die Zeit während und nach des Putsches gegen
Gamsachurdia wecken wollte, muss dies ebenso gewusst haben wie
dem Verteidigungsminister klar gewesen sein muss, dass seine Lagebeurteilung
- "außer Kontrolle" -eine reine Zweckbehauptung
war, um den Zulauf an Demonstranten, den die Opposition zu organisieren
begann, aufzuhalten. Dass die georgische Armee, wie sich später
nach der Notstandserklärung des Präsidenten zeigen sollte,
nicht eine Minute gewillt war, sich in den Machtkampf Saakaschwili-Schewardnadse
hineinziehen zu lassen, war jedem, der sich nur einigermaßen
im Lande auskannte, schon früher klar. Beide Zitate aber
wurden von den Leitartiklern der Welt ungeprüft übernommen
und als Wahrheit verkauft, wobei man oft genug noch nicht einmal
die Quelle der Information nannte, eine Quelle, der an der Inszenierung
von Furchtszenarien in der Bevölkerung gelegen war.
Bürgerkrieg war niemals eine Option
Tatsache war, dass die Opposition bis zu Beginn der entscheidenden
Woche nicht wirklich in der Lage schien, ihr Ziel, den Rücktritt
von Schewardnadse, auch tatsächlich durchzusetzen. Pünktlich
zum vergangenen Wochenende nämlich hatte man die Demonstranten
zur Erholung nach Hause geschickt und den Platz vor dem Parlament
geräumt, auf dem sich dann kurze Zeit später der Provinz-Napoleon
aus Adscharien mit seinen als Zivilisten verkleideten Polizisten
breit machen konnte. Dieser versuchte in unsäglichen Video-Clips
des adscharischen Fernsehens Michael Saakaschwili mit Hitler gleichzusetzen,
während einer seiner Recken gar anregte, den Geisteszustand
des Oppositionsführers untersuchen zu lassen. Wie unverfroren
sich Aslan Abaschidse ins Zentrum der Macht Georgiens zu spielen
trachtete, mit welch wichtigtuerischer Eitelkeit er Eduard Schewardnadse
zu einer Jubelfeier in Batumi empfangen und im dicken Daimler
höchstpersönlich kutschiert hatte, musste in den Polit-Eliten
der Hauptstadt die Alarmglocken schrillen lassen. Dass er sich
dann auch noch zu politischen Gesprächen mit den wirklich
Großen der Nachbarstaaten Georgiens aufmachte und damit
seinen Anspruch, Georgien nach außen vertreten zu können,
inszenierte, das alles hat wohl dazu beigetragen, dass sich die
Opposition zu ihrem entscheidenden Schlag am vergangenen Wochenende
formieren konnte. Schewardnadse hat, wie man weiß, Aslan
Abaschidse nicht dazu ermächtigt, im Ausland um Unterstützung
nachzusuchen, konnte aber den Ausflug des Batumi-Potentaten in
die große Welt der Diplomatie nicht bremsen. Und wie man
auch weiß, war das Ergebnis der Reisediplomatie des Mannes
aus der Schwarzmeerprovinz alles andere als erfolgreich: Außer
Spesen nichts gewesen. Die drei Nachbarn Georgiens erklärten
deutlich genug, sich nicht in die inneren Machtkämpfe des
Landes einmischen zu wollen, mahnten aber gleichzeitig eine friedliche
Lösung des Konfliktes an.
Es ist nicht allzu gewagt, wenn man vermutet, dass Teilen der
Staatsverwaltung in Tbilissi die Aussicht, einem Präsidenten
zu dienen, der vom launischen und willkürlichen Aslan Abaschidse
abhängig ist, als das weitaus größere Übel
erschien als eine Republik ohne Schewardnadse und unter der Führung
von Saakaschwili und Schwania, die ihrerseits ja lange genug Teil
der Macht- und Verwaltungsstrukturen des Landes waren. Eine richtige
Opposition waren sie nie, vor allem Schwania darf man nach wie
vor ausgezeichnete Kontakte bis in die inneren Zirkel der Staatsmacht
unterstellen. Es gibt nicht wenige aus der Schar der höheren
Beamten, die verbal zwar ausgewogen formulierend auf der Seite
des Präsidenten standen, in Wirklichkeit aber längst
zum Team Schwanias zu zählen waren und nichts sehnlicher
herbeiwünschten, als einen Abgang Schewardnadses. Damit standen
sie nicht unbedingt bedingungslos hinter Michael Saakaschwili,
ihr Mann ist Schwania. Es gab nach dem bedingungslosen Vorpreschen
des Populisten nur keine andere Option mehr. Das ist - heute schon
erkennbar - eine Sollbruchstelle der Rosen-Koalition. Es bleibt
abzuwarten, wie lange das Bündnis zwischen den ungleichen
Vormännern der Revolution hält. Zumindest in den ersten
Tagen danach scheint es, als wüssten sie zu genau, dass sie
nur gemeinsam und gemeinsam mit den vorhandenen Verwaltungsstrukturen
die Probleme des Landes werden angehen können. In den zwei
Tagen nach dem unblutigen Putsch haben alle drei an Statur gewonnen,
auch das alte Parlament, das sich am Dienstag erstaunlich unaufgeregt
getroffen und die notwendigen Beschlüsse für Neuwahlen
abgesegnet hat.
Revolution oder Machtwechsel?
Aufgrund dieser Konstellation kann man die Ereignisse der letzten
Tage im Kern auch nicht als eine politische Umwälzung oder
Revolution bezeichnen. Da hat nun wirklich nicht das Volk eine
ganze Machtelite zum Teufel gejagt, wie man aufgrund der Fernsehbilder
glauben könne, die um die Welt gingen. Die sogenannte Opposition
hatte es ja anfangs wirklich schwer, Menschenmassen auf die Straße
zu bringen. Kurz nach den Wahlen stand die überwiegende Mehrheit
der Georgier dem Parteien-Streit um die Manipulationen der Wahlen
eher gleichgültig gegenüber. Um den ging es in der vergangenen
Woche längst nicht mehr. Es ging nur noch um eines: Schewardnadse
klar zu machen, dass seine Zeit jetzt endgültig abgelaufen
ist. Saakaschwili wird von David Gamkrelidze, dem Führer
der Neuen Rechten, der ihn auf die Gefahren seines Spiels mit
dem Feuer aufmerksam machte, mit der Antwort zitiert, er habe
keine andere Chance, Schewardnadse los zu werden als diese.
Das genau war nicht einfach, denn der Alte hatte sich mit Beratern
umgeben, die alles andere taten als ihm die reale Lage zu vermitteln.
Schewardnadse würde, das war am Sonntag Nachmittag an seinen
letzten Entscheidungen noch zu erkennen, erst nachgeben, wenn
ihm die Aussichtslosigkeit seines Unterfangens klar gemacht würde.
Und dazu bedurfte es einer dramaturgisch geschickt inszenierten
Steigerung der Spannungskurve.
Es waren vermutlich die Signale aus dem Staatsapparat heraus,
die der Opposition den entscheidenden Schlag am vergangenen Samstag
erlaubten. Zunächst kritisierte einer der engsten Berater
Schewardnadses, Lewan Alexidse, den Präsidenten und wies
ihm die Verantwortung für die Wahlmanipulationen zu. Später
war Alexidse einer ersten, der zu Nino Burdschanadse übergelaufen
war und ihr als Fachmann für internationals Recht in Schewardnadses
Team die Legitimität bescheinigte, als interimistisches Staatsoberhaupt
zu handeln. Weitere spektakuläre Rücktritte zeigten,
dass die Machtbasis Schewardnadses im eigenen Apparat zu bröckeln
begann: Der Direktor des staatlichen TV-Kanals Zaza Schengelia
trat zurück aus Protest gegen den Druck Schewardnadses, die
Berichterstattung den Zielen des Präsidenten unterzuordnen.
Kurze Zeit später folgte Sesili Gogeberidse, die Kultusministerin
und Ehefrau des TV-Managers. Der stellvertretende Generalstaatsanwalt,
Ehemann von Nino Burdschanadse, reichte seine Demission ein, weil
er der Anweisung der Staatskanzlei nur gegen Angehörige der
Opposition wegen Wahlbetrugs zu ermitteln zu sollen und nicht
gegen Regierungsmitglieder nicht länger mittragen wollte.
Signal der Sicherheitsorgane
Den entscheidenden Schlag erhielt Schewardnadse allerdings am
Freitag Nachmittag. Ausgerechnet Tedo Tschaparidse, als Sekretär
des Nationalen Sicherheitsrates einer seiner engsten Vertrauten,
war der erste hohe Offizielle, der sich öffentlich von Schewardnadse
distanzierte, indem er massive Wahlfälschungen zugab und
Schewardnadse attestierte, von falschen Beratern in die Isolation
geführt worden zu sein. Tschaparidse erklärte zwar,
das neue Parlament müsse zusammentreten, forderte aber auf,
es als Übergangsparlament zu betrachten, das umgehend Neuwahlen
auszuschreiben habe. Tschaparidse bedauerte in dem Statement,
dass es jetzt zu einem offenen Kampf jeder gegen jeden um Macht
und Positionen gekommen sei und erklärte, dass kein Amt,
um das jetzt gerungen werde, den Preis eines einzigen Menschenlebens
rechtfertige. Dieser Satz kann nur als deutliche Aufforderung
an die Sicherheitsorgane verstanden werden, sich nicht gegen die
Bevölkerung in Stellung bringen zu lassen.
Tschaparidsee, acht Jahre lang Schewardnadses Botschafter in
Washington, werden ausgezeichnete Beziehungen zur US-Verwaltung,
insbesondere zu Condoleeza Rice, nachgesagt, ebensolche zum umtriebigen
amerikanischen Botschafter in Tbilissi. Es ist anzunehmen und
es gibt Hinweise dafür, dass Tschaparidses seinen Vorstoß
nicht ohne Rückendeckung seiner amerikanischen Freunde gemacht
hat, die wiederum, so verlautete später aus Washington während
der Vermittlervisite des russischen Außenministers Iwanow
in Tbilissi, alle Aktivitäten mit Russland abgestimmt und
Moskau die führende Rolle bei der Lösung des georgischen
Konfliktes überlassen hätten. Für diese These spricht
auch, dass Eduard Schewardnadse noch am Sonntag Nachmittag, als
sein Rücktritt nicht mehr aufzuhalten war, in einem letzten
Akt Tedo Tschaparidse absetzte, was tags darauf von Nino Burdschanadse
wieder rückgängig gemacht wurde. Am Dienstag, nachdem
der Innenminister zurückgetreten war, stand Tedo Tschaparidse
an der Seite von Nino Burdschanadse, als diese Ruben Asanidse,
einen der Stellvertreter Narchemaschwilis als dessen Nachfolger
ins Amt einführte. Tschaparidse gilt in Tbilissi übrigens
schon lange als ein Mann Schwanias, der noch über andere
Mitstreiter im engeren Machtgefüge Schewardnadses verfügen
soll. Ein Teil der georgischen Botschafter zum Beispiel zählt
zum Netzwerk Schwanias.
So konnten Saakaschwili, der Frontkämpfer, und Schwania,
der Strippenzieher im Hintergrund, am Samstag davon ausgehen,
dass einerseits einflussreiche Personen aus dem inneren Machtzirkel
Schewardnadses hinter ihnen stehen würden, wenn es zur Konfrontation
kommen sollte, bzw. sie konnten davon ausgehen, dass sich die
Sicherheitsorgane nicht in den Weg stellen würden, wenn sie
die Demonstranten, die jetzt wirklich in Zehntausenden zu zählen
waren, zum Marsch auf Parlament oder Staatskanzlei aufrufen sollten.
Schon am Vorabend, als ihre Fahrzeug-Kolonnen von Westgeorgien
in die Hauptstadt einfuhren, hatte die Polizei ihre neutrale Haltung
gezeigt und - anders als noch 14 Tage zuvor - darauf verzichtet,
sie mit Straßenblockaden am Einzug in die Hauptstadt zu
hindern. Sie konnten auch davon ausgehen, wenn sie sich nicht
längst durch direkte Konktakte dessen versichert hatten,
dass die beiden Konkurrenzmächte im Kaukasus, Amerika und
Russland, in seltener Einmütigkeit den Daumen über Schewardnadse
gesenkt hatten. Mittlerweile war auch Amerika, das Schewardnadse
eigentlich bis zum Ende seiner normalen Amtszeit hatte stützen
wollen, des greisen Staatschefs überdrüssig geworden
und hatte mehr oder weniger offen mit der Opposition geflirtet.
Die Stundentenbewegung "Khmara - Genug", die seit Monaten
ihre Losung an allen Stellen der Stadt verbreitete und ein wichtiger
Teil der Demonstrations-Strategie Saakaschwilis war, wurde - sehr
zum Ärger von Eduard Schewardnadse - aus privaten amerikanischen
Finanztöpfen gespeist, versehen mit dem offiziellen Segen
Washingtons.
Zweitägiger TV-Polit-Thriller
So konnte dann am Wochenende ein Polit-Thriller der Extraklasse
über die Fernsehschirme Georgiens flimmern, der von keinem
noch so genialen Regisseur hätte besser inszeniert werden
können. Rustavi 2, Haus- und Hofsender der Anti-Schewardnadse-Koalition,
stimmte die Bevölkerung mit einem nahezu stündlich eingespielten
minutenlangen Video-Clip von Schewardnadses kommunistischer Vergangenheit
auf die Ereignisse des Tages ein. Bevor eindrucksvoll die Wagenkolonne
Saakaschwilis die Autobahn gen Tbilissi donnerte, wurden die geschickten
Bildmontagen von Schewardnadses Nomenklatur-Karriere und Prügelszenen
der letzten Tage mit einem Rap-Song kommentiert: "Wir haben
dich viel zu lange ertragen. Es wird Zeit, Junge, dass Du gehst."
Dieser und ein anderer Song, mit dem der Rücktritt Schewardnadses
musikalisch begleitet wurde, werden mittlerweile schon auf CD
gehandelt. Die Rosen-Revolution hat bereits Kult-Status, wobei
im Nachhinein noch immer erstaunen muss, wie schnell die Rustavi-2-Macher
die nächtliche Autokolonne Saakaschwilis vom Freitag, vermutlich
gefilmt von Sedaseni in Richtung Mzcheta-Gori, in einen Videoclip
eingearbeitet haben. Die TV-Regisseure der Rosen-Revolution haben
ganze Arbeit geleistet.
Der Höhepunkt der Auseinandersetzungen war für Samstag
zu erwarten, auch weil Michael Saakaschwili vollmundig versprochen
hatte, am Sonntag, dem Georgsfeiertag, einem der höchsten
Feiertage in Georgien, werde das Land vom 30-jährigen Joch
Schewardnadses befreit sein. Nach der Verkündigung des endgültigen
Wahlergebnisses durch die Zentrale Wahlkommission am Donnerstag
hatte Präsident Eduard Schewardnadse das neu gewählte
Parlament zu einer konstituierenden Sitzung auf Samstag, 16.00
Uhr einberufen. Für die Oppositions-Koalition eine Provokation,
vor allem wenn sich das neue Rumpfparlament, das sie zusammen
mit der Arbeiterpartei und den Neuen Rechten boykottierte, einen
neuen Präsidenten geben sollte. In diesem Falle wären
die Rücktrittsforderungen der Opposition sinnlos geworden,
weil dann der neu gewählte Parlamentspräsident automatisch
interimistischer Staatspräsident geworden wäre. Schewardnadse
hätte dann das Spiel gewonnen.
Die Polizei hatte einen engen Sicherheitskordon aus mehreren
Fahrzeugbarrikaden um Parlament und Staatskanzlei gelegt. Innerhalb
dieses Kordons war auch die Demonstration der adscharischen Wiedergeburtspartei,
die noch immer den Platz vor dem Parlament besetzt und - im Gegensatz
zur Opposition der vergangenen Woche - vernünftige Lautsprecheranlagen
und sogar eine Großleinwand vor dem Parlament aufgebaut
hatte. Plakate mit durchgestrichenen Hakenkreuzen wiederholten
den Faschismusvorwurf des adscharischen Fernsehens gegenüber
Saakaschwili. Die Polizei, so schien es, war bestens darauf vorbereitet,
den befürchteten Zusammenstoss der beiden verfeindeten Demonstrationen
zu verhindern. Dass es den Demonstranten Saakaschwilis und Schwanias
gelingen könnte, zum Parlament oder zur Staatskanzlei vorzudringen,
erschien nahezu ausgeschlossen. Der Freiheitsplatz war von allen
Seiten mit Ausnahme eines Zugangs von der Kura her hermetisch
abgeriegelt, Pufferzonen waren eingebaut und hinter den letzten
Barrikaden warteten martialisch aufgerüstete Polizeibeamte
mit Schlagstöcken und Metallschildern. Die Situation war
angespannt, es schien aber, als ob die Polizei die Lage unter
Kontrolle hätte. "Es gibt heute zwei Demonstrationen",
erklärte ein Regierungsbeamter, "und wir werden dafür
sorgen, dass es zu keinem Zusammenstoss kommt." Es bestehe
keine Gefahr, Demonstrationen seien Ausdruck einer aktiven Demokratie,
fügte er verschmitzt lächelnd hinzu.
Die Polizei macht die Schleusen auf
Es kam anders. Saakaschwili setzte Schewardnadse ein Ultimatum
bis 15.00 Uhr, von seinem Vorhaben, das neue Parlament zu konstituieren,
abzulassen und drohte an, zur Staatskanzlei zu marschieren. Als
er sich schließlich an die Spitze der Marschkolonne in Richtung
Staatskanzlei setzte, deutete alles auf eine massive Konfrontation
mit den Polizeieinheiten hin. Diese hatten aber anscheinend den
Befehl, die Schleusen zu öffnen und die Demonstranten bis
zum Metallzaun, der die Staatskanzlei umwehrt, durchzulassen.
Es kam zu Verbrüderungsszenen zwischen Demonstranten und
Polizisten. Hinter dem Zaun der Staatskanzlei warteten einsatzbereit
unzählige TV-Teams, die das Geschehen live übertrugen
und durch den Zaun hindurch Interviews mit dem Dreigestirn Saakaschwili,
Burdschanadse und Schwania machten, die durch die Menschenmenge
bis zum Zaun der Staatskanzlei durchgewinkt wurden. Der Hausherr
der Staatskanzlei, Pedre Mamradse sah ebenso tatenlos zu wie er
am Abend dann wehrlos zuließ, dass die Demonstranten das
Heiligtum des georgischen Staates, früher Sitz des Zentralkomitees
der KP Georgiens, besetzten. Mamradse, ein stets korrekter, vielsprachiger
Mann, der jahrelang das persönliche Büro Schewardnadses
geleitet hat, gilt ebenfalls als ein Mann Schwanias.
Unterdessen musste der Präsident eine runde Stunde warten,
bis er das neue Parlament eröffnen konnte. Der Patriarch,
bei wichtigen Parlamentssitzungen normalerweise in der Mitte des
Plenarsaales thronend, hatte der Veranstaltung den Rücken
gekehrt, eine glatte Brüskierung Schewardnadses. Auch die
Diplomatentribüne blieb leer, ein deutliches Zeichen dafür,
dass die internationale Staatengemeinschaft nicht gewillt war,
das Rumpfparlament des Eduard Schewardnadse zu akzeptieren. Erst
mit dem nachträglichen Eintreffen der Abgeordneten der Neuen
Rechten, die sich am Morgen noch der Boykottfront angeschlossen
hatten, war - zusammen mit dem Regierungsblock und der Wiedergeburt
- das notwendige Quorum von 157 Abgeordneten erreicht, mit der
sich das neue Parlament konstituieren konnte. Schewardnadse dankte
besonders den Neuen Rechten für ihre staatsmännische
Haltung, ließ die Nationalhymne abspielen und startete seine
Eröffnungsrede mit allerhand Hinweisen auf das Wesen der
Demokratie.
Die entscheidenden Minuten
Dann kam der große Auftritt des Michael Saakaschwili. Ungehindert
war er ins Parlament gelangt, wurde von seinen Leuten in den Plenarsaal
geschoben, wo er nach einer kurzen Pause, als wollte er erst das
Rotlicht der Kameras abwarten, mit einer wütenden Tirade
auf Eduard Schewardnadse begann. Die folgenden Bilder sind bekannt.
Der anfangs widerspenstige Schewardnadse wurde von seinen Bodyguards
wie auf ein Kommando aus dem Parlament geschubst. Mit der Pose
des Triumphators trank Michael Saakaschwili den Tee, der bei jeder
Rede Schewardnadses unter dem Rednerpult zu stehen hatte. Die
kugelsichere Weste, die er unter seinem sportlichen Mantel trug,
wurde nicht benötigt, die Leibwächter Schewardnadses
mussten ebenso wenig zu ihren Kalschnikows greifen, die ihnen
kurz nach dem Eindringen Saakaschwilis durchgereicht wurden. Saakaschwili
und seine Leute waren nur mit Fahnen und ein paar wenigen Rosen
bewaffnet, Grund genug, den Tag später als Rosenrevolution
zu bezeichnen.
Saakaschwili rief seine Mitstreiter nach dem kurzen Handgemenge
mit den Abgeordneten der Wiedergeburt zur Disziplin auf, damit
Nino Burdschanadse, die amtierende Präsidentin des alten
Parlaments einziehen könne. Diese stand bereits einmarschbereit
vor dem Plenarsaal, wartete aber noch ein paar Augenblicke, bis
sie unter den Klängen einer rasch über die Verstärkeranlage
des Plenarsaals eingespielten Hymne einziehen konnte. Der Text
der Hymne in Kurzfassung: "Die Freiheit bekommt man nicht
geschenkt. Die Freiheit muss man sich wie ein Löwe erkämpfen."
Vor dem Parlament dasselbe Szenario: Die Anhänger Saakaschwilis
und Schwanias überwanden - ungehindert von den Tausenden
von Ordnungskräften - die mehrfachen Fahrzeugbarrikaden und
vertrieben die Anhänger von der adscharischen Wiedergeburts-Demonstration
ebenso schmählich wie es ihren Abgeordneten drinnen im Parlament
ergangen war. Der Platz vor dem Parlament gehörte wieder
der Revolution.
Nino Burdschanadse übernimmt Verantwortung
Nino Burdschandse erklärte kurze Zeit später, da der
Präsident das Parlament ohne Erklärung verlassen habe
und offensichtlich nicht in der Lage sei, seinen Aufgaben nachzukommen,
übernehme sie als amtierende Präsidentin des amtierenden
Parlamentes die Verantwortung und agiere ab sofort entsprechend
den Vorschriften der Verfassung als interimistische Präsidentin.
Die Sicherheitskräfte des Landes forderte sie auf, keine
Weisungen mehr von Eduard Schewardnadse entgegenzunehmen.
Noch war das Ziel nicht erreicht. Eduard Schewardnadse rief auf
einer Parkbank in der Präsidentenresidenz Krtzanissi sitzend,
den Notstand aus, dem allerdings niemand aus den Sicherheitsorganen
besondere Beachtung schenkte. Polizei und Truppen des Innenministeriums,
die am Morgen noch das Bild einer zu allem entschlossenen Staatsmacht
abgaben, hatten sich zurückgezogen. Als früh am Sonntagmorgen
der russische Außenminister Igor Iwanow in Tbilissi eintraf,
waren am Flughafen mehr Kameraleute und Hörfunk-Journalisten
als Uniformierte. Es war Notstand und keiner ging hin. Trotzdem
war, solange der Präsident nicht zurückgetreten war,
ein Verfassungskonflikt gegeben, der so leicht nicht auflösbar
war. Für 24 Stunden sollte Georgien zwei Präsidenten
haben, den alten Mann auf der Parkbank und die junge Frau im Rosen-Parlament.
Dass Schewardnadse völlig isoliert war, wurde am Sonntagmorgen
deutlich, als Verteidigungsminister David Tewsadse nach einer
Sitzung des Verteidigungsrates erklärte, die Ausrufung des
Notstandes bedeute noch lange nicht, dass die Armee sofort loszuschlagen
hätte. Sie sei zwar in Alarmbereitschaft, würde die
Lage aber beobachten und nur dann eingreifen, wenn die Situation
außer Kontrolle gerate. Zwei Wochen zuvor hatte er noch
genau mit dieser Vermutung die Schlagzeilen der internationalen
Medien gefüttert. Jetzt erklärte er dem staunenden Publikum,
er habe mit den Führern der Opposition gesprochen und von
diesen die Zusage erhalten, sie würden die Sicherheitsorgane
in ihrem Bemühen unterstützen, die Bevölkerung
zu schützen, will heißen: die georgische Armee versagte
Eduard Schewardnadse die Gefolgschaft und hatte sich mit den Kräften
der Parlaments-Revolte arrangiert. Damit keine Fragen nach der
Solidarität mit dem Präsidenten auftauchten, erklärte
Tewsadse, es habe bis jetzt keinen Befehl des Präsidenten
gegeben, Gewalt anzuwenden. Im Notstandsdekret waren das Innenministerium
und das Verteidigungsministerium als koordinierende Ministerien
der Staatsgewalt ernannt worden. Den Zustand des Verfassungskonfliktes
zwischen Schewardnadse und Burdschanadse bezeichnete der bullige
Verteidigungsminister als politischen Unsinn, der nur mit politischen
Mitteln gelöst werden könne. Ähnlich äußerte
sich später am Tage der Sprecher des Innenministeriums, als
er erklärte, sein Ministerium sei zu politischer Neutralität
verpflichtet und werde sich nicht in politische Konflikte einmischen.
Schlussakt mit Iwanow
So hatte Igor Iwanow ein völlig bereitetes Feld vorgefunden, als er am frühen Sonntagmorgen wenige Stunden nach seiner Ankunft in Tbilissi zunächst der selbsternannten Staatsmacht im Parlament seine Aufwartung machte und auch direkt zu den Demonstranten sprach, noch bevor er sich mit Eduard Schewardnadse traf. Zwei Stunden konferierte Iwanow mit Saakaschili, Burdschanadse und Schwania, die hinterher die konstruktive Haltung des Russen auch zu Fragen der georgischen Integrität und Selbständigkeit lobten. Die Vermittlung Iwanows hatten sie begrüßt, sich allerdings eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Georgiens verbeten.
Erst nach seinem Gespräch mit der interimistischen Staatsmacht fuhr Iwanow zu Schewardnadse in die Regierungsresidenz Krtzanissi. Da beide, Schewardnadse und Iwanow, genauso wie die Opposition und die Amerikaner erklärten, der Konflikt müsse verfassungsgemäß gelöst werden, war jedermann – außer Eduard Schewardnadse - klar, dass es bei der Pendeldiplomatie des Russen nur noch um die Frage der Rücktritts-Modalitäten ging und nicht mehr um die Frage des ob. Einen anderen Ausweg erlaubte die Verfassung nicht, es sei denn, den Rückzug der Opposition. Und daran war schon lange nicht mehr zu denken. Schewardnadse, umgeben von den meisten Ministern und anderen Hofschranzen, die ihn mit Durchhalteparolen fütterten, bot einen Dialog an unter der Voraussetzung, dass zuerst Staatskanzlei und Parlament geräumt würden. „Ich kenne Iwanow sehr gut“, erklärte Schewardnadse, „er wird meine Botschaft schon richtig weitergeben.“
Ein Irrtum. Der Vermittlungsauftrag des Russen war ein einseitiger. Als Eduard Schewardnadse in einer letzten Amtshandlung seinen Sicherheitschef Tedo Tschaparidse für dessen offensichtliche Kooperation mit den abgefallenen politischen Ziehkindern des alten Meisters mit einem Rauswurf bestrafte, war nur ihm nicht bewusst, dass dies seine letzte Amtshandlung war. Die georgische Opposition hatte mit Einverständnis Russlands und Amerikas den Druck auf Schewardnadse derart verstärkt, dass der russische Außenminister, in Georgien aufgewachsen und mit Schewardnadse aus dessen Zeit als sowjetischer Außenminister noch gut bekannt, dafür ausersehen war, Schewardnadse die unvermeidliche Botschaft zu überbringen und dafür zu sorgen, dass sich der letzte Akt des Dramas in menschlicher Fairness und ohne Gewaltanwendung abspielen konnte.
Zusammen mit Schwania und Saakaschwili fuhr er am Abend in die Regierungsresidenz, vor deren Toren sich schon ein paar Tausend Demonstranten und Legionen von TV-Teams eingefunden hatten. Schewardnadse hat ganz offensichtlich noch mit einem Kompromiss gerechnet. In dieser Situation ist es wohl zum entscheidenden Vieraugengespräch zwischen Iwanow und Schewardnadse gekommen, in dem der Russe dem Georgier die Ausweglosigkeit seiner Lage beigebracht hat. Nach wenigen Minuten schon zog sich er Russe zurück mit der Bemerkung: „Die Verhandlungen beginnen jetzt“ und machte sich auf den Weg nach Adscharien. Beim Rücktritt Schewardnadses waren die georgischen Kontrahenten unter sich. Das Gespräch, wird Michael Saakaschwili zwei Tage später erklären, fand in einer entspannten Atmosphäre statt. Am Sonntagmorgen hatte er noch erklärt, Schewardnadse habe einen Haftbefehl gegen ihn, Schwania und Burdschanadse erteilt. Der russische Außenminister muss in seinem letzten Gespräch mit Schewardnadse wohl ganze Arbeit geleistet haben.
Nachdem die neuen Machtinhaber abgezogen waren, zeigte sich auch Schewardnadse sichtlich entspannt. Souverän-charmant wie in besten Zeiten erklärte den wartenden Reportern, er gehe jetzt nach Hause, um seine Memoiren zu schreiben. Wer sein Nachfolger werde, wurde er gefragt. „Das geht mich nichts mehr an. Das ist jetzt Eure Sache.“ Auf dem Rustaweli-Prospekt feierten Zehntausende das Ende der Ära Schewardnadse mit Freudentänzen und Feuerwerk, während Michael Saakaschwili, der Scharfmacher der letzten Tage, dem zurückgetretenen Ministerpräsident Sicherheit in Georgien gewährte. „Es gehört zur Würde des Landes, dass der Ex-Präsident im Lande bleibt.“ Der radikale Revolutionsführer der vergangenen Wochen hatte ganz auf Staatsmann umgestellt.
Rainer Kaufmann
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