Was ist der Unterschied zwischen Wahlen in Deutschland und Georgien?
In Deutschland ist die Spannung meist eine Stunde nach Schließen
der Wahllokale raus, weil Auszählungen und Hochrechnungssysteme
so effizient sind, dass sich entscheidende Ergebnisverschiebungen
nur noch ganz selten entwickeln können. In Georgien beginnt
die eigentlich spannende Phase erst vier Tage danach, wenn das letzte
Drittel der Wahllokale seine Ergebnisse abliefern sollte. Dazwischen,
wenn bei uns längst erste Koalitionsgespräche beginnen,
regiert in Georgien allgemeine Aufregung, heftiger Streit, stehen
sich Regierung und Opposition auf der Straße gegenüber,
rund um die Uhr beobachtet von den vielen TV-Stationen, die über
ein Arsenal an Live-Kameras verfügen, das einem Land dieser
Größenordnung kaum zuzutrauen ist. Und über eine
Heerschar an allgegenwärtigen Reportern, die den Top-Zwanzig
unter den wichtigen Personen der georgischen Politik-Elite an jedem
Ort des Landes auflauern und immer wieder dieselben Fragen stellen.
Urplötzlich stoppt dann die eh recht zäh funktionierende
Auszählungsmaschinerie, weil die Zähler im letzten Drittel
der Wahllokale einfach nicht mit dem Wust an Stimmzetteln zurecht
kommen können. Auffälligerweise sind dies immer wieder
dieselben Stimmbezirke, die in der autonomen Republik Adscharien
und die in der Provinz Nieder-Kartli. Für beide Regionen gelten
zu Wahlzeiten - und nicht nur dann - eigene Gesetze, die sich dem
Verständnis eines normalen Wahl-Demokraten einfach entziehen.
Und dann, rund 24 Stunden nach der Wahl, beginnt ein Wahlkrimi der
besonderen Art, den wir mehr als eine Woche lang nahezu rund um
die Uhr wechselweise vor Ort, am Fernsehschirm und über Internet
verfolgt haben. In der heute beginnenden Serie versuchen wir, die
Schlacht um Stimmen und Prozente, die in Fernsehstudios, auf den
Straßen und hinter den Kulissen geschlagen wurde, zu protokollieren,
wobei wir natürlich einen Teil Vorgeschichte (nachzulesen im
Wahl-Archiv), die Verwirrung um die Wählerlisten zum Beispiel,
als bekannt voraussetzen. Da sich bei der Veröffentlichung
der ersten Folge noch nicht absehen lässt, wie lange der georgische
Wahl- und Demonstrations-Krimi noch dauert, wissen wir heute auch
noch nicht, wie viele Folgen diese Geschichte letztendlich haben
wird.
Sonntag 2. November
Der Wahltag verläuft in einigen Wahllokalen äußerst
ruhig, in anderen spielen sich chaotische Szenen ab. Über
Nacht hatten die Wahlkommissionen neue, von Hand geschriebene
Wählerlisten gefertigt, in der sich Tausende von Wählern
nicht mehr finden. Sie werden von der Wahl teilweise ausgesperrt,
teilweise auf besonderen Wählerverzeichnissen doch noch aufgenommen.
Die meisten Wahllokale schließen um 20.00 Uhr, teilweise
erst um 21.00 Uhr. In Kutaissi, wo man wegen organisatorischer
Pannen erst um die Mittagszeit mit den Wahlen beginnen konnte,
sind die Wahllokale bis 24.00 Uhr geöffnet. In 17 Wahllokalen
muss die CEC - Central Election Commission - die Wahlen gänzlich
annullieren. Sie werden in 14 Tagen mit der Stichwahl in den Direktwahlkreisen
nachgeholt.
Montag, 3. November
Kurz nach 10 Uhr kommen die Agenturen mit einem ersten Zwischenergebnis
der CEC. Nach Auszählung von 530 Wahlbezirken liegt der Regierungsblock
in Führung vor der Nationalen Bewegung Saakaschwilis:
Regierungsblock |
27,2 % |
Nationale Bewegung |
23,7 % |
Arbeiterpartei |
16,6 % |
Burdschanadse-Demokraten |
10,4 % |
Neue Rechte |
9,3 % |
Industrialisten |
7,5 % |
Wiedergeburt |
5,4 % |
Die Überraschung ist perfekt. Denn in allen Wahlprognosen
war der Regierungsblock abgeschlagen notiert worden, während
die Oppositionsparteien klar führten. Der Trick mit den Wählerlisten,
mit dem Zehntausende an Wählern von der Urne ausgeschlossen
wurden, hat offensichtlich der Regierung am wenigsten geschadet.
Kurze zeit später meldet das Media-Institut das erste Zwischenergebnis
der Parallel-Stimmenauswertung aus 552 Wahlkreisen. Diese Kontrollzählung
sieht in ihrem ersten Zwischenergebnis die Nationalen Demokraten
von Michael Saakaschwili vorn:
Nationale Bewegung |
26,2 % |
Regierungsblock |
18,9 % |
Arbeiterpartei |
17,4 % |
Burdschanadse-Demokraten |
10,2 % |
Wiedergeburt |
8,1 % |
Neue Rechte |
8,0 % |
Industrialisten |
5,2 % |
Zählt man alle anderen als den Regierungsblock zur Opposition,
dann hat Schewardnadses Regierungsmannschaft nur noch 20 % der
Bevölkerung hinter sich. Die Prognosen dieser Zweitauswertung
aus ausgewählten Stimmbezirken, die zwar keineswegs die Präzision
unserer Hochrechnungen hat, aber dennoch einen Kontrollwert für
die offiziellen Auszählungen bringen soll, werden bis zum
Wochenende nur hinter dem Komma korrigiert.
Michael Saakaschwili nimmt diese Prognose zum Anlass, sich zum
Sieger der Wahlen auszurufen und erklärt, seine Partei werde
kein Wahlergebnis akzeptieren, das von diesen Zahlen abweicht.
Er ruft noch am Abend die Vertreter der anderen Oppositionsparteien
auf, sich gemeinsam gegen den Diebstahl ihrer Stimmen durch die
Regierung zu wehren.
Bestätigt wird Saakaschwili von dem Ergebnis einer so genannten
Nachfrage, die vom TV-Sender Rustavi 2 später veröffentlicht
wird:
Nationale Bewegung |
20,7 % |
Regierungsblock |
14,2 % |
Arbeiterpartei |
14,1 % |
Burdschanadse-Demokraten |
8,1 % |
Wiedergeburt |
7,3 % |
Neue Rechte |
6,0 % |
Industrialisten |
3,4 % |
Auch diese Nachfrage ist methodisch noch lange nicht auf westlichem
Stand, ihr Ergebnis zeigt aber deutlich, dass die 27 %, die das
amtliche Zwischenergebnis dem Regierungsblock zuschreibt, zumindest
als etwas zweifelhaft bewertet werden dürfen. Es zeigt aber
auch, dass sich innerhalb der georgischen Wählerschaft wenig
verschoben hat. Nimmt man die Parteien zusammen, die vor vier
Jahren noch im Bürgerblock Schewardnadses standen, und den
Anteil der Bürgerunion im Regierungsblock, dann kommt man
ziemlich genau auf die 41 %, die man vier Jahre zuvor gemeinsam
erhalten hatte. Insofern gibt es genügend Beobachter, die
an diesem Tag erklären, eigentlich habe sich in der politischen
Landschaft Georgiens nicht allzu viel geändert.
Präsident Eduard Schewardnadse bezeichnet in seiner Pressekonferenz
die Wahlen als die fairsten, die jemals stattgefunden hätten
und wagt die Prognose, dass das Endergebnis nicht stark von dem
jetzt bekannten Zwischenergebnis der CEC abweichen werde. Zu dieser
Zeit hoffen noch viele aus der Opposition, dass sich der Regierungsblock
von seinem Zwischenhoch erholen und auf normale die erwartete
Größenordnung abfallen könnte. Der Präsident,
so weiß man es hinterher, hatte wohl die besseren Experten
für seine Prognose, zumindest, was den Regierungsblock angeht.
Er fordert die Opposition auf, ihre Klagen wegen Wahlfälschungen
sein zu lassen, immerhin hätten sie genügend Sitze im
neuen Parlament.
Eine ähnlich versöhnliche Botschaft sendet er an den
adscharischen Präsidenten Aslan Abaschidse, der vor den Wahlen
bereits angekündigt hatte, in Adscharien per Referendum abstimmen
zu lassen, ob die Wahlen in Georgien - mit Ausnahme Adschariens,
versteht sich - demokratisch und fair verlaufen seien. Von vielen
wurde dies als eine kaum versteckte Drohung bewertet, die Wahlen
zum Anlass zu nehmen, sich der Tbilisser Zentralgewalt noch ein
wenig weiter zu entfernen als bisher vor allem für den Fall,
dass die Falschen diese Wahl gewinnen sollten. Im Vorfeld der
Wahlen war es in Adscharien zu hanbgreiflichen Auseinandersetzungen
zwischen lokalen Ordnungshütern und Kandidaten der Nationalen
Bewegung gekommen. Vor allem Michael Saakaschwili hatte sich in
Aslan Abaschidse als einen zweiten Hauptfeind neben Eduard Schewardnadse
verbissen, was ihm außerhalb der autonomen Schwarzmeerprovinz
viel Ehr, dortselbst aber mehr Feindschaft einbrachte - einer
der Schlüssel zum Verständnis dessen, was später
noch ablaufen sollte. Schewardnadse bezeichnet dieses Referendum
als überflüssig und lädt den Adscharen ein, mit
den neuen Kräften des Parlaments konstruktiv zusammen zu
arbeiten, wobei man nicht allzu lange darüber rätseln
muss, wen Schewardnadse mit dem Begriff "neue Kräfte"
meint. Ein kleiner diplomatischer Notenaustausch, dessen wahre
Bedeutung zu dieser Stunde kaum jemand ermessen kann.
Fortsetzung in der nächsten Ausgabe von Georgien-News
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