Historische Vergleiche haben ihre Tücken. Wenn Michael Saakaschwili
Parallelen zieht zwischen Ceausecsu und Schewardnadse, vor allem,
was die letzten Tage des Rumänen angeht, so müsste ihm
eigentlich ein wesentlicher Unterschied zwischen den Ereignissen
in Bukarest vor mehr als einem Jahrzehnt und denen in Tbilissi von
heute auffallen: In Bukarest waren Zehntausende, wenn nicht sogar
Hunderttausende auf der Straße, um den greisen Diktator die
Gefolgschaft zu versagen. Und niemand weiß bis heute, ob nicht
sogar der rumänische Geheimdienst der Drahtzieher dieser Massendemonstration
war, die Ceaucescu zur Flucht veranlasst hat. In Tbilissi bringt
die Opposition gerade einmal 5.000 Menschen auf die Straße
und die machen nicht den Eindruck, als könnten sie die Festung
Schewardnadses zum Einsturz bringen. Natürlich wurden weitere
Demonstranten aus der Provinz durch einen Straßenblockade
der Regierung am Kommen gehindert. Aber erinnern wir uns an Leipzig:
Wochenlang marschierten jeden Montag Abend Hunderttausende durch
die Stadt, bis das Regime Honegger ins Wanken geriet. Oder Belgrad:
Mit nur 3.000 Menschen wäre Milosevic heute noch dort, wo er
- viel zu lange - sein Unwesen getrieben hatte. Und Schewardnadse
hat bei allen Fehlern, die man ihm ankreiden muss, nicht verdient,
mit den drei zum Teufel Gejagten in einen Topf geworfen zu werden.
Dazu hat er auch zu viele Verdienste erworben.
Historische Vergleiche haben aber auch ihre Berechtigung: Wer
die Bilder von der im Stadion von Batumi inszenierten Jubel-Veranstaltung
für Schewardnadse und Abaschidse gesehen hat, dem fallen
natürlich unweigerlich Ceaucescu und Honegger ein und - Schewardnadse
wird sich dessen ganz sicher noch erinnern - der historische Ausspruch
von Gorbatschow: "Wer zu spät kommt, den bestraft das
Leben." Nimmt man den optischen Eindruck dieser seltsamen
Batumi-Jubel-Veranstaltung, dann kann man sich des Eindrucks nicht
erwehren, als ob da die Zu-spät-Gekommenen des Kaukasus ein
letztes öffentliches Stelldichein hätten feiern lassen.
Babu, Babu, haben sie gerufen, die Jubel-Perser, so nannte man
solche Leute einmal zu Zeiten, als Schah Reza Pahlewi noch Berlin
besuchen konnte. Das Schicksal des Potentaten aus dem Iran ist
bekannt.
Aber: die politische Realität in Georgien ist noch nicht
so, dass es für Schewardnadse gefährlich werden könnte.
Die politische Realität ist jeden Tag zu besichtigen in Tbilissi,
vor dem Parlament, wo die Opposition unter der Regie Michael Saakaschwilis
zwar ein TV-gerechtes Demonstrationstheater aufführt, aber
alles andere darstellt als eine reale Gefahr für die beiden
Altmeister der Macht, Aslan und Eduard.
Nein, das sind - bis heute - keine revolutionären Massen,
die sich da durch Tbilissi wälzen. Das ist eine durchaus
übersichtliche Menge an Menschen, die gegen das gewiss manipulierte
Ergebnis dieser Parlamentswahlen protestieren. An der Berechtigung
des Protestes wird vernünftigerweise niemand zweifeln wollen.
Auch daran darf vernünftigerweise niemand zweifeln, der Situation
aus persönlicher Kenntnis vor Ort und nicht aus der Medienrealität
der Agenturen kennt: Den überwiegenden Teil der georgischen
Bevölkerung lässt dies alles kalt. Für die ist
das nicht eine revolutionäre Situation, die geeignet wäre,
den ungeliebten Herrscher in die Wüste zu schicken. Für
mehr als 90 % der Georgier ist dies ein interner Machtkampf der
politischen Elite. Und deshalb wird Schewardnadse diese Proteste
aussitzen können. Wegen ein paar gefälschter Wahlscheine,
mögen es auch noch so viele gewesen sein, wird einer seines
Kalibers nicht gekippt. Schon gar nicht, wenn die Hauptopfer der
Fälschungen nicht wissen, was sie antworten sollen, wenn
man ihnen die Manipulationen von vor vier Jahren vorhält.
Damals waren sie die verantwortlichen Manager für den Wahlkampf
der Bürgerunion, die sich ihre Mehrheit nicht nur mit demokratisch
astreinen Methoden gesichert hat. Die Opfer von heute waren die
Täter von gestern, die Bevölkerung von Georgien hat
dafür ein feines Gespür. Und deshalb wird die parlamentarische
Opposition dieser Tage, die vor vier Jahren noch treu an der Seite
Schewardnadses gestanden hat, schon noch gewaltig zulegen müssen,
wenn sie sich die Schuhe anziehen will, die ihr Spitzenmann mit
seinem Ceaucescu-Vergleich ins Spiel gebracht hat.
Trotzdem ist die Situation alles andere als ungefährlich,
sie kann eine Eigendynamik entwickeln, weil sich am Ende alle
Beteiligten in eine Sackgasse manövriert haben, aus der sie
nicht mehr herauskommen. Es geht nicht um die Wahlfälschungen,
denn selbst bei einwandfrei durchgeführten und ausgezählten
Wahlen wäre die Situation nicht viel besser, wäre das
Problem ähnlich. Aber nehmen wir erst einmal das Ergebnis,
das sich jetzt abzeichnet: Schewardnadses Regierungsblock wird
mit Restauszählung und Direktmandaten etwas mehr als 25 %
der Parlamentssitze - und nur um die geht es am Ende - erringen,
Aslan Abaschidse etwas weniger als 25 %. Michael Saakaschwili
wird vermutlich bei 20 % der Mandate landen, die Arbeiterpartei
bei 15 %, Burdschanadse-Schwania bei 10 %, der Rest entfällt
auf diejenigen aus der Fraktion der Parteilosen, die über
Direktmandate ins Parlament kamen und sich nicht irgendeinem der
großen Blöcke anschließen wollen.
Damit bleibt Eduard Schewardnadse rein rechnerisch nur ein Koalitionspartner,
der eine stabile Parlamentsmehrheit versprechen kann: Aslan Abaschidse.
Saakaschwili und Burdschanadse/Schwania, sofern letztere überhaupt
ins Parlament gehen, müssen sich entweder gemeinsam auf eine
Dauer-Koalition mit ihrem Haupt-Wahlkampf-Gegner Schewardnadse
einlassen oder auf zeitlich begrenzte Sach-Koalitionen. Beim gegenwärtigen
Stand der Entfremdung, die mehr persönlichen Ambitionen geschuldet
ist als wirklichen politischen Differenzen, ist dies kaum denkbar,
schon gar nicht, wenn man in Betracht zieht, dass sich sowohl
politischer Stil und Programm als auch Ambitionen und Wählerklientele
von Saakaschwili und Schwania/Burdschandse eher entgegenstehen
als entsprechen. Und Schalwa Natelaschwili, wenn er sich getreu
sein will, wird sich mit seiner Arbeiterpartei aus alledem raushalten
und seine Opposition gegen alle betreiben, mit der er in zwei
Jahren seine Präsidentschaftskandidatur begründen will.
Hat Schewardnadse bei dieser Situation überhaupt eine Alternative
zu Aslan Abaschidse? Vermutlich nicht, zumal das Stimmenergebnis
Abaschidses in Tbilissi kaum überraschen kann. Was hat sich
geändert? Nichts. Im vergangenen Parlament hatte er rund
30 % der Sitze und die waren genauso ermogelt wie in dieser Wahl.
Neu ist nur, dass Schewardnadse im Lager der nicht-abchasischen
Parteien keine Mehrheit mehr hat und deshalb auf Abaschidse angewiesen
ist. Das - und nichts anderes - ist das, was dieses Wahlergebnis
so bemerkenswert und gleichermaßen gefährlich macht.
Und die Tatsache, dass Schewardnadse sich auf das Spiel mit Abaschidse
- mangels Alternative - hat einlassen müssen.
Es spricht nicht vieles dafür, dass sich der Autokrat aus
Batumi jemals mit einer Parlamentsmehrheit abfinden würde,
in der Saakaschwili und Schwania erste und zweite Geige spielen,
denn Schewardnadse könnte sie vermutlich nur mit diesem Preis
in sein Boot ziehen. Die Option Friedensschluss mit der Opposition
in Tbilissi, so sie denn bei der Radikalität von Saakaschwili
überhaupt gegeben wäre, bedeutet für Schewardnadse
in gefährlich realistischer Wahrscheinlichkeit Ärger
mit Aslan Abaschidse. Wenige Tage vor den Wahlen hatte dieser
bereits angekündigt, in seiner Provinz notfalls per Referendum
darüber abstimmen zu lassen, ob die Wahlen in Georgien -
mit Ausnahme Adschariens, versteht sich - rechtmäßig
abgewickelt worden wären oder nicht. Was sollte dies anderes
sein als die kaum noch kaschierte Botschaft Aslans, nach Abchasien
und Südossetien eine dritte Sezession vorzubereiten, wenn
das Wahlergebnis nicht seinen Vorstellungen entsprechen sollte?
Zwar wird auch in Batumi nicht jede Suppe so heiß gelöffelt
wie sie gekocht wird, aber allein mit dem Gedankenspiel einer
weiteren Abspaltung hatte Aslan Abaschidse ein Machtinstrument
in seiner Hand, das er hinter den Kulissen anscheinend erfolgreich
eingesetzt hat. Nicht umsonst hat der Gurier den Adscharen sofort
nach der Wahl aufgerufen, von seinem Referendum zu lassen und
mit den "neuen Kräften" des Parlaments zusammenzuarbeiten,
wen auch immer er mit dem Begriff "neue Kräfte"
gemeint haben mag. Vor zwei Tagen haben Aslans Leute in Tbilissi
vorsorglich gegen Wahlfälschungen durch die Opposition protestiert,
Leute aus dem Regierungsblock, auch prominente, waren dabei. Schwardnadse
ist um seine Situation nicht zu beneiden. Er ist ein Präsident
auf Abruf, ein Präsident von Abaschidses Gnaden und hat zu
Hause eine Opposition am Hals, die nicht kompromissfähig
ist und ihm die Brücke bauen könnte, über die er
dem zweifelhaften Liebeswerben des Adscharen entkommen könnte.
Auch die Opposition hat sich - dank Michael Saakaschwili - in
eine ausweglose Lage manövriert. Ohne einen Hauch von Kompromissbereitschaft
oder Geduld, will dieser die Machtprobe mit Schewardnadse und
Abaschidse jetzt und sofort, setzt auf alles oder nichts und wird
am Ende vermutlich mit nichts dastehen außer den Trümmern
einer Politik, in der keiner - Opposition wie Regierung - weiß,
wie man das Wort Kompromiss buchstabiert.
Es rächt sich jetzt bitter, dass es Schewardnadse nicht
gelungen ist - vermutlich wollte er es auch nicht -, in seiner
früher einmal stabilen Bürgerunion einen Nachfolger
aufzubauen, der in der Lage gewesen wäre, diese durchaus
erfolgreiche Koalition-in-der-Partei zusammenzuhalten. Kurzfristigen
Zielen zuliebe und dem Erhalt seiner Ein-Mann-Dominanz hat er
zu viele Leute verschlissen, verärgert und schließlich
demontiert. Was zunächst wie ein Fortschritt an demokratischer
Gesinnung aussah, das Herausbilden von Parteien mit eigenem Profil
- von Programm-Parteien kann noch nicht geredet werden -, erweist
sich jetzt als größte Gefahr für die junge Demokratie
und den fragilen Staat. Die früher einmal zusammengearbeitet
haben, sind heute nicht einmal mehr gesprächsfähig,
geschweige denn willig, auch nur auf Zeit Koalitionen zu bilden,
wenn damit dem Land ungute Entwicklungen oder gar Konfrontationen
erspart werden könnten.
Vernunft wäre gefragt, Vernunft von allen Seiten. Das Gegenteil
scheint einzutreffen. Abaschidse freut sich in aller Stille über
seinen Coup, Schewardnadse kann nicht anders und schluckt die
Kröten, die ihm jener vorsetzt in der Hoffnung, ihn später
genauso fallen lassen zu können wie die Legion früherer
Verbündeter, die den Zorn des großen Meisters zu spüren
bekamen, wenn er glaubte, sie nicht mehr zu brauchen. Und Michael
Saakaschwili verrennt sich immer mehr. Der Ton wird gereizter,
die Sprache - von beiden Seiten - radikaler. Schewardnadse bezeichnet
Saakaschwili als "einen wirklich gefährlichen Mann"
und reist nach Adscharien, um den Schulterschluss mit dem dortigen
Autokrator zu vollziehen, der zunächst einmal alle Trümpfe
in seiner Hand hat. Und der lässt in seinem Lokal-TV immer
wieder einen Clip ausstrahlen, in dem Michael Saakaschwili in
nahezu obszönen Filmmontagen der direkten Verwandtschaft
mit Adolf Hitler bezichtigt wird. Man muss sich diese Videos anschauen,
um zu begreifen, auf welchen Verbündeten sich Schewardnadse
einlassen musste, nur weil er - und seine politischen Ziehkinder,
allen voran Saaakaschwili - unfähig sind, gemeinsam Verantwortung
zu tragen für das Land.
Ob alle die verbalen Geister wieder einfangen können, sie
sie in ihrem Machtkampf losgelassen haben? Es geht längst
nicht mehr um Wahlfälschungen. Es geht um mehr. Die Demonstrationen
am Rustaweli sind nicht viel mehr als die TV-gerecht eingerichtete
Kulisse, hinter der sich ein gnadenloser Machtkampf innerhalb
der politischen Elite des Landes abspielt. Er wird auch nur von
der politischen Elite des Landes wahrgenommen, den überwiegenden
Teil der Bevölkerung hat dieser Machtkampf noch nicht erreicht.
Deshalb sieht es nicht danach aus, als ob sich Schewardnadse dem
Druck der Straße beugen müsste. Er geht aber angeschlagen
und machtlos in die letzten zwei Jahre seiner Präsidentschaft.
Darin, nicht in den Protesten vom Rustaweli, liegt das Risiko
von unkontrollierten Entwicklungen in Georgien. Und das neue Georgien
muss noch ein paar Jahre länger auf seine politischen Führer
warten, die in der Lage wären, es wirklich in die Zukunft
zu führen.
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