Wer die Demonstrationen vor dem Tbilisser Rathaus gestern Abend
am Fernsehschirm verfolgte, musste den Eindruck gewinnen, als ob
halb Tbilissi auf den Beinen gewesen wäre, um gegen die Manipulation
der Wahlen durch die Regierung zu protestieren. Englisch-sprachige
georgische Medien - civil georgia und The Messenger - berichteten
von 10.000, während wir - www.georgien-news.de
- vor Ort nicht mehr als 3.000 Demonstranten schätzten. Und
die angesehene Neue Züricher Zeitung bezifferte in ihrem online-Dienst
die Zahl der Demonstranten gar mit 20.000. Wer hat Recht?
Um unsere Schätzung noch einmal nachzuprüfen - und
gegebenenfalls zu korrigieren - haben wir heute am Morgen noch
einmal den Freiheitsplatz besucht und abgeschritten. Die Demonstration
am gestrigen Abend umfasste den Platz direkt vor dem Rathaus bis
exakt zum Rondell des Brunnens, der in der Mitte des Platzes ist.
Die letzten Demonstranten standen auf dem Rasen zwischen dem Wasserbecken
und dem Rathaus. Das Rathaus hat eine Breite von rund 60 Metern,
die beiden Seitenstraßen dazu genommen sind das etwa 80
Meter. Die Distanz von der Rathaus-Fassade zur Mitte des Brunnens
beträgt etwa 60 m. Wenn man diese gesamte Fläche nimmt,
dann wären es knapp 5.000 Quadratmeter, auf denen die Demonstranten
unterzubringen wären. Bei 20.000 Demonstranten würde
dies vier pro Quadratmeter bedeuten, bei 10.000 immerhin zwei,
bei 5.000 einer. Es war aber bei weitem nicht die gesamte zur
Verfügung stehende Fläche mit Demonstranten belegt.
Außerdem sind wir, zwei deutsche Journalisten mit je einem
Dolmetscher, während der Demonstration mehrfach ohne jedes
Problem durch die Reihen der Demonstranten marschiert, so locker
stand man beieinander. Teilweise waren Lücken von mehr als
einem Meter zwischen kleineren Gruppen, die dichter beieinander
standen. Aus diesem Grunde können wir getrost bei unserer
realistischen Schätzung von 3.000 Demonstranten bleiben,
gestehen aber zu, dass man mit sehr viel Wohlwollen auch eine
Zahl von bis zu 5.000 vertreten kann, mit sehr viel Wohlwollen.
Vermutlich waren es am Ende nicht ganz 4.000. Alles andere ist
blanker Unsinn.
Dies kann auch dadurch belegt werden, dass die Philharmonie,
in der zuvor die Protestversammlung des Burdschanadse-Demokraten-Blocks
stattfand, nach einer Nachfrage von heute Vormittag ziemlich genau
2.000 Sitzplätze hat. Diese waren nahezu voll belegt, der
Platz vor der Philharmonie aber nahezu menschenleer, sodass man
das Schwania-Burdschanadse-Lager, das zur Demonstration zum Rathaus
kam, mit rund 2.000 Leuten schätzen kann. Vor dem Rathaus
waren zuvor nach unserem Eindruck höchstens 1.000 Demonstranten
aus dem Saakaschwili-Lager anwesend. Und als wir vor Ende der
Demonstration diese verließen, um unsere Berichte möglichst
aktuell ins Netz stellen zu können, machte der Rustaweli-Prospekt
keinesfalls den Eindruck, als würden da noch Tausende von
Demonstranten zum Rathaus strömen. Am Rustaweli pulsierte
der ganz normale abendliche Auto- und Fußgängerverkehr,
der von der Politischen Erregung vor dem Rathaus keine Notiz nahm.
Lediglich die starken Polizeikräfte, die vor dem Gebäude,
in dem die CEC - Central Election Commission - untergebracht war,
deutete auf irgendwelche Ereignisse hin. Bei jedem mittleren Fussball-Länderspiel
sind weitaus mehr Menschen unterwegs als gestern Abend, meist
auch mehr Polizisten. Die Revolutionsmassen waren also durchaus
überschaubar, was keinesfalls die Berechtigung des Protestes
in Zweifel ziehen soll. Nur werden Saakaschwili und Burdschanadse
in den nächsten Tagen noch weitaus mehr Menschen auf die
Straße bringen müssen, wenn sie den greisen Staatschef
in seiner Kanzlei-Festung wirklich beeindrucken wollen. Noch ist
das alles andere als die Revolution, die Saakaschwili seinem Widersacher
im Präsidentenamt gestern Nacht vollmundig ankündigte.
Rainer Kaufman
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