GN: "Wenn sich in den letzten drei Monaten nicht mehr viel
ändert, werden Sie in diesem Jahr ein Superergebnis einfahren."
Philip Sigwart: "Ja, wir haben in den ersten neun Monaten
dieses Jahres unser Kreditportfolio um 9 Millionen US-$ auf jetzt
42 Millionen US-$ gesteigert. Bis zum Jahresende rechnen wir mit
einem Zuwachs von 11 - 12 Millionen US-$, das wäre dann ein
Plus von etwa 30 %."
GN: "Auch die Geldeinlagen sind kräftig gestiegen,
ein Zeichen für das wachsende Vertrauen der Georgier in das
Bankensystem?"
Philip Sigwart: "So kann man das sicher sehen, unsere Kundengeldeinlagen
sind von 10 Millionen auf 17 Millionen US-$ gestiegen. Und der
Gewinn liegt am Ende des 3. Quartals bei 1,2 Millionen US-$ nach
Steuern, das sind p.a. rund 15 % auf das Kapital. Damit sind wir
sehr zufrieden, wenngleich es in Georgien Geschäftsbanken
gibt, die weitaus bessere Kapitalrenditen vorweisen. Aber unsere
Bank ist nicht ausschließlich am Profit orientiert, wir
arbeiten ja auch mit öffentlichen Finanzen und haben zuallererst
den Auftrag, kleine und mittlere Unternehmen mit den notwendigen
Mitteln für ihr Wachstum zu versorgen."
GN: "Wie ist das Verhältnis zwischen Handel und Gewerbe
in Ihrem Kreditportfolio. Am Anfang dominierte doch eindeutig
der Handel, gibt es da eine Tendenz zur Änderung?"
Philip Sigwart: "Ganz eindeutig. Es gibt immer mehr Kleingewerbe
oder Kleinproduktionen, die von uns finanziert werden. Neuerdings
kommt auch der Agrarsektor mit dazu, wobei wir hier nicht nur
die ganz kleinen Landwirte finanzieren. Wir haben da auch schon
einige größere Kredite, insbesondere aus der Lebensmittelverarbeitung
dabei. Ich bin jetzt seit eineinhalb Jahren hier in Georgien.
In dieser Zeit gab es schon eine signifikante Entwicklung hin
zur Produktion."
GN: "Wenn Sie als eine ausgewiesene Mittelstandsbank mit
30 % Wachstum dastehen, muss das doch auch bedeuten, dass sich
ganz langsam ein gewerblicher Mittelstand im Lande bildet."
Philip Sigwart: "Ja, der Mittelstand beginnt, sich zu entwickeln.
Das ist natürlich ein ganz anderer Mittelstand als den, den
wir aus Deutschland kennen. Da ist immer eine ganze Familie dahinter.
Wenn so ein Unternehmerhaushalt heute ein Einkommen von 300 oder
400 US-$ im Monat hat und sich einen Kurzurlaub in Bakuriani oder
Kobuleti leisten kann, dann ist das eigentlich schon Mittelstand.
Dabei muss man allerdings einräumen, dass das Tempo dieser
Entwicklungen durchaus gemächlich ist. Ich glaube auch, dass
dies erst der Anfang ist. Die Entwicklung wird erst dann richtig
losgehen, wenn sich die politische und gesamtwirtschaftliche Lage
ein wenig stabilisiert hat."
GN: "Aber diese Erfolge, von denen Sie gerade berichten,
stehen im Widerspruch zu dem, was man allgemein als Eindruck von
der Wirtschaftsentwicklung geschildert bekommt. Da ist eher von
wirtschaftlichen Rückschritten die Rede. Woher kommt denn
dann Ihr Wachstum von 30 %?"
Philip Sigwart: "Das hängt von unserer Zielgruppe ab.
Die kleinen und mittleren Unternehmen wachsen eben überdurchschnittlich.
Dazu kommt noch, dass sich 60 % der georgischen Wirtschaft im
Schatten abspielt. Und die meisten dieser Kleinunternehmen sind
eben in dieser Schattenzone. Ihre Entwicklung wird offiziell gar
nicht registriert, taucht in den Statistiken überhaupt nicht
auf. Aber ich muss noch einmal betonen, das ist ein relativ langsames
Wachstum, vor allem, wenn man es mit anderen Ländern, Russland
zum Beispiel, vergleicht."
GN: "Woran liegt das?"
Philip Sigwart: "Das hängt natürlich sehr viel
mit der politischen Unsicherheit zusammen, mit den ungelösten
Problemen in den Konfliktgebieten zum Beispiel. Die Korruption
ist natürlich auch ein gewichtiges Wachstumshindernis. Und
insgesamt sind die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind nicht
besonders unternehmerfreundlich."
GN: "Können Sie dies konkretisieren?"
Philip Sigwart: "Da gibt es vieles, das Steuersystem zum
Beispiel oder die Gesetzgebung. Nehmen Sie das Arbeitsgesetz.
Das stammt noch aus der Sowjetunion und fordert, wenn man es beim
Wortlaut nimmt, fast mehr soziale Absicherung als in West-Europa.
Das zwingt die kleinen Unternehmen dazu, in der Schattenzone zu
arbeiten."
GN: "Polemisch formuliert: Finanzieren Sie dann den Schatten,
die Steuerhinterziehung?"
Philip Sigwart: "Nein, es ist gerade das Gegenteil. Wenn
Kleinunternehmer einen Kredit von der Bank bekommen, werden sie
sozusagen gezwungen, ein bisschen offizieller zu arbeiten. Sie
bekommen das Geld von einer formellen Institution, die absolut
offen arbeitet. Das ist ja alles registriert, unsere finanziellen
Transaktionen und überprüfbar. Was wir sehen ist, dass
die meisten unserer Kunden umso offizieller arbeiten, je intensiver
die Beziehungen mit einer Bank werden. Das liegt natürlich
auch in dem einfachen Grund, dass, wenn die Unternehmen anfangen,
Bücher zu führen, also eine Buchhaltung aufzubauen,
dass es dann für uns einfacher wird, das Geschäft mitzuverfolgen
und dann auch rascher Entscheidungen zu treffen, ob wir einen
neuen Kredit anbieten oder nicht. Wir sind eigentlich fast ein
Katalysator, der die Unternehmen formalisierter arbeiten lässt
als vorher. Formalisierter heißt, dass sie ein wenig aus
der Schattenwirtschaft rausgehen."
GN: "Gingen Sie nach den Steuerbilanzen, wären die
meisten Ihrer Kunden doch nur bedingt kreditwürdig."
Philip Sigwart: "Es ist natürlich so, dass die meisten
unserer Kunden, die Kredite bis zu 10.000 $ bekommen, keine großartigen
Steuererklärungen abgeben. Es sind halt ganz kleine Unternehmen.
Und ein Teil der Kredite wird ja auch als Privatkredit registriert.
Wenn halt die Rahmenbedingungen so schlecht sind, dass die Leute
gezwungen sind, im Schatten zu operieren, dann heißt das
doch nicht, dass man ihnen die Möglichkeiten versagen darf,
ihr Unternehmen weiter zu entwickeln. Mikrofinanzierung ist natürlich
auch die Finanzierung der informellen Wirtschaft. Nur wenn sich
der informelle Sektor entwickeln kann, kann auch ein großer
Teil in den formellen Sektor abwandern."
GN: "Es gibt eine starke Diskrepanz zwischen offizieller
Statistik und realer Wirtschaftsentwicklung."
Philip Sigwart: "Die Diskrepanz ist eigentlich nicht so
groß. Es ist ja nicht so, dass wir sagen können, es
geht hier alles prächtig voran. Das große Problem ist
die makro-ökonomische Instabilität mit dem ständigen
Budget-Defizit. Das spiegelt sich natürlich in der ganzen
Wirtschaft wieder durch die ständige Unsicherheit, was passiert
denn in nächster Zukunft. Das bringt Unsicherheit auch bei
den Kleinunternehmern."
GN: "Trotzdem wächst die Kaufkraft, wächst der
Handel. Wo sollte denn sonst Ihr Bankwachstum herkommen?"
Philip Sigwart: "Ja, das weisen ja auch die offiziellen
Statistiken mit einem inflationsbereinigten Wachstum von rund
5 % aus."
GN: "Wenn Sie jetzt das Wachstum der Schattenwirtschaft
auf diese statistischen 5 % addieren, können Sie dann das
real existierende Wachstum einigermaßen einschätzen?"
Philip Sigwart: "Das ist natürlich sehr schwer abzuschätzen.
Ich habe alles in allem nicht den Eindruck, dass es ein rasantes
Wachstum gäbe. Es gibt ein gewisses, aber dem fehlt es doch
noch ganz erheblich an Dynamik."
GN: "Wenn nach Ihrer Einschätzung 60 % der Wirtschaft
im Schatten sind, es gibt Leute, die gingen da noch etwas höher
ran, dann ist doch der Schatten der eigentliche Träger der
Wirtschaftsentwicklung."
Philip Sigwart: "Ja natürlich, die Wirtschaft ist schon
das ganze, der formelle und der informelle Sektor. Aber wie viel
das in der Addition ausmacht, davon hat wohl niemand eine exakte
Vorstellung. Es ist auch nicht unbedingt unsere Aufgabe, das zu
bewerten."
GN: "Könnte nicht Ihr Wachstum von 30 % ein Indikator
sein? Andere Banken wachsen ja auch."
Philip Sigwart: "Da kommt ein Phänomen zum Tragen.
Der Bankensektor entsprach vor kurzer Zeit etwa 10 - 15 % des
Bruttosozialprodukts. Dieser Koeffizient wächst langsam,
das heißt, dass der Anteil des Bankensektors an der Gesamtwirtschaft
wächst. Deshalb können die Wachstumsraten der Banken
nicht automatisch auf das Wachstum der Gesamtwirtschaft übertragen
werden."
GN: "Warum reden Sie jetzt Ihre Bilanz und Ihren Erfolg
schlecht?"
Philip Sigwart: "Nein, den Erfolg der Bank wollen wir nicht
schlecht reden. Aber ich möchte einfach klar machen, dass
ich glaube, dass die echte Wachstumsphase erst kommt, wenn einmal
die politischen Probleme geregelt sind, die in Südossetien
und in Abchasien. Denn die ganze Schattenwirtschaft hängt
ja auch damit zusammen, dass die Hälfte des Inlandshandels
mit Waren bestritten wird, die illegal über die Grenze von
Südossetien kommen."
GN: "Wer soll denn da ein Interesse haben, das Problem Südossetien
zu lösen?"
Philip Sigwart: "Die Unternehmer, die formal und offiziell
ihr Geschäft zu führen versuchen. Die auf jeden Fall.
Es gibt natürlich auch andere Unternehmern, die Bestechungsgelder
an die Behörden zahlen und Waren über die Grenzen bringen,
ohne sie zu deklarieren. Die haben natürlich kein Interesse.
Aber der offizielle Teil der Wirtschaft hat natürlich ein
Interesse daran, dass diese Probleme gelöst werden."
GN: "Es werden immer wieder horrende Arbeitslosenzahlen
genannt. Gibt es da nicht auch eine erhebliche Diskrepanz zur
real existierenden Situation?"
Philip Sigwart: "Es ist schwierig, in Georgien überhaupt
über die Arbeitslosigkeit zu reden, weil die Hälfte
der Leute im ganzen Land eigentlich Selbstbeschäftigte, selbständige
Erwerbstätige sind, um irgendwie zu überleben. Und das
sind, streng genommen, keine Arbeitslosen. Das sind viel Leute,
die auf dem Land wohnen. Sie haben zwar kein richtiges, regelmäßiges
Einkommen in Form von Geld. Aber sie leben auf ihrem eigenen Grundstück,
in ihrem eigenen Haus und haben eine paar Schweine und Kühe
und leben davon. Ich habe meine Zweifel, ob man diese Leute alle
unter der Rubrik Arbeitslose führen darf."
GN: "Gilt dies nicht auch für die Handwerker, die an
der Straße stehen und ihre Dienstleistung anbieten. Könnte
man dies nicht schon als die Keimzelle eines gewerblichen Mittelstandes
betrachten oder - auf dem Land - einer Bauernschaft, wenn man
sich die Potenziale im Agrarbereich oder den ungeheuren Sanierungsbedarf
in Tbilissi ansieht?".
Philip Sigwart: "Ich denke, das ist vielleicht doch zu gewagt.
Die meisten Leute haben leider nicht die Initiative, sich aus
der Subsistenz heraus zu einem Unternehmer zu entwickeln. Diese
Leute, die vor sich hin überleben, denken nicht wie Unternehmer,
sie wollen nur überleben. Sie denken nicht, wie kann ich
mich entwickeln, wie kann ich mehr Geld verdienen."
GN: "Obwohl es doch jede Menge an Chancen gäbe, aus
dieser "Vor-Sich-Hin-Überleben-Situation" herauszukommen."
Philip Sigwart: "Ganz sicher gäbe es die. Aber das
ist eine Frage der Mentalität. Ich sehe in der ganzen ehemaligen
Sowjetunion dasselbe Phänomen: die Leute sind irgendwie on
ihrer Erziehung her nicht in der Lage, die richtigen Initiativen
zu ergreifen. Vielleicht wird dies mit der jüngeren Generation
besser."
GN: "Das Thema Armut spielt in der öffentlichen Wahrnehmung
Georgiens vor allem im Ausland eine große Rolle. Zwei Drittel
der Georgier, so heißt es, lebten unterhalb der statistischen
Armutsgrenze. Für Investitionen und Wachstumszenarien eine
völlig falsche Kulisse."
Philip Sigwart: "Das ist alles sehr relativ. Es ist zunächst
einmal eine ganz andere Armut als in anderen Teilen der Welt.
Die meisten Leute hier haben ein Dach über dem Kopf, sie
haben genügend zu essen. Ich glaube nicht, dass in Georgien
viele Leute verhungern. Monetär gesehen sind sie vielleicht
arm, aber sie sind nicht arm wie man arm ist in Indien oder in
gewissen Ländern in Afrika. Das ist etwas anderes, das ist
die postsowjetische Armut."
GN: "Die statistische Armut wird durch das Pro-Kopf-Durchschnittseinkommen
in US-$ definiert. Wie sieht es da mit den großen Finanztransfers
aus, die die Kaufkraft im Lande anheizen. Es geht um die legalen
Transfers, nicht die illegalen wie Geldwäsche. Gibt es da
eine Übersicht im Bankensektor, wie viel Geld jährlich
ins Land fließt?"
Philip Sigwart: "Man spricht von mehreren Hundert Millionen
US-$, die da jährlich nach Georgien fließen. Ohne diese
Geldüberweisungen aus dem Ausland würde es dem Land
viel schlechter gehen, das ist keine Frage. Dasselbe Phänomen
haben wir auch in Armenien, auf dem Balkan oder besonders in Albanien.
Das Land hängt aber nicht nur am Finanztropf seiner Arbeitsemigraten.
Es gibt auch ansehnliche Geldzuflüsse etwa für viele
NGO`s, es gibt die Finanzströme der internationalen Donorinstitutionen.
Da kommt schon einiges an Geldzuflüssen zusammen."
GN: "Ist das der Grund für die Stabilität des
georgischen Lari? Bei dem chronischen Außenhandelsdefizit
müsste die Währung doch schon längst abgestürzt
sein."
Philip Sigwart: "Das ist nur ein Teil der Erklärung.
Der andere Teil ist, dass man die Lari-Geldmenge begrenzt hat,
was zu einer sehr starken Dollarisierung der Wirtschaft führt.
80 % der Geschäfte werden im Dollar abgewickelt. Ob das langfristig
gesund ist, ist eine andere Frage, derzeit funktioniert es. Auf
jeden Fall wäre eine starke Abwertung des Lari für die
Wirtschaft verheerend."
GN: "Sie haben von der Lösung der politischen und wirtschaftlichen
Probleme gesprochen. Sehen Sie eine Chance, dass sich nach dem
2. November und den Parlamentswahlen wirklich etwas ändert,
dass es aufwärts geht?"
Philip Sigwart: "Ich will mit der Stimmungslage in der Belegschaft
unserer Bank antworten: 50 % sagen, es wird sich nichts ändern,
während die anderen 50 % sich ziemlich optimistisch äußern."
GN: "Eine ausgewogene und diplomatisch geschickte Antwort.
Vielen Dank für dieses Gespräch."
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