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Ausgabe 15/03
1. Oktober
Kurzgeschichte:
Am Rande von Zchinwali


Sie standen in Gori an der Autobahnausfahrt nach Zchinwali und suchten am frühen Abend offensichtlich nach einer Mitfahrgelegenheit nach Tbilissi: zwei junge Frauen mit auffällig großen Textilkoffern. Wir hielten an und nach einem kurzen Gespräch war klar, dass eine der beiden aus einem Nachbardorf meines georgischen Begleiters stammte und irgendeine Cousine meines Mitarbeiters kannte. Irgendwie kennen sich die Georgier immer wieder, auch wenn sie erst einmal nachfragen müssen: Wo kommst Du her? Wie ist Dein Familiennamen? Wer ist Dein Vater? Klar, wir nahmen die beiden mit. Was sie in Gori gemacht haben, will ich natürlich wissen. "Wir waren in Zchinwali". Zwei Frauen alleine in Zchinwali und das mit den großen Textilkoffern, an deren gestreiften Design man auf jedem Flughafen der Welt Passagiere aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion erkennt. Ob sie das öfter machen, will ich weiter wissen. "Nicht so oft, nur alle drei Tage" - eine frappierend offene Antwort, die klar macht, dass es sich hier nicht um Zufallsreisende sondern um Handlungsreisende der speziellen georgischen Sorte handelt. Handlungsreisende, die sich auf dem großen Schwarzmarkt in Ergneti am Rande von Zchinwali mit Waren jeglicher Art eindecken, die über Südossetien aus Russland eingeführt werden und weder georgischen Zoll noch Statistik noch Steueramt jemals beschäftigen. Zigaretten führen die Damen mit sich, jede rund 30 Stangen. Das ist eine Menge, sagen sie, bei der ihnen nicht viel passiert, wenn sie von der Polizei aufgegriffen werden. Die Polizei nimmt ihnen dann einfach die Zigaretten ab und lässt sie laufen, wobei anzumerken wäre, dass die Polizei wohl genau weiss, welche Wege diese Zigaretten zum Endverbraucher normalerweise nehmen und die beschlagnahmte Ware ganz sicher nicht in der Asservatenkammer ihres Präsidiums ungenutzt verkommen lassen. Die zwei Damen kaufen die Zigaretten bei einem bestimmten Händler in Ergneti und bringen sie in Tbilissi wieder zu einem bestimmten Händler, der ihnen 50 Tetri pro Stange als Kurierlohn vergütet. Das macht dann 15 GEL am Tag. Abzüglich der Fahrtkosten bleiben knapp 10 GEL übrig, bei rund 20 Besuchen im Monat ein Einkommen, das weit über dem statistisch bekannten durchschnittlichen Monatslohn liegt. Wieviele solcher Kuriere es gibt, will ich wissen. Viele, sagen sie, ohne selbstredend eine konkrete Zahl nennen zu können. Wie dem auch sei, wir überlegen uns den beschäftigungspolitischen Effekt dieser Art von Zigarettengrosshandel: ein paar Hundert Kuriere, die alle Marschroutkas nutzen, um nach Zchinwali zu kommen. Sie alle wären arbeitslos und ohne Einkommen, würden diese Zigaretten ordentlich verzollt und in einem LKW nach Tbilissi zum Großhändler gefahren. Wenn das keine Idee ist für Hartz-Kommission und Arbeitsmarktreformer in Deutschland: Die Schatten-Ich-AG. Zu dumm nur, dass die beiden Damen, Akademikerinnen von Haus aus, vermutlich in der öffentlichen Statistik als Arbeitslose auftauchen. Kurz vor den großen Polizeikontrollen in Tbilissi haben sich die Damen freiwillig aus unserem Auto verabschiedet und sind auf Marschroutkas umgestiegen, deren Fahrer anscheinend auf sie und andere Damen ihres Gewerbes wartete. Denn, das haben sie uns auch gesagt, sie fahren normalerweise nur mit Marschroutkas, deren Fahrer sie persönlich kennen. Vermutlich kennen die Damen viele Fahrer persönlich.


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