Kindergarten oder Staatstheater?
Noch keine Einigung zum Wahlrecht
Das große georgische Staatstheater um das neue Wahlrecht
für die Parlamentswahlen am 2. November geht Akt um Akt,
Szene um Szene unverdrossen weiter. Und noch ist keine Ende der
dramaturgisch geschickt aufgebauten Spannung abzusehen. Zunächst
schien eine grundsätzliche Einigung möglich, nachdem
der amerikanische Präsident mit dem früheren Außenminister
James Baker einen Sonderbotschafter zur Regelung dieser Frage
in den Kaukasus geschickt hatte. Der Amerikaner hatte urplötzlich
die Rolle des "deus ex machina" übernommen, ein
klassischer part auf allen Sommerbühnen der Welt.
Der Auftritt dieses regierungsamtlichen Kindergärtners aus
Washington in der georgischen Parlamentskrabbelstube endete, wie
nicht anders zu erwarten, zunächst einmal mit einer Art Happy
End, kennen sich Baker und Schewardnadse doch aus fernen Zeiten,
als beide noch als Außenminister der damaligen Großmächte
auf den ganz großen Bühnen dieser Welt agierten. Baker
rang dem Georgier das Zugeständnis ab, sich auf allen Ebenen
der Wahlkommissionen mit nur fünf Regierungsvertretern zufrieden
zu geben und der Opposition neun Sitze zu überlassen. Diese
teilte Baker mit je einem Sitz auf alle Parteien auf, die bei
den letzten Kommunalwahlen erfolgreich waren: Arbeiterpartei,
Nationale Bewegung, Vereinte Demokraten, Neue Rechte, Wiedergeburt,
Industrialisten und Einheit. Einen weiteren Sitz sollten die Traditionalisten
und die Anhänger des ehemaligen Präsidenten Gamsachurdia
erhalten, womit das gesamte politische Spektrum in die Verantwortung
für faire Wahlen eingebunden werden sollte. Keiner, so kann
man wohl die Klugheit dieses Plans interpretieren, sollte nach
den Wahlen die Chance haben, die anderen der Fälschung und
des Betrugs zu bezichtigen. Als "Bakers Scorecard" machte
diese Sitzverteilung die Runde, wobei der US-Diplomat, um den
nächste vorprogrammierten dramaturgischen Höhepunkt
des Schauspiels Knackpunkt gleich zu umgehen, vorschlug, dass
der Vorsitzend aller Wahlkommissionen mit parteiunabhängigen
Bürgern besetzt werden sollte, die von keiner geringeren
Instanz als der OSZE auszuwählen seien. Vorschlagsrecht sollten
der Präsident und die Opposition gemeinsam haben. Wer allerdings
geglaubt hatte, das Sommertheater um das Wahlrecht sei mit diesem
weisen Ratschluss des ehemaligen US-Außenministers zu Ende,
sah sich kurze Zeit später getäuscht.
Die als Schiedsinstanz auserwählte OSZE, über Jahrzehnte
erfahren in der Schlichtung großer politischer Krisen, ziert
sich jedoch, sich in derart innergeorgische Händel einzumischen.
Die OSZE könne bei der Abhaltung von demokratischen Wahlen
assistieren, erklärte deren Generalsekretär Jan Kubis,
der sich gerade auf einem Georgien-Aufenthalt befand. "Aber
das sind georgische Wahlen und Georgien sollte die Verantwortung
für die Wahlen übernehmen." Einen Kommentar zu
dem Baker-Vorschlag lehnte der oberste OSZE-Funktionär ab,
dessen Organisation als neutraler Wahl-Beobachter wohl erhebliche
Schwierigkeiten bekommen könnte, sollte sie schon vorab in
die Internas der georgischen Wahlvorbereitung eingebunden werden.
Auch auf georgischer Seite waren nicht alle Akteure mit der Rolle
einverstanden, die ihnen der Gastspieler aus Amerika zugewiesen
hatte. Zwar hatten die Regierung und die meisten Oppositionsparteien
- insbesondere die Neue Rechte mit David Gamkrelidze, die Vereinten
Demokraten mit Surab Schwania und die Nationale Beweung mit Michael
Saakaschwili - bei einem Treffen mit dem Präsidenten am 8.
Juli den US-Vorschlag akzeptiert, danach aber meldeten sich zwei
der Oppositionsparteien mit nachträglichen Forderungen zu
Wort. Die Industrialisten, bei der letzten Parlamentswahl als
einzige wirkliche Oppositionspartei mit mehr als 7 % der Wählerstimmen
erfolgreich, reklamierten aus dieser Position heraus zwei der
neun Oppositionssitze für sich mit der zusätzlichen
Begründung, dass es sich bei all den neuen Oppositionsparteien
doch nur um Abspaltungen aus dem früheren Schewardnadse-Lager
handele.
Die Wiedergeburtspartei des adscharischen Provinzfürsten
Abaschidse fehlte bei dem All-Parteien-Friedensgipfel ebenso wie
die Arbeiterpartei, deren Vorsitzender Schalwa Natelaschwili erklärte,
dass das Treffen beim Präsidenten nur zeremoniellen Charakter
habe und er selbst seine Reputation in der Bevölkerung verliere,
wenn er sich auf solche Treffen mit dem Präsidenten einlasse.
Den Vogel indes schoss die Wiedergeburtspartei von Aslan Abaschidse
ab, indem sie alleine vier der neun Oppositionssitze in allen
Wahlkommissionen forderte. Sollte diese Forderung nicht erfüllt
werden, würde sich die Aghorzineba-Partei überlegen,
ob sie überhaupt an den Wahlen teilnehmen werde. Ein solcher
Schritt wäre gleichbedeutend mit einer de-facto Aussetzung
der Parlamentswahlen in der autonomen Provinz Adscharien.
Eine Klärung des großen Durcheinander sollte eine
Sondersitzung des Parlaments am 21. Juli bringen. Die Frage musste
allerdings vertagt werden, da allzu viele Abgeordnete ihren Protest
gegen den Baker-Plan dadurch zum Ausdruck brachten, dass sie der
Parlamentssitzung einfach fernblieben. Das Parlament musste sich,
wieder einmal, wegen Beschlussunfähigkeit vertagen. Vorläufig
letzte Szene der unendlichen Geschichte um das neue georgische
Wahlrecht: Gegenseitige Schuldzuweisung. Die neuen Oppositionsparteien,
die "Bakers Scorecard" zustimmen, beschuldigen die Industrialisten
und Wiedergeburt, sie würden mit der Regierung heimlich zusammen
arbeiten, um das Wahlgesetz zu Fall zu bringen, während diese
ihrerseits die neue Opposition der heimlichen Nähe zur Regierung
bezichtigen, aus der sie ja hervorgegangen seien. The Show must
go on. Und niemand weiß derzeit, welch bühnentechnischer
Knalleffekt das stauende Publikum in den nächsten Tagen und
Wochen erwartet. Wenn denn überhaupt noch jemand dem traurig-schaurigen
Satyrspiel zuschaut.
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