Die georgische Opposition hat für ihren Wahlkampf die Strasse
entdeckt. Nachdem sie ihre Argumente mit dem Regierungslager zunächst
in den Hinterzimmern des Parlaments ausgetauscht hatte (siehe:
www.georgien-news.de vom "Kopfnuss"), hat sie Anfang
Juni einige Tausend Bürger vor dem georgischen Parlamentsgebäude
in Stellung gegen die Regierung gebracht. Hauptgrund des Protestes
war die bislang ausgebliebene Verabschiedung eines neuen Wahlgesetzes,
wofür sich Regierung und Opposition gegenseitig die Schuld
in die Schuhe schieben. Während die Opposition die Regierung
beschuldigt, faire Wahlen behindern zu wollen, bezichtigt die Regierung
die Opposition der Verweigerung, da diese sich noch immer Parlamentssitzungen
boykottiert und somit das Gesetzgebungsverfahren lähmt. Aller
Versuche, zu einer gemeinsamen Lösung vor allem bei der Besetzung
der Zentralen Wahlkommission zu gelangen, sind bislang gescheitert.
Unterdessen haben einige Mitglieder der alten Zentralen Wahlkommission
ihren Rücktritt erklärt, während Berichterstatter
des Europarates monierten, dass Georgien seiner Verpflichtung, zum
Juni diesen Jahres ein neues Wahlgesetz verabschiedet zu haben,
nicht nachgekommen sei (siehe: Background: "Europarat-Beobachter
-
Kaum Fortschritte im Wahlrecht").
Hinter den Protestaktionen stehen die Parteien "Vereinte
Demokraten", "Bewegung für demokratische Reformen",
"Die neuen Rechten" und die "Traditionalisten".
Die oppositionellen "Industrialisten" um Gogi Topadse
und die "Volkspartei" Natelaschwilis stehen den Protesten
distanziert gegenüber, sodass sich hinter den Führern
der Strassenproteste mit Surab Schwania, Mikhail Saakaschwili
und Davig Gamkrelidse ausgerechnet jene Politiker befinden, die
vor vier Jahren noch im Lager Schewardnadses standen und teilweise
dessen Wahlkampfbüro leiteten. Heute fordern sie mit dem
Vorwurf, Schewardnadse wolle faire Wahlen verhindern oder gar
den Wahltermin ganz und gar verschieben, den sofortigen Rücktritt
ihres einstigen Mentors. "Lächerlich" kommentierte
Niko Lekischwili, Parlamentsmitglied der Regierungsfraktion und
früherer Staatsminister, diesen Wandel seiner ehemaligen
Mitstreiter, denen sich mittlerweile auch Parlamentspräsidentin
Nino Burdschanadse angeschlossen hat. Zumindest zeigte sie sich
vor den Demonstranten und erklärte ihr Bedauern darüber,
dass das Parlament unfähig gewesen sei, das Wahlsystem zu
reformieren. Sie versprach, alles daranzusetzen, dass das Parlament
zumindest die alte Zentrale Wahlkommission von ihren Aufgaben
entbinde.
Bei der strittigen Frage der Zusammensetzung der Zentralen Wahlkommission
sind sich Regierung und Opposition bereits einige Schritte näher
gekommen. Hatte die Regierung zunächst verlangt, die Mehrheit
der Mitglieder direkt bestimmen zu können, hat Staatspräsident
Dschorbenadse einen Tag vor den Straßenprotesten einen Kompromiss
vorgelegt, der die Besetzung der Zentralen Wahlkommission durch
die Parteien vorsieht, die bei den letzten Parlamentswahlen die
7-%-Hürde und bei den letztjährigen Kommunalwahlen die
4-%-Hürde übersprungen haben. Der Vorsitzende soll vom
Staatspräsidenten benannt werden, während die Opposition
fordert, dass die Kommission selbst aus ihrer Mitte einen Vorsitzenden
wählt.
Der publikumswirksam inszenierte Streit um die Besetzung der
Zentralen Wahlkommission geht also weiter, während der von
Schewardnadse vor Jahren bereits ernannte Vorsitzende der derzeitigen
Zentralen Wahlkommission, Dschumber Lominadse, zusammen mit neun
weiteren Mitgliedern sein Mandat niederlegte. Damit sind in der
augenblicklich amtierenden Zentralen Wahlkommission nur noch Mitglieder
vertreten, die dem Regierungslager zugeordnet werden. Das Parlament,
in der Frage eines neuen Wahlgesetzes noch nicht handelseinig,
konnte sich dann mehrheitlich immerhin dazu durchringen, Mitgliedern
der alten Wahlkommission den Zutritt zur neuen Zentralen Wahlkommission
zu verbieten, wie auch immer diese schließlich zusammengesetzt
sein wird.
Ein weiterer Vermittlungsversuch zu diesem Thema im Büro
der Parlamentspräsidentin endete - wie gewohnt - mit dem
Auszug der Opposition. Bis 1. Juli, so der neue Fahrplan, soll
das neue Wahlgesetz dann doch irgendwie fertig sein. Bis dahin
wird sich das Schuldzuweisungsdrama zwischen Regierung und Opposition
vermutlich noch über mehrere Akte hinschleppen. Die georgische
Bevölkerung scheint sich allerdings nicht sonderlich für
die Inszenierung ihrer Politik-Elite zu begeistern, die Schätzungen
schwanken zwischen zwei- und fünftausend Menschen, die die
Opposition vor dem Parlament auftreiben konnte. Die Regierung
warf der Opposition vor, die meist jugendlichen Protestler mit
einem "Tagegeld" auf die Strasse gelockt zu haben, ein
Vorwurf, den die Opposition entrüstet von sich wies und eine
entsprechende Entschuldigung verlangte. Vor ein paar Wochen wurde
eine ähnliche Situation noch in einer diskreten Herrenrunde
in einem Hinterzimmer des Parlaments ausgehandelt.
Die groß angekündigten Straßenaktionen, die
mittlerweile auch außerhalb der georgischen Hauptstadt aufgenommen
wurden, können kaum darüber hinwegtäuschen, dass
es Regierung wie Opposition an den eigentlichen politischen Themen
für diesen Wahlkampf mangelt. Die Regierung hat außer
dem immer wieder deklinierten NATO-Thema nur die Fortführung
der georgischen Mangelwirtschaft und Korruption anzubieten. Und
die Opposition hat außer generellen Korruptionsvorwürfen
an die Adresse der Regierung, der man vor drei Jahren selbst noch
angehörte, bisher keine inhaltlichen Profilierungen erkennen
lassen, geschweige denn irgendwelche politischen oder wirtschaftlichen
Rezepte, mit denen die georgische Dauerkrise bewältigt werden
könnte. So versuchen beide Seiten mit dem Generalvorwurf
an den jeweils anderen, faire Wahlen behindern und dadurch die
Situation destabilisieren zu wollen, ihre Ausgangsposition für
die Wahlen im November zu verbessern.
Niko Lekischwili, MP, Vorsitzender des Steuerzahlerunion und
graue Eminenz im Regierungslager, der sich jedoch einer auffälligen
Zurückhaltung in der tagesaktuellen Politik befleißigt,
sieht denn auch tatsächlich die Gefahr einer Destabilisierung
heraufdämmern. Vielleicht sei eine solche Entwicklung gar
nicht schlecht, kommentierte er die jüngsten Vorgänge
mit einem gewissen Schuss Zynismus, damit die Bevölkerung
endlich einmal aufwache.
Die Regierung beobachtete die Demonstrationen, für die es
anscheinend keine behördliche Genehmigung gab, unterließ
es jedoch, gegen die Protestierer einzuschreiten. Sicherheitsminister
Waleri Chaburzania höchstpersönlich inspizierte die
Proteste aus sicherer Entfernung. Man habe Hinweise, erklärte
er, dass einige Kräfte die Demonstration zur Eskalation der
Lage ausnutzen wollten. Dies müsse er im Auge behalten.
Tags danach forderte Staatspräsident Schewardnadse die Rechtsschutzorgane
des Landes auf, die Rechtmäßigkeit der Demonstrationen
zu prüfen und alle Maßnahmen zu ergreifen, um Unordnung
im Lande zu unterbinden. "Ordnung ist lebenswichtig für
demokratische Wahlen", befand der Präsident und versprach,
alles zu tun, um Ruhe und Ordnung im Land aufrecht zu erhalten.
Die durchaus überschaubare Zahl an Demonstranten, so schätzen
georgische Kommentatoren, war allerdings nicht dazu angetan, den
Präsidenten in Unruhe zu versetzen. So hoffen viele auf entsprechenden
Druck internationaler Institutionen, damit sich die georgischen
Politiker zumindest in der Frage, ob und wie sie die Wahlen vom
November gemeinsam organisieren wollen, doch noch rechtzeitig
einigen. Mit ihrem Zug auf die Straße hat die Opposition
der Staatsmacht jedenfalls keinen größeren Schrecken
einflössen können.
Trotzdem nahmen die Staatsorgane die Aufforderung ihres Präsidenten,
die Rechtmäßigkeit der Demonstrationen genau zu untersuchen
anscheinend ernst und reagierten prompt. Der Staatsanwalt des
Mtazminda-Bezirksgerichts, Mirza Dolidse, hat einen der Organisatoren
der Demonstration, David Gamkrelidse von den "Neuen Rechten",
bereits als ersten Zeugen vorgeladen. Es geht um den Vorwurf der
Störung der öffentlichen Ordnung nach § 226 des
Strafgesetzbuches, konkret um die "Verursachung eines Verkehrsstaus"
durch die Protestdemonstration der Opposition. Die Mindeststrafe
für dieses Vergehen liegt bei drei Jahren Gefängnis.
Ob sich der Wahlkampf jetzt von der Straße in die Gerichtssäle
und später in die Gefängniszellen verlagert? Der Europarat
sollte bis zum November vorsichtshalber einen ständigen Beobachter
in Georgien stationieren. Es scheint, als gäbe es noch viel
zu tun.
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