Ausgabe 10/03
11. Juni


Die georgische Opposition hat für ihren Wahlkampf die Strasse entdeckt. Nachdem sie ihre Argumente mit dem Regierungslager zunächst in den Hinterzimmern des Parlaments ausgetauscht hatte (siehe: www.georgien-news.de vom "Kopfnuss"), hat sie Anfang Juni einige Tausend Bürger vor dem georgischen Parlamentsgebäude in Stellung gegen die Regierung gebracht. Hauptgrund des Protestes war die bislang ausgebliebene Verabschiedung eines neuen Wahlgesetzes, wofür sich Regierung und Opposition gegenseitig die Schuld in die Schuhe schieben. Während die Opposition die Regierung beschuldigt, faire Wahlen behindern zu wollen, bezichtigt die Regierung die Opposition der Verweigerung, da diese sich noch immer Parlamentssitzungen boykottiert und somit das Gesetzgebungsverfahren lähmt. Aller Versuche, zu einer gemeinsamen Lösung vor allem bei der Besetzung der Zentralen Wahlkommission zu gelangen, sind bislang gescheitert. Unterdessen haben einige Mitglieder der alten Zentralen Wahlkommission ihren Rücktritt erklärt, während Berichterstatter des Europarates monierten, dass Georgien seiner Verpflichtung, zum Juni diesen Jahres ein neues Wahlgesetz verabschiedet zu haben, nicht nachgekommen sei (siehe: Background: "Europarat-Beobachter -
Kaum Fortschritte im Wahlrecht"
).

Hinter den Protestaktionen stehen die Parteien "Vereinte Demokraten", "Bewegung für demokratische Reformen", "Die neuen Rechten" und die "Traditionalisten". Die oppositionellen "Industrialisten" um Gogi Topadse und die "Volkspartei" Natelaschwilis stehen den Protesten distanziert gegenüber, sodass sich hinter den Führern der Strassenproteste mit Surab Schwania, Mikhail Saakaschwili und Davig Gamkrelidse ausgerechnet jene Politiker befinden, die vor vier Jahren noch im Lager Schewardnadses standen und teilweise dessen Wahlkampfbüro leiteten. Heute fordern sie mit dem Vorwurf, Schewardnadse wolle faire Wahlen verhindern oder gar den Wahltermin ganz und gar verschieben, den sofortigen Rücktritt ihres einstigen Mentors. "Lächerlich" kommentierte Niko Lekischwili, Parlamentsmitglied der Regierungsfraktion und früherer Staatsminister, diesen Wandel seiner ehemaligen Mitstreiter, denen sich mittlerweile auch Parlamentspräsidentin Nino Burdschanadse angeschlossen hat. Zumindest zeigte sie sich vor den Demonstranten und erklärte ihr Bedauern darüber, dass das Parlament unfähig gewesen sei, das Wahlsystem zu reformieren. Sie versprach, alles daranzusetzen, dass das Parlament zumindest die alte Zentrale Wahlkommission von ihren Aufgaben entbinde.

Bei der strittigen Frage der Zusammensetzung der Zentralen Wahlkommission sind sich Regierung und Opposition bereits einige Schritte näher gekommen. Hatte die Regierung zunächst verlangt, die Mehrheit der Mitglieder direkt bestimmen zu können, hat Staatspräsident Dschorbenadse einen Tag vor den Straßenprotesten einen Kompromiss vorgelegt, der die Besetzung der Zentralen Wahlkommission durch die Parteien vorsieht, die bei den letzten Parlamentswahlen die 7-%-Hürde und bei den letztjährigen Kommunalwahlen die 4-%-Hürde übersprungen haben. Der Vorsitzende soll vom Staatspräsidenten benannt werden, während die Opposition fordert, dass die Kommission selbst aus ihrer Mitte einen Vorsitzenden wählt.

Der publikumswirksam inszenierte Streit um die Besetzung der Zentralen Wahlkommission geht also weiter, während der von Schewardnadse vor Jahren bereits ernannte Vorsitzende der derzeitigen Zentralen Wahlkommission, Dschumber Lominadse, zusammen mit neun weiteren Mitgliedern sein Mandat niederlegte. Damit sind in der augenblicklich amtierenden Zentralen Wahlkommission nur noch Mitglieder vertreten, die dem Regierungslager zugeordnet werden. Das Parlament, in der Frage eines neuen Wahlgesetzes noch nicht handelseinig, konnte sich dann mehrheitlich immerhin dazu durchringen, Mitgliedern der alten Wahlkommission den Zutritt zur neuen Zentralen Wahlkommission zu verbieten, wie auch immer diese schließlich zusammengesetzt sein wird.

Ein weiterer Vermittlungsversuch zu diesem Thema im Büro der Parlamentspräsidentin endete - wie gewohnt - mit dem Auszug der Opposition. Bis 1. Juli, so der neue Fahrplan, soll das neue Wahlgesetz dann doch irgendwie fertig sein. Bis dahin wird sich das Schuldzuweisungsdrama zwischen Regierung und Opposition vermutlich noch über mehrere Akte hinschleppen. Die georgische Bevölkerung scheint sich allerdings nicht sonderlich für die Inszenierung ihrer Politik-Elite zu begeistern, die Schätzungen schwanken zwischen zwei- und fünftausend Menschen, die die Opposition vor dem Parlament auftreiben konnte. Die Regierung warf der Opposition vor, die meist jugendlichen Protestler mit einem "Tagegeld" auf die Strasse gelockt zu haben, ein Vorwurf, den die Opposition entrüstet von sich wies und eine entsprechende Entschuldigung verlangte. Vor ein paar Wochen wurde eine ähnliche Situation noch in einer diskreten Herrenrunde in einem Hinterzimmer des Parlaments ausgehandelt.

Die groß angekündigten Straßenaktionen, die mittlerweile auch außerhalb der georgischen Hauptstadt aufgenommen wurden, können kaum darüber hinwegtäuschen, dass es Regierung wie Opposition an den eigentlichen politischen Themen für diesen Wahlkampf mangelt. Die Regierung hat außer dem immer wieder deklinierten NATO-Thema nur die Fortführung der georgischen Mangelwirtschaft und Korruption anzubieten. Und die Opposition hat außer generellen Korruptionsvorwürfen an die Adresse der Regierung, der man vor drei Jahren selbst noch angehörte, bisher keine inhaltlichen Profilierungen erkennen lassen, geschweige denn irgendwelche politischen oder wirtschaftlichen Rezepte, mit denen die georgische Dauerkrise bewältigt werden könnte. So versuchen beide Seiten mit dem Generalvorwurf an den jeweils anderen, faire Wahlen behindern und dadurch die Situation destabilisieren zu wollen, ihre Ausgangsposition für die Wahlen im November zu verbessern.

Niko Lekischwili, MP, Vorsitzender des Steuerzahlerunion und graue Eminenz im Regierungslager, der sich jedoch einer auffälligen Zurückhaltung in der tagesaktuellen Politik befleißigt, sieht denn auch tatsächlich die Gefahr einer Destabilisierung heraufdämmern. Vielleicht sei eine solche Entwicklung gar nicht schlecht, kommentierte er die jüngsten Vorgänge mit einem gewissen Schuss Zynismus, damit die Bevölkerung endlich einmal aufwache.


Die Regierung beobachtete die Demonstrationen, für die es anscheinend keine behördliche Genehmigung gab, unterließ es jedoch, gegen die Protestierer einzuschreiten. Sicherheitsminister Waleri Chaburzania höchstpersönlich inspizierte die Proteste aus sicherer Entfernung. Man habe Hinweise, erklärte er, dass einige Kräfte die Demonstration zur Eskalation der Lage ausnutzen wollten. Dies müsse er im Auge behalten.

Tags danach forderte Staatspräsident Schewardnadse die Rechtsschutzorgane des Landes auf, die Rechtmäßigkeit der Demonstrationen zu prüfen und alle Maßnahmen zu ergreifen, um Unordnung im Lande zu unterbinden. "Ordnung ist lebenswichtig für demokratische Wahlen", befand der Präsident und versprach, alles zu tun, um Ruhe und Ordnung im Land aufrecht zu erhalten. Die durchaus überschaubare Zahl an Demonstranten, so schätzen georgische Kommentatoren, war allerdings nicht dazu angetan, den Präsidenten in Unruhe zu versetzen. So hoffen viele auf entsprechenden Druck internationaler Institutionen, damit sich die georgischen Politiker zumindest in der Frage, ob und wie sie die Wahlen vom November gemeinsam organisieren wollen, doch noch rechtzeitig einigen. Mit ihrem Zug auf die Straße hat die Opposition der Staatsmacht jedenfalls keinen größeren Schrecken einflössen können.

Trotzdem nahmen die Staatsorgane die Aufforderung ihres Präsidenten, die Rechtmäßigkeit der Demonstrationen genau zu untersuchen anscheinend ernst und reagierten prompt. Der Staatsanwalt des Mtazminda-Bezirksgerichts, Mirza Dolidse, hat einen der Organisatoren der Demonstration, David Gamkrelidse von den "Neuen Rechten", bereits als ersten Zeugen vorgeladen. Es geht um den Vorwurf der Störung der öffentlichen Ordnung nach § 226 des Strafgesetzbuches, konkret um die "Verursachung eines Verkehrsstaus" durch die Protestdemonstration der Opposition. Die Mindeststrafe für dieses Vergehen liegt bei drei Jahren Gefängnis. Ob sich der Wahlkampf jetzt von der Straße in die Gerichtssäle und später in die Gefängniszellen verlagert? Der Europarat sollte bis zum November vorsichtshalber einen ständigen Beobachter in Georgien stationieren. Es scheint, als gäbe es noch viel zu tun.


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