Ausgabe 10/03
11. Juni


UNOMIG-Entführung - die dritte. Die beiden deutschen Geiseln Klaus Ott und Herbert Bauer sowie ihr dänischer Kollege Henrik Sörensen und der georgische Dolmetscher Lascha Tschikaschua wurden von ihren Entführern nach fünf Tagen Geiselnahme wohlbehalten freigelassen, so wie dies bei den beiden anderen Entführungen von UNOMIG-Militärbeobachtern in den vergangenen Jahren auch geschehen war. Die Geiseln wurden ins Tal gebracht und per Hubschrauber ausgeflogen, die Geiselnehmer durften sich über das Gebirge unbehelligt in die Wälder zurückziehen, aus denen sie angeblich gekommen waren. Caucasian business as usual?

Die georgische Regierung hatte den Unterschlupf der acht bewaffneten Geiselnehmer samt ihrer Opfer in einem Bergdorf im oberen Kodorital schnell ausgemacht, sie eingekesselt und über lokale Vermittler Verhandlungen mit ihnen aufgenommen. Gegen die Zusicherung von Straffreiheit und freiem Geleit aus dem Tal ließen die Banditen ihre Opfer schließlich frei - soweit der offizielle Ausgang der Geiselnahme. Auf den ansonsten angedrohten Spezialeinsatz entsprechender georgischer Einheiten konnte verzichtet werden. Gott sei Dank, möchte man sagen, denn nicht alle Sondereinsätze georgischer Sicherheitskräfte sind in den letzten Jahren so abgelaufen, wie sie geplant waren, schon gar nicht in Swanetien. Sowohl die georgische Regierung als auch UNOMIG versicherten, nicht auf die angebliche Forderung von drei Millionen $ Lösegeld eingegangen zu sein. Der deutsche Verteidigungsminister wollte sich zu dieser Frage nicht äussern. The same procedure as …..?

Trotz dieses - fast möchte man sagen gewohnt - guten Ausgangs der Entführung bleiben Fragen, vor allem die Frage nach den Hintermännern. Denn das Kodorital ist überschaubar genug, als dass die georgischen und/oder abchasischen Behörden nicht wissen könnten, wer sich hinter diesem Anschlag verbirgt. Der Tatort ist nur auf drei Wegen zugänglich, einmal durch die Hauptstraße im Kodorital von Suchumi kommend, dann über einen Schotterpass von Innerswanetien her kommend oder über den 2.781 m hohen Kluchoris-Pass, der von Norden, der Russischen Föderation, her führt. Alle drei Zugänge sind unter der vollen Kontrolle der drei Konfliktbeteiligten Georgien, Russland und/oder Abchasien. Ein paar andere mögliche Zugänge sind Angelegenheit für Alpinisten, führen über Stock und Stein, durch Wälder und über Almen, die derzeit teilweise noch mit Schnee bedeckt sind.

Im oberen Kodorital, das unter georgischer Kontrolle steht, leben in ein paar Kleinstsiedlungen ein paar Hundert Menschen in einer traditionellen Clan-Gesellschaft, vielleicht mögen es ein paar Tausend sein. Da kann die Bewegung von acht bewaffneten Männern mit vier Geiseln schwerlich unbemerkt bleiben, geschweige denn, dass es einem Ortsunkundigen möglich wäre, ohne Unterstützung der lokalen Bevölkerung eine geheime Unterkunft samt Verpflegung für 12 Personen zu organisieren. Dass sie mit ihren Geiseln nach Bekanntwerden der Entführung aus dem Kodorital entkommen konnten, davon durfte keiner der Banditen ausgehen.

Der rasche Ausgang, angeblich ohne Zahlung eines Lösegeldes, bei gleichzeitigem freien Geleit für die Entführer, lässt Spielraum für alle möglichen Vermutungen und Spekulationen. Davon wurde in den letzten Tagen in Tbilissi reichlich Gebrauch gemacht, wie gewohnt, muss man jetzt sagen. Jeder hat seine eigene Version, basierend selbstverständlich auf den vertraulichen Informationen eines wirklichen Insiders, und jede Version sagt zumindest ebensoviel über die politischen oder wirtschaftlichen Interessen des Informanten aus wie über den Vorgang, den sie beschreibt.

Wir listen im folgenden einige der Variationen, die uns bei unseren Recherchen angeboten wurden, auf und überlassen die Bewertung dieser möglichen Hintergründe dem Urteil unserer Leser, wobei wir unsere Erfahrung mit auf den Weg geben, bei jedem Vorgang dieser Art zunächst einmal nach den propagandistischen Nutzniessern einer solchen Aktion zu fragen. Vielleicht kann man sich im Dickicht der Spekulationen mit dieser Hilfskonstruktion dem wahren Hintergrund wenigstens etwas annähern. Es sei denn, es war wirklich eine rein kriminelle Aktion mit dem einzigen Zweck, Geld zu erpressen. Dann könnte man sich alle weiteren Überlegungen sparen. Aber wer spart sich schon weitere Überlegungen in dieser an Mythen und Legenden ebenso reichen Weltgegend wie an Analytikern und Gewährsmännern.

Hier also das aktuelle Angebot an - selbstredend überzeugend und schlüssig begründeten - Hintermännern dieser Entführung:

1. Russische Friedenstruppen - politischer Hintergrund

Bei ihren Patrouillen im Kodorital - wie auch bei ihren Aktivitäten in Abchasien - werden die unbewaffneten UNOMIG-Soldaten von bewaffneten Kräften der GUS-Friedenstruppe begleitet, die ausschliesslich von russischen Militärs gestellt werden. Das Mandat der Russen ist in Georgien umstritten. Im vergangenen Jahr versuchten die russischen Peacekeeper in einer einseitigen Aktion und ohne Rückkoppelung mit Georgien oder der UNOMIG, einen Blockposten im oberen Kodorital wieder zu beleben, was zu einer kurzfristigen direkten Konfrontation georgischer und russischer Soldaten führte. Ein herbeitelefoniertes Machtwort der beiden Präsidenten Putin und Schewardnadse beendete das damalige dramatische Szenario, die russischen Soldaten mussten sich wieder nach Suchumi zurückziehen (siehe www.georgien-news.de vom 2002), das obere Kodorital blieb georgisch.

Aus diesem Grunde, so die Befürworter dieser Theorie, suchten die russischen Friedenstruppen einen Grund, das Thema Blockposten im oberen Kodorital, das derzeit ausschliesslich von Georgiern und lokalen Swanen kontrolliert wird, erneut zu begründen und die Schmach ihres damaligen erfolglosen Ausflugs ins Grüne vergessen zu machen. Sofort nach der Entführung war aus Kreisen der russischen Friedenstruppen denn auch zu vernehmen, dass mit einem funktionierenden russischen Blockposten im oberen Kodorital ein solcher Überfall hätte vermieden werden können, worauf die Georgier - alle russischen Nachtigallen auf einmal trapsen hörend - sofort konterten und die Russen vor einseitigen Massnahmen im Kodorital warnten. Dass die russischen Soldaten beim Überfall durch die acht bewaffneten Banditen keinerlei Widerstand leisteten, um ihre UNOMIG-Patrouille zu schützen, nährt in den Augen ihrer Befürworter diese Version.

2. Russische Friedenstruppen - krimineller Hintergrund

Diese These geht von der Annahme aus, dass die russischen Friedenstruppen - wie die gesamte russische Armee - hoffnungslos unterbezahlt sind und sich ihre Kommandeure deshalb keinem möglichen Nebenverdienst von vorneherein verschliessen können. Für diese These spricht für deren Befürworter natürlich auch die Tatsache, dass die russischen Peacekeeper ihre UNOMIG-Kameraden nicht verteidigten und sich brav entwaffnen und nach Hause schicken liessen.

3. Swanische Clans

Die These geht davon aus, dass Rivalitäten in der swanischen Gesellschaft im Kodorital - es geht hier vor allem um den "Persönlichen Beauftragten des georgischen Präsidenten für das Kodorital" Emsar Kwiziani - in dieser Entführung kulmulierten. Genauere Hintergründe für solche Clan-Rivalitäten im Kodorital, auch "Abchaseti Swaneti" genannt, werden nicht aufgeführt.

4. Gegner einer Verhandlungslösung in Abchasien

Jeder Konflikt gebirt seine Gewinnler, die auf allen Seiten der angeblichen Frontlinien zu Hause sind und über diese hinweg emsig zusammenarbeiten, zu allseitigem Nutzen versteht sich. Solchen, meist unbekannten "Strukturen" sind natürlich Fortschritte in den Verhandlungen ein Dorn im Auge, da sie die "friedlichen" Geschäftsbeziehungen stören. Eine kleine Entführung wird von den Befürwortern dieser Theorie als nicht ganz unpraktisch für "solche Kreise" eingeschätzt.

5. Abchasen - politischer Hintergrund

Die separatistische Regierung von Abchasien verweigert jede weitere Verhandlung mit Georgien auf der Basis des Boden-Papiers (früherer UN-Sonderbotschafter für den Abchasienkonflikt) mit der Begründung, dass die Anwesenheit georgischen Militärs im oberen Kodorital die Bestimmungen des Moskauer Waffenstillstandes verletze. Mit dieser Entführung, so diese Theorie, solle das Augenmerk wieder auf dieses Thema gelenkt und die Verhandlungen nach dem Sotschi-Gipfel von Putin und Schewardnadse über die Rückkehr georgischer Flüchtlinge nach Abchasien im Gegenzug für die Wiedereröffnung der Eisenbahnlinie Sotschi-Suchumi-Tbilissi nachhaltig gestört werden.

6. Abchasen - krimineller Hintergrund

Im April sind aus einem Gefängnis in Suchumi mehrere Häftlinge, darunter auch Schwerverbrecher, geflohen. Neben Abchasen sollen auch Tschetschenen und Georgier dabei gewesen sein. Ihnen traut man, zusammen mit swanischen Banditen, denen der Tourismus derzeit nicht genügend Opfer nachliefert, die Geiselnahme zu. Diese Theorie geht davon aus, dass sich in diesem von allen Seiten abgeriegelten und von vielerlei militärischen Autoritäten kontrollierten Tal doch allerhand lichtscheues Gesindel herumtreibt. Abchasien hat Tbilissi schon seit geraumer Zeit beschuldigt, diesen Verbrechern im oberen Kodorital Unterschlupf zu gewähren.

7. Georgische Strukturen - politischer Hintergrund

Georgische Strukturen suchen - oder inszenieren - jeden Grund, um im oberen Kodorital, das unter ihrer Kontrolle steht, ihre Präsenz zu demonstrieren und auszubauen. Durch die rasche Lösung der Geiselnahme haben sie demonstriert, dass sie die Lage im Kodorital im Griff haben. Das ist eine der an der Informationsbörse gehandelten georgischen Hintergründe der Geiselnahme. Dem steht eine andere Version gegenüber, wonach es politische Kräfte in Georgien gäbe, die an Fortschritten in der Abchasienfrage aus wahltaktischen Erwägungen nicht interessiert sein können, und deshalb mit einer Entführung die georgische Regierung vorführen wollten. Mit dem schnellen und unblutigen Zugriff der georgischen Regierung dürfte dieses Ziel allerdings kaum erreicht worden sein.

8. Georgische Regierung - Al Qaida-Version

Nach einer Version des früheren georgischen Verteidigungsministers Tengiz Kitowani hat die georgische Regierung die Entführung inszeniert, um sie der von ihr immer wieder ins Spiel gebrachten Anwesenheit von Al-Qaida-Leuten in Abchasien anlasten zu können. Damit wolle Eduard Schewardnadse das Augenmerk der Welt im Kampf gegen den internationalen Terrorismus auf Abchasien lenken und eine Präsenz amerikanischer Truppen in Abchasien herbeireden. Tengiz Kitowani hat gleichzeitig mit diesem Statement seine Direkt-Kandidatur für das georgische Parlament im Tbilisser Wahlbezirk Mtazminda-Krzanissi angekündigt.

PS 1:
Zur Befreiung der Geiseln erklärte Emsar Kwiziani in einem TV-Interview, dass die Verhandlungen in Tbilissi geführt wurden, da die Entführung in der georgischen Hauptstadt geplant worden sei. Den Kidnappern sei von irgendjemand eine große Summe für die Ausführung des Verbrechens versprochen worden. In einem früheren Interview hatte Kwiziani die Beteiligung der GUS-Friedenstruppen an der Entführung für wahrscheinlich gehalten.

PS 2:
Nach der Befreiung der Geiseln hat die Persönliche Beauftragte des UN-Generalsekretärs für den Abchasienkonflikt und Leiterin der UNOMIG-Mission erklärt, die Patrouillen im Kodorital würden ungeachtet des jüngsten Zwischenfalls fortgesetzt


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