UNOMIG-Entführung - die dritte. Die beiden deutschen Geiseln
Klaus Ott und Herbert Bauer sowie ihr dänischer Kollege Henrik
Sörensen und der georgische Dolmetscher Lascha Tschikaschua
wurden von ihren Entführern nach fünf Tagen Geiselnahme
wohlbehalten freigelassen, so wie dies bei den beiden anderen Entführungen
von UNOMIG-Militärbeobachtern in den vergangenen Jahren auch
geschehen war. Die Geiseln wurden ins Tal gebracht und per Hubschrauber
ausgeflogen, die Geiselnehmer durften sich über das Gebirge
unbehelligt in die Wälder zurückziehen, aus denen sie
angeblich gekommen waren. Caucasian business as usual?
Die georgische Regierung hatte den Unterschlupf der acht bewaffneten
Geiselnehmer samt ihrer Opfer in einem Bergdorf im oberen Kodorital
schnell ausgemacht, sie eingekesselt und über lokale Vermittler
Verhandlungen mit ihnen aufgenommen. Gegen die Zusicherung von
Straffreiheit und freiem Geleit aus dem Tal ließen die Banditen
ihre Opfer schließlich frei - soweit der offizielle Ausgang
der Geiselnahme. Auf den ansonsten angedrohten Spezialeinsatz
entsprechender georgischer Einheiten konnte verzichtet werden.
Gott sei Dank, möchte man sagen, denn nicht alle Sondereinsätze
georgischer Sicherheitskräfte sind in den letzten Jahren
so abgelaufen, wie sie geplant waren, schon gar nicht in Swanetien.
Sowohl die georgische Regierung als auch UNOMIG versicherten,
nicht auf die angebliche Forderung von drei Millionen $ Lösegeld
eingegangen zu sein. Der deutsche Verteidigungsminister wollte
sich zu dieser Frage nicht äussern. The same procedure as
..?
Trotz dieses - fast möchte man sagen gewohnt - guten Ausgangs
der Entführung bleiben Fragen, vor allem die Frage nach den
Hintermännern. Denn das Kodorital ist überschaubar genug,
als dass die georgischen und/oder abchasischen Behörden nicht
wissen könnten, wer sich hinter diesem Anschlag verbirgt.
Der Tatort ist nur auf drei Wegen zugänglich, einmal durch
die Hauptstraße im Kodorital von Suchumi kommend, dann über
einen Schotterpass von Innerswanetien her kommend oder über
den 2.781 m hohen Kluchoris-Pass, der von Norden, der Russischen
Föderation, her führt. Alle drei Zugänge sind unter
der vollen Kontrolle der drei Konfliktbeteiligten Georgien, Russland
und/oder Abchasien. Ein paar andere mögliche Zugänge
sind Angelegenheit für Alpinisten, führen über
Stock und Stein, durch Wälder und über Almen, die derzeit
teilweise noch mit Schnee bedeckt sind.
Im oberen Kodorital, das unter georgischer Kontrolle steht, leben
in ein paar Kleinstsiedlungen ein paar Hundert Menschen in einer
traditionellen Clan-Gesellschaft, vielleicht mögen es ein
paar Tausend sein. Da kann die Bewegung von acht bewaffneten Männern
mit vier Geiseln schwerlich unbemerkt bleiben, geschweige denn,
dass es einem Ortsunkundigen möglich wäre, ohne Unterstützung
der lokalen Bevölkerung eine geheime Unterkunft samt Verpflegung
für 12 Personen zu organisieren. Dass sie mit ihren Geiseln
nach Bekanntwerden der Entführung aus dem Kodorital entkommen
konnten, davon durfte keiner der Banditen ausgehen.
Der rasche Ausgang, angeblich ohne Zahlung eines Lösegeldes,
bei gleichzeitigem freien Geleit für die Entführer,
lässt Spielraum für alle möglichen Vermutungen
und Spekulationen. Davon wurde in den letzten Tagen in Tbilissi
reichlich Gebrauch gemacht, wie gewohnt, muss man jetzt sagen.
Jeder hat seine eigene Version, basierend selbstverständlich
auf den vertraulichen Informationen eines wirklichen Insiders,
und jede Version sagt zumindest ebensoviel über die politischen
oder wirtschaftlichen Interessen des Informanten aus wie über
den Vorgang, den sie beschreibt.
Wir listen im folgenden einige der Variationen, die uns bei unseren
Recherchen angeboten wurden, auf und überlassen die Bewertung
dieser möglichen Hintergründe dem Urteil unserer Leser,
wobei wir unsere Erfahrung mit auf den Weg geben, bei jedem Vorgang
dieser Art zunächst einmal nach den propagandistischen Nutzniessern
einer solchen Aktion zu fragen. Vielleicht kann man sich im Dickicht
der Spekulationen mit dieser Hilfskonstruktion dem wahren Hintergrund
wenigstens etwas annähern. Es sei denn, es war wirklich eine
rein kriminelle Aktion mit dem einzigen Zweck, Geld zu erpressen.
Dann könnte man sich alle weiteren Überlegungen sparen.
Aber wer spart sich schon weitere Überlegungen in dieser
an Mythen und Legenden ebenso reichen Weltgegend wie an Analytikern
und Gewährsmännern.
Hier also das aktuelle Angebot an - selbstredend überzeugend
und schlüssig begründeten - Hintermännern dieser
Entführung:
1. Russische Friedenstruppen - politischer Hintergrund
Bei ihren Patrouillen im Kodorital - wie auch bei ihren Aktivitäten
in Abchasien - werden die unbewaffneten UNOMIG-Soldaten von bewaffneten
Kräften der GUS-Friedenstruppe begleitet, die ausschliesslich
von russischen Militärs gestellt werden. Das Mandat der Russen
ist in Georgien umstritten. Im vergangenen Jahr versuchten die
russischen Peacekeeper in einer einseitigen Aktion und ohne Rückkoppelung
mit Georgien oder der UNOMIG, einen Blockposten im oberen Kodorital
wieder zu beleben, was zu einer kurzfristigen direkten Konfrontation
georgischer und russischer Soldaten führte. Ein herbeitelefoniertes
Machtwort der beiden Präsidenten Putin und Schewardnadse
beendete das damalige dramatische Szenario, die russischen Soldaten
mussten sich wieder nach Suchumi zurückziehen (siehe
www.georgien-news.de vom 2002), das obere Kodorital blieb
georgisch.
Aus diesem Grunde, so die Befürworter dieser Theorie, suchten
die russischen Friedenstruppen einen Grund, das Thema Blockposten
im oberen Kodorital, das derzeit ausschliesslich von Georgiern
und lokalen Swanen kontrolliert wird, erneut zu begründen
und die Schmach ihres damaligen erfolglosen Ausflugs ins Grüne
vergessen zu machen. Sofort nach der Entführung war aus Kreisen
der russischen Friedenstruppen denn auch zu vernehmen, dass mit
einem funktionierenden russischen Blockposten im oberen Kodorital
ein solcher Überfall hätte vermieden werden können,
worauf die Georgier - alle russischen Nachtigallen auf einmal
trapsen hörend - sofort konterten und die Russen vor einseitigen
Massnahmen im Kodorital warnten. Dass die russischen Soldaten
beim Überfall durch die acht bewaffneten Banditen keinerlei
Widerstand leisteten, um ihre UNOMIG-Patrouille zu schützen,
nährt in den Augen ihrer Befürworter diese Version.
2. Russische Friedenstruppen - krimineller Hintergrund
Diese These geht von der Annahme aus, dass die russischen Friedenstruppen
- wie die gesamte russische Armee - hoffnungslos unterbezahlt
sind und sich ihre Kommandeure deshalb keinem möglichen Nebenverdienst
von vorneherein verschliessen können. Für diese These
spricht für deren Befürworter natürlich auch die
Tatsache, dass die russischen Peacekeeper ihre UNOMIG-Kameraden
nicht verteidigten und sich brav entwaffnen und nach Hause schicken
liessen.
3. Swanische Clans
Die These geht davon aus, dass Rivalitäten in der swanischen
Gesellschaft im Kodorital - es geht hier vor allem um den "Persönlichen
Beauftragten des georgischen Präsidenten für das Kodorital"
Emsar Kwiziani - in dieser Entführung kulmulierten. Genauere
Hintergründe für solche Clan-Rivalitäten im Kodorital,
auch "Abchaseti Swaneti" genannt, werden nicht aufgeführt.
4. Gegner einer Verhandlungslösung in Abchasien
Jeder Konflikt gebirt seine Gewinnler, die auf allen Seiten der
angeblichen Frontlinien zu Hause sind und über diese hinweg
emsig zusammenarbeiten, zu allseitigem Nutzen versteht sich. Solchen,
meist unbekannten "Strukturen" sind natürlich Fortschritte
in den Verhandlungen ein Dorn im Auge, da sie die "friedlichen"
Geschäftsbeziehungen stören. Eine kleine Entführung
wird von den Befürwortern dieser Theorie als nicht ganz unpraktisch
für "solche Kreise" eingeschätzt.
5. Abchasen - politischer Hintergrund
Die separatistische Regierung von Abchasien verweigert jede weitere
Verhandlung mit Georgien auf der Basis des Boden-Papiers (früherer
UN-Sonderbotschafter für den Abchasienkonflikt) mit der Begründung,
dass die Anwesenheit georgischen Militärs im oberen Kodorital
die Bestimmungen des Moskauer Waffenstillstandes verletze. Mit
dieser Entführung, so diese Theorie, solle das Augenmerk
wieder auf dieses Thema gelenkt und die Verhandlungen nach dem
Sotschi-Gipfel von Putin und Schewardnadse über die Rückkehr
georgischer Flüchtlinge nach Abchasien im Gegenzug für
die Wiedereröffnung der Eisenbahnlinie Sotschi-Suchumi-Tbilissi
nachhaltig gestört werden.
6. Abchasen - krimineller Hintergrund
Im April sind aus einem Gefängnis in Suchumi mehrere Häftlinge,
darunter auch Schwerverbrecher, geflohen. Neben Abchasen sollen
auch Tschetschenen und Georgier dabei gewesen sein. Ihnen traut
man, zusammen mit swanischen Banditen, denen der Tourismus derzeit
nicht genügend Opfer nachliefert, die Geiselnahme zu. Diese
Theorie geht davon aus, dass sich in diesem von allen Seiten abgeriegelten
und von vielerlei militärischen Autoritäten kontrollierten
Tal doch allerhand lichtscheues Gesindel herumtreibt. Abchasien
hat Tbilissi schon seit geraumer Zeit beschuldigt, diesen Verbrechern
im oberen Kodorital Unterschlupf zu gewähren.
7. Georgische Strukturen - politischer Hintergrund
Georgische Strukturen suchen - oder inszenieren - jeden Grund,
um im oberen Kodorital, das unter ihrer Kontrolle steht, ihre
Präsenz zu demonstrieren und auszubauen. Durch die rasche
Lösung der Geiselnahme haben sie demonstriert, dass sie die
Lage im Kodorital im Griff haben. Das ist eine der an der Informationsbörse
gehandelten georgischen Hintergründe der Geiselnahme. Dem
steht eine andere Version gegenüber, wonach es politische
Kräfte in Georgien gäbe, die an Fortschritten in der
Abchasienfrage aus wahltaktischen Erwägungen nicht interessiert
sein können, und deshalb mit einer Entführung die georgische
Regierung vorführen wollten. Mit dem schnellen und unblutigen
Zugriff der georgischen Regierung dürfte dieses Ziel allerdings
kaum erreicht worden sein.
8. Georgische Regierung - Al Qaida-Version
Nach einer Version des früheren georgischen Verteidigungsministers
Tengiz Kitowani hat die georgische Regierung die Entführung
inszeniert, um sie der von ihr immer wieder ins Spiel gebrachten
Anwesenheit von Al-Qaida-Leuten in Abchasien anlasten zu können.
Damit wolle Eduard Schewardnadse das Augenmerk der Welt im Kampf
gegen den internationalen Terrorismus auf Abchasien lenken und
eine Präsenz amerikanischer Truppen in Abchasien herbeireden.
Tengiz Kitowani hat gleichzeitig mit diesem Statement seine Direkt-Kandidatur
für das georgische Parlament im Tbilisser Wahlbezirk Mtazminda-Krzanissi
angekündigt.
PS 1:
Zur Befreiung der Geiseln erklärte Emsar Kwiziani in einem
TV-Interview, dass die Verhandlungen in Tbilissi geführt
wurden, da die Entführung in der georgischen Hauptstadt geplant
worden sei. Den Kidnappern sei von irgendjemand eine große
Summe für die Ausführung des Verbrechens versprochen
worden. In einem früheren Interview hatte Kwiziani die Beteiligung
der GUS-Friedenstruppen an der Entführung für wahrscheinlich
gehalten.
PS 2:
Nach der Befreiung der Geiseln hat die Persönliche Beauftragte
des UN-Generalsekretärs für den Abchasienkonflikt und
Leiterin der UNOMIG-Mission erklärt, die Patrouillen im Kodorital
würden ungeachtet des jüngsten Zwischenfalls fortgesetzt
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