Kriminalität ist ein zeitloses Thema, in den letzten Jahren
werden Probleme damit vermehrt diskutiert. Den Hintergrund bilden
die gesellschaftlichen Umbrüche, etwa im Zusammenhang mit der
wachsenden Globalisierung, in Europa vor allem der Zusammenbruch
des sozialistisch-kommunistischen Systems. Die früheren Sowjetländer
hatten viele Probleme und Nachteile, in einem waren sie allerdings
bevorzugt: Die Kriminalitätsbelastung war dort niedriger. Der
Wandel brachte allerdings auch hier eine Änderung. Die Kriminalitätsrate
steigt seit der politischen und gesellschaftlichen Wende in all
diesen Ländern mehr oder weniger deutlich an - zumindest wenn
man den offiziellen Kriminalstatistiken glaubt. Das schafft Verunsicherungen,
Verbrechensfurcht - und vor diesem Hintergrund neue gesetzliche
Regelungen, mit denen man versucht, dem Problem Herr zu werden.
Um diese Fragen ging es bei einer sehr gut besuchten internationalen
Tagung von Kriminologen und Juristen, die von deutschen Experten
angeregt und geplant wurde und vom 18. - 20. Mai 2003 im Marriott-Hotel
in Tbilissi, der Hauptstadt Georgiens, stattfand. Eingeladen waren
neben Fachleuten aus Deutschland und Georgien Vertreter aus den
zwei weiteren Kaukasusländern Armenien und Aserbaidschan.
Finanziert wurde das Treffen von der Deutschen Gesellschaft für
Technische Zusammenarbeit (GTZ) GmbH, die auch die Organisation
vor Ort übernahm, sowie dem Deutschen Akademischen Austauschdienst
(DAAD). Die Tagung beschäftige sich schwerpunktmäßig
mit den vier Themenbereichen:
- Kriminalität und Kriminalitätsentwicklung in Ost
und West,
- Strafrechtsentwicklung,
- Strafvollzug und Sanktionsentwicklung
- Einstellung zu Kriminalsanktionen.
Die Themen stießen auf ausgesprochen große Resonanz,
was man auch an der ausgesprochen starken Medienpräsenz festmachen
konnte. Ausgerichtet wurde die Tagung von der Universität
Freiburg, dem Institut für Staat und Recht der Akademie der
Wissenschaften Georgiens in Tbilissi, sowie der Gesellschaft für
Technische Zusammenarbeit (GTZ) GmbH. Aus allen vier beteiligten
Ländern, darüber hinaus aus Japan und Bulgarien, waren
Experten angereist, die in Referaten zu den einzelnen Themen Stellung
nahmen. Hat man auf vergleichbaren internationalen Treffen vielfach
wenig Zeit zur Diskussion, war das hier anders, was von den Teilnehmern
sehr begrüßt wurde und sich als sehr fruchtbar erwies.
Helmut Kury, Professor an der Universität Freiburg und Wissenschaftlicher
Referent am Max-Planck-Institut für ausländisches und
internationales Strafrecht, einer der Hauptorganisatoren der Tagung,
ging in seinem Eingangsreferat auf die Problematik internationaler
Kriminalitätsvergleiche ein. Wieweit sind die in der Kriminalstatistik
der einzelnen Länder erfassten und registrierten Straftaten
überhaupt ein zuverlässiger Indikator für die Kriminalitätsbelastung
in einem Land. Wenn schon Kriminalstatistiken in westlichen Industrieländern
mit Vorsicht zu interpretieren sind, vor allem auch was längsschnittliche
Kriminalitätsvergleiche angeht, trifft das hinsichtlich Vergleichen
zwischen Ländern mit erheblichen unterschiedlichen Sozial-
und vor allem auch Sanktionsstrukturen noch weit mehr zu.
Vergleiche zwischen westlichen Industrieländern und solchen
des ehemaligen Ostblocks zeigen vor allem zwei Unterschiede: zum
einen ist die offizielle Kriminalitätsbelastung in den ehemals
sozialistischen Ländern erheblich niedriger als in den Westländern
und zum anderen ist die Quote der inhaftierten Straftäter
erheblich höher. Das drängt vor dem Hintergrund in der
Bevölkerung gepflegter und immer wieder, etwa von Medien
aber auch Politikern "bestätigter" Einstellungsstrukturen,
den Schluss auf, dass letzteres ersteres bedinge. Liegt etwa die
Kriminalitätsbelastung in Deutschland in den letzten Jahren,
bezogen auf 100.000 der Bevölkerung bei etwa knapp 8.000
registrierten Straftaten, bewegen sich die Vergleichswerte in
den Kaukasusländern teilweise um 200 bis 300. Die Sanktionseinstellung
in der Bevölkerung ist in diesen Ländern gleichzeitig
wesentlich sanktionsorientierter als etwa in Deutschland. Vielfach
wurde die Todessstrafe erst vor kurzem abgeschafft oder wurde
lediglich ausgesetzt.
Anna Margaryan von der Universität in Yerevan/Armenien berichtete
über die Kriminalitätsentwicklung in ihrem Lande, die
bis 1992 anstieg, um dann allerdings wieder abzufallen, auf ein
für deutsche und westeuropäische Verhältnisse traumhaftes
Niveau von ca. 300 Straftaten pro 100.000 der Bevölkerung.
Sie erklärte diese vergleichsweise niedrige Kriminalitätsbelastung
damit, dass es sich hier um ein kleines, überschaubares Land
handele, durch die hohe Bevölkerungsdichte die soziale Kontrolle
größer sei, auch die traditionellen Familienstrukturen
hierzu einen Beitrag leisteten, die Bevölkerung sehr homogen
sei, lediglich ca. 3 % Ausländer seien, schließlich
die geschlossene Nationalkultur eine "Westernisierung"
weitgehend verhindern konnte.
Mancher dieser Punkte dürfte auch auf die anderen Kaukasusländer
zutreffen. Das ergab sich etwa aus den Beiträgen von Adyl
Aliev, Vertreter des Justizministeriums Aserbaidschans oder Georgi
Todria vom Institut für Staat und Recht aus Georgien, der
vor allem auch auf Probleme der Kriminalprävention einging.
Frau Eliko Ciklauri-Lammich, Max-Planck-Institut (MPI) Freiburg,
berichtete über die Entwicklung der organisierten Kriminalität
(OK) in Deutschland, Georgi Glonti, ebenfalls vom Institut für
Staat und Recht, über die entsprechende Situation in Georgien.
Hier tritt die Offene Kriminalität viel offener zutage, ist
sozusagen auf der Strasse sichtbar, ist geradezu integraler Bestandteil
des alltäglichen Lebens. Siegfried Lammich vom MPI Freiburg
informierte über die neuesten Entwicklungstendenzen im Bereich
der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen.
Im zweiten Themenblock ging es um die Strafrechtsentwicklung.
Zunächst arbeitete Prof. Dr. Angelika Nussberger, Professorin
und Leiterin des Instituts für Ostrecht in Köln, die
Bedeutung der Menschenrechtskonvention für die Entwicklung
des Strafrechts und der Sanktionspraxis heraus. Nach dem Zusammenbruch
des Kommunismus war der Europarat plötzlich ein Orientierungspunkt
für die neuen unabhängig gewordenen Staaten. Die Referentin
ging auf die Bedeutung einzelner Regelungen der Europäischen
Menschenrechtskonvention ein, wie Gesetzesvorbehalt, Vorführung
vor einem Richter, Wahrung gesetzlicher Fristen oder die Überprüfung
der Rechtsmäßigkeit der Freiheitsentziehung. Sergey
Arakelyan, Professor an der Universität in Yerevan /Armenien
und Ramella Guelalieva von der Universtät Baku / Aserbaidschan
stellten die neuen Strafrechtsentwicklungen in Armenien und Aserbaidschan
dar. Toshio Yoshida von der Universität Sapporo/ Japan berichtete
über Entwicklungen in Strafrecht und Sanktionspraxis sowie
die Einstellung zu Sanktionen in Japan, einem Lande, dass ja einerseits
hoch industrialisiert ist, gleichzeitig aber im Vergleich zu den
westlichen Industrieländern eine niedrige Kriminalitätsbelastung
hat, die etwa bei einem Drittel Deutschlands liegt. Japan ist
auch durch eine relativ harte Sanktionspraxis charakterisiert
- die Todesstrafe wird nach wie vor nicht nur verhängt, sondern
auch praktiziert. Das korrespondiert, wie internationale Untersuchungen
auch für andere Länder zeigen können, so beispielsweise
vor allem etwa auch die USA, mit einer entsprechenden sanktionsorientierten
Einstellung in der Bevölkerung.
Ein Highlight der Tagung waren die Beiträge und Diskussionen
zum Themenbereich Strafvollzug. Das verwundert insofern nicht,
als sich hier in den relativ armen Kaukasusländern mit einer
relativ hohen Inhaftierungsquote besondere Probleme ergeben -
allerdings nicht nur hier, wie wir aus der Diskussion etwa in
Deutschland wissen. Die Vollzugsanstalten sind überfüllt,
die Unterbringungsbedingungen der Gefangenen im Vergleich zu westlichen
Standards vielfach nur als katastrophal zu charakterisieren. Das
konnten die Tagungsteilnehmer auch bei einem die Veranstaltung
begleitenden Besichtigungsprogramm in verschiedenen Vollzugsanstalten
in Tbilissi selbst erfahren. Rüdiger Wulf von Justizministerium
in Stuttgart stellte die Situation des Strafvollzugs in Baden-Württemberg
dar und gab vor allem auch praktische Anregungen für die
Weiterentwicklung, auch in den Kaukasusländern. Armen Sargsyan
vom Justizministerium Armeniens, informierte über die Situation
in Armenien, Musa Humbatov vom Justizministerium Aserbaidschans,
über Aserbaidschan und der stellvertretende Justizminister
Georgiens, Kakha Koberidse, über Georgien. Wie in anderen
früheren Sowjetländern, so vor allem auch Russland,
ist eines der Hauptprobleme die Erkrankung eines erheblichen Teils
der Inhaftierten an Tuberkulose, die mit der schlechten unhygienischen
massenhaften Unterbringung in Gemeinschaftszellen zusammenhängt.
Der Gefängnisüberfüllung wird von Zeit zu Zeit
oft nur noch mittels Amnestien begegnet.
Humbatov betonte vor allem die vergleichsweise noch schlechteren
Haftbedingungen für Lebenslängliche. Die durch die lebenslange
Haft ausgesprochene Härte genügt Justiz und Bevölkerung
offensichtlich nicht, wie der Berliner Strafrechtler und Kriminologe
Krauss in der Diskussion betonte. Der Leiter der Justizvollzugsanstalt
für Jugendliche in Adelsheim/Baden-Württemberg, Joachim
Walter, gab vor dem Hintergrund der eigenen Vollzugspraxis Anregungen
für die Gestaltung eines modernen Strafvollzugs - betonte
hierbei vor allem auch die Bedeutung der Ausbildung der Vollzugsbediensteten.
Es ist nicht die Bevölkerung, die ausgesprochen sanktionsorientiert
ist, sondern Richter, Staatsanwälte und Vollzugspersonal.
Müller-Dietz, Experte des Strafvollzugsrechts in Deutschland,
diskutierte Entwicklungsmöglichkeiten auf der rechtlichen
Ebene. Ein offener Vollzug werde zwar vom Gesetz propagiert, die
Praxis ist jedoch hiervon noch weit entfernt. Gefängnisse
sind nicht nur teuer, vor allem auch keine Lösung sozialer
Probleme. In Deutschland kostet ein Haftplatz pro Tag mindestens
ca. 70 Euro, in Georgien pro Jahr 600 Euro, das sind nicht einmal
zwei € pro Tag, allerdings verdient etwa ein Universitätsprofessor
auch lediglich ca. 20 Euro im Monat.
Detlef Krauss, Professor an der Humboldt Universität Berlin,
stellte in seinem kritischen Beitrag die Frage nach den Alternativen
zu harten Sanktionen: Hilft weniger Strafen mehr? Seine Antwort
war nicht nur klar, sondern auch überzeugend: weniger Freiheitsstrafe
ist immer mehr. "Die Freiheitsstrafe trägt einen Unwert
in sich, der Abbau dieses Unwerts ist immer Zugewinn einer Rechtsgemeinschaft".
Die Freiheitsstrafe sei von sich aus immer erniedrigend, Menschen
sperre man nicht ein. Zwar wolle man keine Vergeltung sondern
Resozialisierung: "Solange wir lange Freiheitsstrafen haben,
haben wir ein Strafrecht der Vergeltung - ob wir wollen oder nicht".
Was würde passieren, wenn wir die Freiheitsstrafen alle um
ein Drittel verkürzen würden: keiner würde es merken.
Als "westliche" Hilfe für die Länder im Umbruch
empfahl Krauss vor allem die Durchführung gemeinsamer Projekte.
Hierbei ging es in dem von Kury, Lammich und Kapanadze gemeinsam
mit georgischer Hilfe durchgeführten internationalen Projekt
zur Sanktionseinstellung, dessen erste Ergebnisse von Lammich
vorgestellt wurden. Obwohl die Längen der in Georgien ausgesprochenen
Freiheitsstrafen wesentlich höher sind als in westlichen
Ländern, was auch ganz entscheidend zu der Überfüllung
der Haftanstalten beiträgt, ist der Grossteil der befragten
Richter, Staatsanwälte oder Vollzugsbeamten der Meinung,
dass die langen Haftstrafen zur Kriminalitätsbekämpfung
"nötig" und damit auch gerechtfertigt seien. Alternativen
zu Freiheitsstrafen werden kritisch beurteilt, sind vielfach nicht
bekannt, man hat keine Erfahrungen mit ihnen. Eine öffentliche
Podiumsdiskussion rundete das umfangreiche Tagungsprogramm harmonisch
ab.
Während man bei vergleichbaren internationalen wissenschaftlichen
Veranstaltungen über die einzelnen Tage hinweg oft einen
erheblichen Teilnehmerschwund zu verzeichnen hat, war das hier
nicht der Fall: der Tagungssaal war von Beginn bis zum Schluss
voll besetzt, die Diskussionen waren intensiv und ausgesprochen
anregend. Das trug auch mit dazu bei, dass man sich entschloss,
zur Weiterentwicklung des Strafvollzugs offizielle Empfehlungen
zu beschließen, die an die entsprechenden Verantwortlichen
in den einzelnen Ländern, aber auch an die Medien weitergeleitet
werden sollen. Betont wird hier vor allem die Vermeidung bzw.
Verkürzung der Untersuchungshaft, der Ausbau der alternativen
Sanktionen zur Vermeidung einer Haftstrafe, die Angleichung der
Vollzugsbedingungen an die Strafvollzugsgrundsätze des Europarats,
die Verbesserung der Ausbildung der Vollzugsbediensteten, eine
größere Transparenz des Strafvollzugs durch Information
an die Öffentlichkeit oder die Schaffung bzw. der Ausbau
einer gesetzlichen Regelung des Strafvollzugs.
Die Zufriedenheit der Teilnehmer mit dem Treffen war ausgesprochen
groß. Man kam sich im Laufe der Veranstaltung, insbesondere
im Zusammenhang mit den Diskussionen aber auch dem gelungenen
Rahmenprogramm, näher. Selbst die Delegationen der Armenier
und Aserbaidschaner, deren schriftliche Tagungsreferate vor dem
Hintergrund des immer noch nicht gelösten "Karabach-Problems"
noch deutliche Anspielungen auf die Gegenseite enthielten, die
jedoch im Laufe des Treffens mehr und mehr in den Hintergrund
traten, kamen sich entgegen. Am Ende der Tagung wünschten
alle Teilnehmer eine Fortsetzung des Treffens in einem Jahr, naheliegenderweise
dann in Armenien oder Aserbaidschan. Entsprechende Einladungen
wurden ausgesprochen, auch an den politischen Gegner. Das macht
die enorme, auch politische, Bedeutung solcher Treffen deutlich.
Auch die von den Teilnehmern gemeinsam beschlossenen Empfehlungen
zur Weiterentwicklung des Strafvolzug:
Die Teilnehmer der Internationalen Konferenz "Kriminalität
und Kriminalprävention" am 19. und 20. Mai 2003 in Tbilissi/Georgien,
an der Juristen und Kriminologen aus Armenien, Aserbaidschan,
Bulgarien, Georgien, Japan und Deutschland teilgenommen haben,
empfehlen zur Weiterentwicklung des Strafvollzugs:
Untersuchungshaft soll möglichst vermieden oder verkürzt
werden.
Alternative Sanktionen und Mechanismen sollten Freiheitsstrafen
in weitem Umfang ersetzen oder verkürzen.
Die Dauer der Freiheitsstrafe sollte unter Berücksichtigung
der Sicherheit der Allgemeinheit verkürzt werden.
Die Vollzugsbedingungen sollen sich nach den Strafvollzugsgrundsätzen
des Europarates richten, insbesondere hinsichtlich Unterbringung
der Gefangenen, Versorgung, Behandlung und Hilfen zur Wiedereingliederung.
Dies gilt auch für Personen, die zu lebenslanger Haft verurteilt
sind.
Investitionen für die Bediensteten (Einkommen, Aus- und
Fortbildung, Kranken- und Altersvorsorge) sind zu verstärken;
sie verbessern die Situation der Gefangenen unmittelbar.
Die Transparenz des Strafvollzugs, insbesondere der Strafvollzugsanstalten,
ist unter Einbeziehung der Öffentlichkeit zu gewährleisten.
Die Ausarbeitung der Strafvollzugsgesetze muss in den südkaukasischen
Ländern beschleunigt werden.
Autor: Zeno Reichenbecher, GTZ-Projektleiter "Unterstützung
der Rechts- und Justizreformen in den Ländern des südlichen
Kaukasus"
Im Rahmen des Projektes werden regelmäßig Konferenzen,
Tagungen, Workshops oder Fortbildungen in Armenien, Aserbaidschan
und Georgien durchgeführt, mit denen der Dialog und Erfahrungsaustausch
unter Fachleuten in der Region gefördert wird. Mit diesem
Projekt der Kaukasus-Initiative des BMZs soll ein Beitrag zur
Vertrauensbildung und zur Stabilität in der Region geleistet
werden. Für das Projekt ist ein deutscher Rechtsexperte als
Berater ständig vor Ort.
|