Ausgabe 9/03
28. Mai
 TV-Termine:

 Schätze der Welt:
 Baku – Land des
 Feuers

 3sat: 11. Mai, 21.00 Uhr
 SWR: 18. Mai, 13.15 Uhr

 Schätze der Welt:
 Mzcheta – Wunder der
 Nino

 3sat: 18. Mai, 21.00 Uhr
 SWR: 25. Mai, 13.15



Kriminalität ist ein zeitloses Thema, in den letzten Jahren werden Probleme damit vermehrt diskutiert. Den Hintergrund bilden die gesellschaftlichen Umbrüche, etwa im Zusammenhang mit der wachsenden Globalisierung, in Europa vor allem der Zusammenbruch des sozialistisch-kommunistischen Systems. Die früheren Sowjetländer hatten viele Probleme und Nachteile, in einem waren sie allerdings bevorzugt: Die Kriminalitätsbelastung war dort niedriger. Der Wandel brachte allerdings auch hier eine Änderung. Die Kriminalitätsrate steigt seit der politischen und gesellschaftlichen Wende in all diesen Ländern mehr oder weniger deutlich an - zumindest wenn man den offiziellen Kriminalstatistiken glaubt. Das schafft Verunsicherungen, Verbrechensfurcht - und vor diesem Hintergrund neue gesetzliche Regelungen, mit denen man versucht, dem Problem Herr zu werden.

Um diese Fragen ging es bei einer sehr gut besuchten internationalen Tagung von Kriminologen und Juristen, die von deutschen Experten angeregt und geplant wurde und vom 18. - 20. Mai 2003 im Marriott-Hotel in Tbilissi, der Hauptstadt Georgiens, stattfand. Eingeladen waren neben Fachleuten aus Deutschland und Georgien Vertreter aus den zwei weiteren Kaukasusländern Armenien und Aserbaidschan. Finanziert wurde das Treffen von der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) GmbH, die auch die Organisation vor Ort übernahm, sowie dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD). Die Tagung beschäftige sich schwerpunktmäßig mit den vier Themenbereichen:

   - Kriminalität und Kriminalitätsentwicklung in Ost und West,
   - Strafrechtsentwicklung,
   - Strafvollzug und Sanktionsentwicklung
   - Einstellung zu Kriminalsanktionen.

Die Themen stießen auf ausgesprochen große Resonanz, was man auch an der ausgesprochen starken Medienpräsenz festmachen konnte. Ausgerichtet wurde die Tagung von der Universität Freiburg, dem Institut für Staat und Recht der Akademie der Wissenschaften Georgiens in Tbilissi, sowie der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) GmbH. Aus allen vier beteiligten Ländern, darüber hinaus aus Japan und Bulgarien, waren Experten angereist, die in Referaten zu den einzelnen Themen Stellung nahmen. Hat man auf vergleichbaren internationalen Treffen vielfach wenig Zeit zur Diskussion, war das hier anders, was von den Teilnehmern sehr begrüßt wurde und sich als sehr fruchtbar erwies.

Helmut Kury, Professor an der Universität Freiburg und Wissenschaftlicher Referent am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, einer der Hauptorganisatoren der Tagung, ging in seinem Eingangsreferat auf die Problematik internationaler Kriminalitätsvergleiche ein. Wieweit sind die in der Kriminalstatistik der einzelnen Länder erfassten und registrierten Straftaten überhaupt ein zuverlässiger Indikator für die Kriminalitätsbelastung in einem Land. Wenn schon Kriminalstatistiken in westlichen Industrieländern mit Vorsicht zu interpretieren sind, vor allem auch was längsschnittliche Kriminalitätsvergleiche angeht, trifft das hinsichtlich Vergleichen zwischen Ländern mit erheblichen unterschiedlichen Sozial- und vor allem auch Sanktionsstrukturen noch weit mehr zu.

Vergleiche zwischen westlichen Industrieländern und solchen des ehemaligen Ostblocks zeigen vor allem zwei Unterschiede: zum einen ist die offizielle Kriminalitätsbelastung in den ehemals sozialistischen Ländern erheblich niedriger als in den Westländern und zum anderen ist die Quote der inhaftierten Straftäter erheblich höher. Das drängt vor dem Hintergrund in der Bevölkerung gepflegter und immer wieder, etwa von Medien aber auch Politikern "bestätigter" Einstellungsstrukturen, den Schluss auf, dass letzteres ersteres bedinge. Liegt etwa die Kriminalitätsbelastung in Deutschland in den letzten Jahren, bezogen auf 100.000 der Bevölkerung bei etwa knapp 8.000 registrierten Straftaten, bewegen sich die Vergleichswerte in den Kaukasusländern teilweise um 200 bis 300. Die Sanktionseinstellung in der Bevölkerung ist in diesen Ländern gleichzeitig wesentlich sanktionsorientierter als etwa in Deutschland. Vielfach wurde die Todessstrafe erst vor kurzem abgeschafft oder wurde lediglich ausgesetzt.

Anna Margaryan von der Universität in Yerevan/Armenien berichtete über die Kriminalitätsentwicklung in ihrem Lande, die bis 1992 anstieg, um dann allerdings wieder abzufallen, auf ein für deutsche und westeuropäische Verhältnisse traumhaftes Niveau von ca. 300 Straftaten pro 100.000 der Bevölkerung. Sie erklärte diese vergleichsweise niedrige Kriminalitätsbelastung damit, dass es sich hier um ein kleines, überschaubares Land handele, durch die hohe Bevölkerungsdichte die soziale Kontrolle größer sei, auch die traditionellen Familienstrukturen hierzu einen Beitrag leisteten, die Bevölkerung sehr homogen sei, lediglich ca. 3 % Ausländer seien, schließlich die geschlossene Nationalkultur eine "Westernisierung" weitgehend verhindern konnte.

Mancher dieser Punkte dürfte auch auf die anderen Kaukasusländer zutreffen. Das ergab sich etwa aus den Beiträgen von Adyl Aliev, Vertreter des Justizministeriums Aserbaidschans oder Georgi Todria vom Institut für Staat und Recht aus Georgien, der vor allem auch auf Probleme der Kriminalprävention einging. Frau Eliko Ciklauri-Lammich, Max-Planck-Institut (MPI) Freiburg, berichtete über die Entwicklung der organisierten Kriminalität (OK) in Deutschland, Georgi Glonti, ebenfalls vom Institut für Staat und Recht, über die entsprechende Situation in Georgien. Hier tritt die Offene Kriminalität viel offener zutage, ist sozusagen auf der Strasse sichtbar, ist geradezu integraler Bestandteil des alltäglichen Lebens. Siegfried Lammich vom MPI Freiburg informierte über die neuesten Entwicklungstendenzen im Bereich der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen.

Im zweiten Themenblock ging es um die Strafrechtsentwicklung. Zunächst arbeitete Prof. Dr. Angelika Nussberger, Professorin und Leiterin des Instituts für Ostrecht in Köln, die Bedeutung der Menschenrechtskonvention für die Entwicklung des Strafrechts und der Sanktionspraxis heraus. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus war der Europarat plötzlich ein Orientierungspunkt für die neuen unabhängig gewordenen Staaten. Die Referentin ging auf die Bedeutung einzelner Regelungen der Europäischen Menschenrechtskonvention ein, wie Gesetzesvorbehalt, Vorführung vor einem Richter, Wahrung gesetzlicher Fristen oder die Überprüfung der Rechtsmäßigkeit der Freiheitsentziehung. Sergey Arakelyan, Professor an der Universität in Yerevan /Armenien und Ramella Guelalieva von der Universtät Baku / Aserbaidschan stellten die neuen Strafrechtsentwicklungen in Armenien und Aserbaidschan dar. Toshio Yoshida von der Universität Sapporo/ Japan berichtete über Entwicklungen in Strafrecht und Sanktionspraxis sowie die Einstellung zu Sanktionen in Japan, einem Lande, dass ja einerseits hoch industrialisiert ist, gleichzeitig aber im Vergleich zu den westlichen Industrieländern eine niedrige Kriminalitätsbelastung hat, die etwa bei einem Drittel Deutschlands liegt. Japan ist auch durch eine relativ harte Sanktionspraxis charakterisiert - die Todesstrafe wird nach wie vor nicht nur verhängt, sondern auch praktiziert. Das korrespondiert, wie internationale Untersuchungen auch für andere Länder zeigen können, so beispielsweise vor allem etwa auch die USA, mit einer entsprechenden sanktionsorientierten Einstellung in der Bevölkerung.

Ein Highlight der Tagung waren die Beiträge und Diskussionen zum Themenbereich Strafvollzug. Das verwundert insofern nicht, als sich hier in den relativ armen Kaukasusländern mit einer relativ hohen Inhaftierungsquote besondere Probleme ergeben - allerdings nicht nur hier, wie wir aus der Diskussion etwa in Deutschland wissen. Die Vollzugsanstalten sind überfüllt, die Unterbringungsbedingungen der Gefangenen im Vergleich zu westlichen Standards vielfach nur als katastrophal zu charakterisieren. Das konnten die Tagungsteilnehmer auch bei einem die Veranstaltung begleitenden Besichtigungsprogramm in verschiedenen Vollzugsanstalten in Tbilissi selbst erfahren. Rüdiger Wulf von Justizministerium in Stuttgart stellte die Situation des Strafvollzugs in Baden-Württemberg dar und gab vor allem auch praktische Anregungen für die Weiterentwicklung, auch in den Kaukasusländern. Armen Sargsyan vom Justizministerium Armeniens, informierte über die Situation in Armenien, Musa Humbatov vom Justizministerium Aserbaidschans, über Aserbaidschan und der stellvertretende Justizminister Georgiens, Kakha Koberidse, über Georgien. Wie in anderen früheren Sowjetländern, so vor allem auch Russland, ist eines der Hauptprobleme die Erkrankung eines erheblichen Teils der Inhaftierten an Tuberkulose, die mit der schlechten unhygienischen massenhaften Unterbringung in Gemeinschaftszellen zusammenhängt. Der Gefängnisüberfüllung wird von Zeit zu Zeit oft nur noch mittels Amnestien begegnet.

Humbatov betonte vor allem die vergleichsweise noch schlechteren Haftbedingungen für Lebenslängliche. Die durch die lebenslange Haft ausgesprochene Härte genügt Justiz und Bevölkerung offensichtlich nicht, wie der Berliner Strafrechtler und Kriminologe Krauss in der Diskussion betonte. Der Leiter der Justizvollzugsanstalt für Jugendliche in Adelsheim/Baden-Württemberg, Joachim Walter, gab vor dem Hintergrund der eigenen Vollzugspraxis Anregungen für die Gestaltung eines modernen Strafvollzugs - betonte hierbei vor allem auch die Bedeutung der Ausbildung der Vollzugsbediensteten. Es ist nicht die Bevölkerung, die ausgesprochen sanktionsorientiert ist, sondern Richter, Staatsanwälte und Vollzugspersonal. Müller-Dietz, Experte des Strafvollzugsrechts in Deutschland, diskutierte Entwicklungsmöglichkeiten auf der rechtlichen Ebene. Ein offener Vollzug werde zwar vom Gesetz propagiert, die Praxis ist jedoch hiervon noch weit entfernt. Gefängnisse sind nicht nur teuer, vor allem auch keine Lösung sozialer Probleme. In Deutschland kostet ein Haftplatz pro Tag mindestens ca. 70 Euro, in Georgien pro Jahr 600 Euro, das sind nicht einmal zwei € pro Tag, allerdings verdient etwa ein Universitätsprofessor auch lediglich ca. 20 Euro im Monat.

Detlef Krauss, Professor an der Humboldt Universität Berlin, stellte in seinem kritischen Beitrag die Frage nach den Alternativen zu harten Sanktionen: Hilft weniger Strafen mehr? Seine Antwort war nicht nur klar, sondern auch überzeugend: weniger Freiheitsstrafe ist immer mehr. "Die Freiheitsstrafe trägt einen Unwert in sich, der Abbau dieses Unwerts ist immer Zugewinn einer Rechtsgemeinschaft". Die Freiheitsstrafe sei von sich aus immer erniedrigend, Menschen sperre man nicht ein. Zwar wolle man keine Vergeltung sondern Resozialisierung: "Solange wir lange Freiheitsstrafen haben, haben wir ein Strafrecht der Vergeltung - ob wir wollen oder nicht". Was würde passieren, wenn wir die Freiheitsstrafen alle um ein Drittel verkürzen würden: keiner würde es merken. Als "westliche" Hilfe für die Länder im Umbruch empfahl Krauss vor allem die Durchführung gemeinsamer Projekte. Hierbei ging es in dem von Kury, Lammich und Kapanadze gemeinsam mit georgischer Hilfe durchgeführten internationalen Projekt zur Sanktionseinstellung, dessen erste Ergebnisse von Lammich vorgestellt wurden. Obwohl die Längen der in Georgien ausgesprochenen Freiheitsstrafen wesentlich höher sind als in westlichen Ländern, was auch ganz entscheidend zu der Überfüllung der Haftanstalten beiträgt, ist der Grossteil der befragten Richter, Staatsanwälte oder Vollzugsbeamten der Meinung, dass die langen Haftstrafen zur Kriminalitätsbekämpfung "nötig" und damit auch gerechtfertigt seien. Alternativen zu Freiheitsstrafen werden kritisch beurteilt, sind vielfach nicht bekannt, man hat keine Erfahrungen mit ihnen. Eine öffentliche Podiumsdiskussion rundete das umfangreiche Tagungsprogramm harmonisch ab.

Während man bei vergleichbaren internationalen wissenschaftlichen Veranstaltungen über die einzelnen Tage hinweg oft einen erheblichen Teilnehmerschwund zu verzeichnen hat, war das hier nicht der Fall: der Tagungssaal war von Beginn bis zum Schluss voll besetzt, die Diskussionen waren intensiv und ausgesprochen anregend. Das trug auch mit dazu bei, dass man sich entschloss, zur Weiterentwicklung des Strafvollzugs offizielle Empfehlungen zu beschließen, die an die entsprechenden Verantwortlichen in den einzelnen Ländern, aber auch an die Medien weitergeleitet werden sollen. Betont wird hier vor allem die Vermeidung bzw. Verkürzung der Untersuchungshaft, der Ausbau der alternativen Sanktionen zur Vermeidung einer Haftstrafe, die Angleichung der Vollzugsbedingungen an die Strafvollzugsgrundsätze des Europarats, die Verbesserung der Ausbildung der Vollzugsbediensteten, eine größere Transparenz des Strafvollzugs durch Information an die Öffentlichkeit oder die Schaffung bzw. der Ausbau einer gesetzlichen Regelung des Strafvollzugs.

Die Zufriedenheit der Teilnehmer mit dem Treffen war ausgesprochen groß. Man kam sich im Laufe der Veranstaltung, insbesondere im Zusammenhang mit den Diskussionen aber auch dem gelungenen Rahmenprogramm, näher. Selbst die Delegationen der Armenier und Aserbaidschaner, deren schriftliche Tagungsreferate vor dem Hintergrund des immer noch nicht gelösten "Karabach-Problems" noch deutliche Anspielungen auf die Gegenseite enthielten, die jedoch im Laufe des Treffens mehr und mehr in den Hintergrund traten, kamen sich entgegen. Am Ende der Tagung wünschten alle Teilnehmer eine Fortsetzung des Treffens in einem Jahr, naheliegenderweise dann in Armenien oder Aserbaidschan. Entsprechende Einladungen wurden ausgesprochen, auch an den politischen Gegner. Das macht die enorme, auch politische, Bedeutung solcher Treffen deutlich. Auch die von den Teilnehmern gemeinsam beschlossenen Empfehlungen zur Weiterentwicklung des Strafvolzug:

Die Teilnehmer der Internationalen Konferenz "Kriminalität und Kriminalprävention" am 19. und 20. Mai 2003 in Tbilissi/Georgien, an der Juristen und Kriminologen aus Armenien, Aserbaidschan, Bulgarien, Georgien, Japan und Deutschland teilgenommen haben, empfehlen zur Weiterentwicklung des Strafvollzugs:

  Untersuchungshaft soll möglichst vermieden oder verkürzt werden.

  Alternative Sanktionen und Mechanismen sollten Freiheitsstrafen in weitem Umfang ersetzen oder verkürzen.

  Die Dauer der Freiheitsstrafe sollte unter Berücksichtigung der Sicherheit der Allgemeinheit verkürzt werden.

  Die Vollzugsbedingungen sollen sich nach den Strafvollzugsgrundsätzen des Europarates richten, insbesondere hinsichtlich Unterbringung der Gefangenen, Versorgung, Behandlung und Hilfen zur Wiedereingliederung. Dies gilt auch für Personen, die zu lebenslanger Haft verurteilt sind.

  Investitionen für die Bediensteten (Einkommen, Aus- und Fortbildung, Kranken- und Altersvorsorge) sind zu verstärken; sie verbessern die Situation der Gefangenen unmittelbar.

  Die Transparenz des Strafvollzugs, insbesondere der Strafvollzugsanstalten, ist unter Einbeziehung der Öffentlichkeit zu gewährleisten.

  Die Ausarbeitung der Strafvollzugsgesetze muss in den südkaukasischen Ländern beschleunigt werden.

Autor: Zeno Reichenbecher, GTZ-Projektleiter "Unterstützung der Rechts- und Justizreformen in den Ländern des südlichen Kaukasus"

Im Rahmen des Projektes werden regelmäßig Konferenzen, Tagungen, Workshops oder Fortbildungen in Armenien, Aserbaidschan und Georgien durchgeführt, mit denen der Dialog und Erfahrungsaustausch unter Fachleuten in der Region gefördert wird. Mit diesem Projekt der Kaukasus-Initiative des BMZs soll ein Beitrag zur Vertrauensbildung und zur Stabilität in der Region geleistet werden. Für das Projekt ist ein deutscher Rechtsexperte als Berater ständig vor Ort.


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