Wieviele Menschen leben heute tatsächlich noch in Georgien?
Auf diese Frage gibt es kaum eine befriedigende Antwort, nur Schätzungen
und Gerüchte. Und von der letztjährigen Bevölkerungszählung,
an deren Se-riosität man überdies durchaus zweifeln kann,
sind bis jetzt noch keine verlässlichen Daten über den
ermittelten Stand der Bevölkerungsent-wicklung bekannt geworden.
Viele Beobachter stellen sich die Frage, ob solche Zahlen jemals
veröffentlicht werden, wobei sie unterstellen, dass es kaum
im Interesse des Landes und vor allem seiner Regierung liegen könne,
wenn die Wahrheit über das ganze Ausmass der Emigration bekannt
wird.
Allenthalben gehen die statistischen Informationen in Reiseführern
und Webseiten noch immer von 5,4 Millionen Einwohnern in Georgien
aus, eine Zahl, die längst nicht mehr stimmt. Selbst das
Statistische Depart-ment der georgischen Regierung räumt
in seinen offiziellen Statistiken eine Entwicklung ein, die bei
den Regierenden alle Alarmglocken zum Sturmgeläut bringen
müsste. Demnach haben in den Jahren 1997 bis 2001 rund eine
Million Georgier das Land verlassen, ein Aderlass von nahezu 20
% der Bevölkerung. Der Trend hat im letzten Jahr sicher an-gehalten,
sodass sich die Wohnbevölkerung Georgiens statistisch derzeit
der Vier-Millionen-Grenze annähern dürfte, wenn sie
nicht schon längst unterschritten wurde.
Bevölkerungsentwicklung
Georgiens
|
1997 |
1998 |
1999 |
2000 |
2001 |
Gemeldete Einwohner in Mio |
5,4 |
5,4 |
4,6 |
4,5 |
4,4 |
Geburten in Tausend |
52,0 |
46,8 |
40,8 |
40,4 |
40,4 |
Sterbefälle in Tausend |
37,7 |
39,4 |
40,4 |
41,3 |
39,3 |
Eheschliessungen in Tausend |
17,1 |
15,3 |
13,8 |
12,9 |
13,3 |
Scheidungen in Tausend |
2,3 |
1,8 |
1,6 |
1,9 |
2,0 |
Neben den statistisch erfassten Emigranten gibt es noch eine
Dunkel-ziffer, das heisst die Zahl der Georgier, die mehr oder
weniger illegal im Ausland leben und in ihrer Heimat noch gemeldet
sind. Allein in Russland sollen sich mehrere Hunderttausend Georgier
aufhalten, wieviele davon unter den 4,4 Millionen in Georgien
gemeldeter Einwohner zu suchen sind, weiss niemand. Ein amerikanischer
Experte schätzt die Zahl der illegalen Migranten in den Vereinigten
Staaten auf 15.000, auch in Deutschland darf man von einer Größenordnung
hoch in den Tausendern ausgehen, ein Teil davon illegal und in
Georgien noch gemeldet. Von den vielen Georgierinnen und Georgiern,
die in Griechenland und der Türkei arbeiten, zu schweigen.
Dazu kommen ein paar Tausend Aupair-Mäd-chen, die in Georgien
gemeldet sind, aber für ein Jahr im Ausland leben und auch
eine Art von Arbeitsemigranten darstellen. Und viele Studen-ten
sind n Wirklichkeit zur Arbeit im Ausland und halten sich mit
Jobs über Wasser. Berücksichtigt man all diese Faktoren,
kann man von min-destens 1,5 Millionen Georgiern ausgehen, die
in den letzten fünf Jahren ihr Land verlassen haben, wenn
diese Zahl überhaupt ausreicht. Ver-mutlich sind es kanpp
zwei Millionen. Das ist ein gutes Viertel der Ge-samtbevölkerung,
eine Abstimmung mit Füssen, ein vernichtendes Urteil des
Staatsvolkes über den Zustand von Wirtschaft und Gesellschaft.
Die Dramatik dieser Entwicklung wird noch deutlicher, wenn man
die Altersstruktur der Migranten untersucht. Experten in den georgischen
Medien gehen davon aus, dass 85 % der Auslandsgeorgier zwischen
20 und 50 Jahren alt sind, also im erwerbsfähigen Alter.
Das sind rund 1,3 Millionen Menschen. Aus dieser Altersgruppe
sind in Georgien nur rund 2,1 Millionen Menschen verblieben, was
nichts anderes bedeutet, als dass knapp 40 % aller Georgier im
Alter zwischen 20 und 50 Jahren derzeit im Ausland leben und dort
ihren Lebensunterhalt verdienen müssen. In Ge-orgien gibt
es derzeit einfach viel zu wenig Arbeit. Das Land droht die Entwicklung
zu einem Altersheim mit angeschlossenem Kindergarten. Erschwerend
kommt hinzu, dass sich mit diesem Aderlass an Arbeits-kräften
auch die Qualität des Arbeitskräfteangebots in Georgien
drama-tisch geändert hat. Denn es sind vermutlich die Menschen
mit besserer Ausbildung, die sich auf dem ausländischen Arbeitsmarkt
behaupten können.
Das hat für die aktuelle wirtschaftliche Lage im Lande auch
seine durch-aus positiven Seiten. Denn die Auslandsgeorgier unterstützen
ihre Fa-milien mit Finanztransfers, deren Umfang man nicht annähernd
abgreifen kann. Viele Familien könnten ohne die Finanzzuflüsse
ihrer Verwandten aus dem Ausland kaum überleben. Geht man
davon aus, dass auch ein Aupair-Mädchen in der Lage ist,
zwischen 50 und 100 $ monatlich für die Familie zu Hause
abzuzweigen (und viele dies auch tatsächlich müssen),
kann man den durchschnittlichen Betrag, der von einem Auslandsge-orgier
im Monat in die Heimat überwiesen wird, gut und gerne mit
50 $ annehmen. Er liegt vermutlich deutlich darüber. Selbst
wenn man jetzt davon ausgeht, dass von den 1,3 Millionen Migranten
im arbeitsfähigen Alter vielleicht 300.000 nicht erwerbstätige
Ehepartner sind, summiert sich der anzunehmende private Finanztransfer
nach Georgien auf einen monatlichen Betrag von mindestens 50 Millionen
$, vermutlich aber rund 100 Millionen $. Diese Summe muss bei
der Betrachtung der statisti-schen Haushaltseinkommen einer georgischen
Durchschnittsfamilie be-rücksichtigt werden. Die Gesamthöhe
der privaten Finanztransfers kann allerdings nicht annähernd
seriös ermittelt werden, da ein nicht unbe-trächtlicher
Teil dieser Gelder nicht über Banken abgewickelt wird son-dern
im privaten Kurierdienst georgischer Netzwerke ins Land gebracht
wird. So gibt es Studenten oder Au-pair-Mädchen, die bei
einem Rückflug nach Tbilissi aus dem georgischen Bekanntenkreis
im Ausland gut und gerne 5.000 € und mehr in der Geldbörse
mitführen und in Gorgien wieder verteilen.
Monatliches Haushaltseinkommen
und Ausgaben in GEL
|
1997 |
1998 |
1999 |
2000 |
2001 |
Durchschnittliches Einkommen |
134,7 |
162,2 |
168,8 |
174,8 |
192,2 |
Durschnittliche Ausgaben |
221,7 |
217,9 |
237,8 |
262,8 |
272,1 |
Nimmt man die Größe eines georgischen Durschnittshaushaltes
mit nur vier Personen an, kann man derzeit von rund einer Million
georgischer Haushaltungen ausgehen. Dies würde dann bedeuten,
dass eine Durch-schnittsfamilie rund 50 $ monatlich von den Arbeitsemigranten
bekäme. Tatsächlich dürfte die Summe viel höher
liegen. Die georgische Durch-schnittsfamilie erhält also
aus dem Finanztransfer der Emigranten ver-mutlich mindestens soviel
Geld, wie sie nach der offiziellen georgischen Statistik verdient.
Für die Wirtschaft des Landes bedeutet dies einen enormen
Kaufkraft-zufluss, wobei gerade in Deutschland nicht vergessen
werden sollte, dass mit den harten DM, die sich in den 60-er und
70-er Jahren des letzten Jahrhunderts südeuropäische
Arbeitsemigranten im deutschen Wirt-schaftswunder verdienten,
die Zahlungsbilanz manch eines Landes ausgeglichen werden konnte,
das mittlerweile längst Mitglied der EU und der €-Zone
ist oder unüberhörbar an deren Türen klopft. Auch
die Stärke des Lari dürfte von den Dollar-Transfers
der Auslandsgeorgier profitie-ren, da ein Teil des Geldes zum
Einkauf des täglichen Bedarfs ausgege-ben wird und deshalb
in Lari umgetauscht werden muss.
Bei der Betrachtung des durchschnittlichen Familieneinkommens
ist ohnehin zu berücksichtigen, dass das statistische Bruttosozialprodukt
Georgiens, das der Berechnung der Familieneinkommen zugrunde liegt,
nur auf der fiskalisch und statistisch erfassten Wirtschaftsleistung
des Landes basiert. Rechnet man das enorme Volumen der Schattenwirt-schaft
ein, das nach Schätzung von Experten weit über 50 %,
manche sprechen gar von 70 - 80 %, der georgischen Wirtschaftsleistung
ausmacht, erhöht sich das real existierende Familieneinkommen
noch einmal ganz erheblich. Das heisst, schon das statistische
Durschnitts-einkommen muss mindestens verdoppelt, wenn nicht sogar
verdreifacht werden, will man die reale Einkommenssituation und
Kaufkraft der georgischen Familien einigermassen gerecht beurteilen.
Dabei gibt es noch einige Nebenfaktoren, die nicht ohne Belang
sind. Wenn rund ein Viertel der Georgier derzeit ausser Landes
lebt, dann ergibt sich daraus ein ganz ansehnliches Angebot an
nicht genutztem Wohnraum, der vermietet werden kann - und vielfach
auch vermietet wird. Einkünfte aus diesem - ebenfalls statistisch
kaum erfassten Immo-bilienmarkt - müssen erfahrungsgemäss
beim Monatseinkommen geor-gischer Familien hinzugerechnet werden.
Schon eine kleine 1-Zimmer-Wohnung in Tbilissi bringt 50 $ monatlich,
für möbilierte Wohnungen oder Häuser in Tbilissi
werden schon einmal einige Hundert, wenn nicht ein bis zwei Tausend
Dollar im Monat bezahlt. Geht man von 500 Ausländern aus,
die eine Wohnung in Tbilissi gemietet haben, und einer durchschnitt-lichen
Monatsmiete von 500 $, so sind das auch rund 250.000 $, die mo-natlich
in die privaten Haushalte fliessen, ohne statistisch erfasst zu
wer-den. Im Durchschnitt unserer Modellrechnung wären dies
25 $ pro Fami-lie, also etwa ein Viertel des derzeitigen statistischen
Durchschnittsein-kommen einer Familie. Viele dieser nicht mehr
genutzten Wohnungen von Emigranten wurden zu guten Preisen verkauft.
Auch dieser Immobi-lienmarkt spülte eine Menge an Kaufkraft
ins Land, die statistisch kaum erfasst werden kann.
Aus all diesen Betrachtungen ergibt sich, dass das real exisitierende
Ein-kommen einer georgischen Durchschnittsfamilie auch dank der
Finanz-transfers der Arbeitsemigranten um ein Vielfaches über
dem liegt, was die Statistik hergibt. Damit ist noch lange nicht
behauptet, dass die Men-schen in ihrer überwiegenden Mehrzahl
im Geld schwimmen. Es geht in dieser Modellrechnung lediglich
darum, ein georgisches Phänomen an-satzweise zu ergründen,
das Phänomen nämlich, dass Kaufkraft und Konsum auch
der unteren und mittleren Bevölkerungsschichten ständig
und für alle sichtbar steigen, während sich - statistisch
gesehen - ein Großteil der georgischen Bevölkerung
unterhalb der Armutsgrenze bewegt. Zwischen Statistik und Realität
klafft ein riesiges Loch.
Die Verteilung dieser Kaufkraft ist sicher assymetrisch. Aber
die Arbeits-emigranten rekrutieren sich selten aus der Schicht
der Superreichen und Wohlhabenden im Lande, sodass man vermuten
darf, dass deren Finanz-transfers durchaus im unteren Drittel
der Gesellschaft ankommen. Außerdem ist die georgische Gesellschaft
in pyramidenförmigen Netz-werken organisiert, durch deren
Inneres auch einiges an Kaufkraft an deren soziale Basis tröpfelt.
Ein wichtiger Aspekt vor allem der nicht gemeldeten Emigration
wird ge-rade in diesem Jahr deutlich: Da niemand die wahren Bevölkerungs-zahlen
kennt und auch in der seriösesten Statistik der in Georgien
gemeldeten Einwohner die grosse Dunkelziffer von illegalen Emigranten
zu berücksichtigen ist, ergibt sich für die Aufstellung
der Wählerverzeich-nisse der kommenden Parlamentswahlen eine
Manövriermasse an Ab-stimmungsberechtigten, die wegen längerfristiger
Abwesenheit physisch kaum zu den Wahlurnen gehen können,
jedoch in den Wählerverzeich-nissen auftauchen müssen,
da sie in Georgien gemeldet sind. Aus dieser Quelle kann sich
dann das speisen, was bei der vergangenen Kommunal-wahl als das
"georgische Wählerkarussell" bezeichnet wurde,
sprich Mehrfachwähler, die von ihren Parteien organisiert
in verschiedenen Wahllokalen unter unterschiedlichen Identifikationen
ihre Stimme ab-geben. Für Wahlbeobachter eine kaum zu erkennende
Möglichkeit der Manipulation.
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