Ausgabe 7/03
30. April
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Wieviele Menschen leben heute tatsächlich noch in Georgien? Auf diese Frage gibt es kaum eine befriedigende Antwort, nur Schätzungen und Gerüchte. Und von der letztjährigen Bevölkerungszählung, an deren Se-riosität man überdies durchaus zweifeln kann, sind bis jetzt noch keine verlässlichen Daten über den ermittelten Stand der Bevölkerungsent-wicklung bekannt geworden. Viele Beobachter stellen sich die Frage, ob solche Zahlen jemals veröffentlicht werden, wobei sie unterstellen, dass es kaum im Interesse des Landes und vor allem seiner Regierung liegen könne, wenn die Wahrheit über das ganze Ausmass der Emigration bekannt wird.

Allenthalben gehen die statistischen Informationen in Reiseführern und Webseiten noch immer von 5,4 Millionen Einwohnern in Georgien aus, eine Zahl, die längst nicht mehr stimmt. Selbst das Statistische Depart-ment der georgischen Regierung räumt in seinen offiziellen Statistiken eine Entwicklung ein, die bei den Regierenden alle Alarmglocken zum Sturmgeläut bringen müsste. Demnach haben in den Jahren 1997 bis 2001 rund eine Million Georgier das Land verlassen, ein Aderlass von nahezu 20 % der Bevölkerung. Der Trend hat im letzten Jahr sicher an-gehalten, sodass sich die Wohnbevölkerung Georgiens statistisch derzeit der Vier-Millionen-Grenze annähern dürfte, wenn sie nicht schon längst unterschritten wurde.

Bevölkerungsentwicklung Georgiens
1997 1998 1999 2000 2001
Gemeldete Einwohner in Mio 5,4 5,4 4,6 4,5 4,4
Geburten in Tausend 52,0 46,8 40,8 40,4 40,4
Sterbefälle in Tausend 37,7 39,4 40,4 41,3 39,3
Eheschliessungen in Tausend 17,1 15,3 13,8 12,9 13,3
Scheidungen in Tausend 2,3 1,8 1,6 1,9 2,0

Neben den statistisch erfassten Emigranten gibt es noch eine Dunkel-ziffer, das heisst die Zahl der Georgier, die mehr oder weniger illegal im Ausland leben und in ihrer Heimat noch gemeldet sind. Allein in Russland sollen sich mehrere Hunderttausend Georgier aufhalten, wieviele davon unter den 4,4 Millionen in Georgien gemeldeter Einwohner zu suchen sind, weiss niemand. Ein amerikanischer Experte schätzt die Zahl der illegalen Migranten in den Vereinigten Staaten auf 15.000, auch in Deutschland darf man von einer Größenordnung hoch in den Tausendern ausgehen, ein Teil davon illegal und in Georgien noch gemeldet. Von den vielen Georgierinnen und Georgiern, die in Griechenland und der Türkei arbeiten, zu schweigen. Dazu kommen ein paar Tausend Aupair-Mäd-chen, die in Georgien gemeldet sind, aber für ein Jahr im Ausland leben und auch eine Art von Arbeitsemigranten darstellen. Und viele Studen-ten sind n Wirklichkeit zur Arbeit im Ausland und halten sich mit Jobs über Wasser. Berücksichtigt man all diese Faktoren, kann man von min-destens 1,5 Millionen Georgiern ausgehen, die in den letzten fünf Jahren ihr Land verlassen haben, wenn diese Zahl überhaupt ausreicht. Ver-mutlich sind es kanpp zwei Millionen. Das ist ein gutes Viertel der Ge-samtbevölkerung, eine Abstimmung mit Füssen, ein vernichtendes Urteil des Staatsvolkes über den Zustand von Wirtschaft und Gesellschaft.

Die Dramatik dieser Entwicklung wird noch deutlicher, wenn man die Altersstruktur der Migranten untersucht. Experten in den georgischen Medien gehen davon aus, dass 85 % der Auslandsgeorgier zwischen 20 und 50 Jahren alt sind, also im erwerbsfähigen Alter. Das sind rund 1,3 Millionen Menschen. Aus dieser Altersgruppe sind in Georgien nur rund 2,1 Millionen Menschen verblieben, was nichts anderes bedeutet, als dass knapp 40 % aller Georgier im Alter zwischen 20 und 50 Jahren derzeit im Ausland leben und dort ihren Lebensunterhalt verdienen müssen. In Ge-orgien gibt es derzeit einfach viel zu wenig Arbeit. Das Land droht die Entwicklung zu einem Altersheim mit angeschlossenem Kindergarten. Erschwerend kommt hinzu, dass sich mit diesem Aderlass an Arbeits-kräften auch die Qualität des Arbeitskräfteangebots in Georgien drama-tisch geändert hat. Denn es sind vermutlich die Menschen mit besserer Ausbildung, die sich auf dem ausländischen Arbeitsmarkt behaupten können.

Das hat für die aktuelle wirtschaftliche Lage im Lande auch seine durch-aus positiven Seiten. Denn die Auslandsgeorgier unterstützen ihre Fa-milien mit Finanztransfers, deren Umfang man nicht annähernd abgreifen kann. Viele Familien könnten ohne die Finanzzuflüsse ihrer Verwandten aus dem Ausland kaum überleben. Geht man davon aus, dass auch ein Aupair-Mädchen in der Lage ist, zwischen 50 und 100 $ monatlich für die Familie zu Hause abzuzweigen (und viele dies auch tatsächlich müssen), kann man den durchschnittlichen Betrag, der von einem Auslandsge-orgier im Monat in die Heimat überwiesen wird, gut und gerne mit 50 $ annehmen. Er liegt vermutlich deutlich darüber. Selbst wenn man jetzt davon ausgeht, dass von den 1,3 Millionen Migranten im arbeitsfähigen Alter vielleicht 300.000 nicht erwerbstätige Ehepartner sind, summiert sich der anzunehmende private Finanztransfer nach Georgien auf einen monatlichen Betrag von mindestens 50 Millionen $, vermutlich aber rund 100 Millionen $. Diese Summe muss bei der Betrachtung der statisti-schen Haushaltseinkommen einer georgischen Durchschnittsfamilie be-rücksichtigt werden. Die Gesamthöhe der privaten Finanztransfers kann allerdings nicht annähernd seriös ermittelt werden, da ein nicht unbe-trächtlicher Teil dieser Gelder nicht über Banken abgewickelt wird son-dern im privaten Kurierdienst georgischer Netzwerke ins Land gebracht wird. So gibt es Studenten oder Au-pair-Mädchen, die bei einem Rückflug nach Tbilissi aus dem georgischen Bekanntenkreis im Ausland gut und gerne 5.000 € und mehr in der Geldbörse mitführen und in Gorgien wieder verteilen.

Monatliches Haushaltseinkommen und Ausgaben in GEL
  1997 1998 1999 2000 2001
Durchschnittliches Einkommen 134,7 162,2 168,8 174,8 192,2
Durschnittliche Ausgaben 221,7 217,9 237,8 262,8 272,1

Nimmt man die Größe eines georgischen Durschnittshaushaltes mit nur vier Personen an, kann man derzeit von rund einer Million georgischer Haushaltungen ausgehen. Dies würde dann bedeuten, dass eine Durch-schnittsfamilie rund 50 $ monatlich von den Arbeitsemigranten bekäme. Tatsächlich dürfte die Summe viel höher liegen. Die georgische Durch-schnittsfamilie erhält also aus dem Finanztransfer der Emigranten ver-mutlich mindestens soviel Geld, wie sie nach der offiziellen georgischen Statistik verdient.

Für die Wirtschaft des Landes bedeutet dies einen enormen Kaufkraft-zufluss, wobei gerade in Deutschland nicht vergessen werden sollte, dass mit den harten DM, die sich in den 60-er und 70-er Jahren des letzten Jahrhunderts südeuropäische Arbeitsemigranten im deutschen Wirt-schaftswunder verdienten, die Zahlungsbilanz manch eines Landes ausgeglichen werden konnte, das mittlerweile längst Mitglied der EU und der €-Zone ist oder unüberhörbar an deren Türen klopft. Auch die Stärke des Lari dürfte von den Dollar-Transfers der Auslandsgeorgier profitie-ren, da ein Teil des Geldes zum Einkauf des täglichen Bedarfs ausgege-ben wird und deshalb in Lari umgetauscht werden muss.

Bei der Betrachtung des durchschnittlichen Familieneinkommens ist ohnehin zu berücksichtigen, dass das statistische Bruttosozialprodukt Georgiens, das der Berechnung der Familieneinkommen zugrunde liegt, nur auf der fiskalisch und statistisch erfassten Wirtschaftsleistung des Landes basiert. Rechnet man das enorme Volumen der Schattenwirt-schaft ein, das nach Schätzung von Experten weit über 50 %, manche sprechen gar von 70 - 80 %, der georgischen Wirtschaftsleistung ausmacht, erhöht sich das real existierende Familieneinkommen noch einmal ganz erheblich. Das heisst, schon das statistische Durschnitts-einkommen muss mindestens verdoppelt, wenn nicht sogar verdreifacht werden, will man die reale Einkommenssituation und Kaufkraft der georgischen Familien einigermassen gerecht beurteilen.

Dabei gibt es noch einige Nebenfaktoren, die nicht ohne Belang sind. Wenn rund ein Viertel der Georgier derzeit ausser Landes lebt, dann ergibt sich daraus ein ganz ansehnliches Angebot an nicht genutztem Wohnraum, der vermietet werden kann - und vielfach auch vermietet wird. Einkünfte aus diesem - ebenfalls statistisch kaum erfassten Immo-bilienmarkt - müssen erfahrungsgemäss beim Monatseinkommen geor-gischer Familien hinzugerechnet werden. Schon eine kleine 1-Zimmer-Wohnung in Tbilissi bringt 50 $ monatlich, für möbilierte Wohnungen oder Häuser in Tbilissi werden schon einmal einige Hundert, wenn nicht ein bis zwei Tausend Dollar im Monat bezahlt. Geht man von 500 Ausländern aus, die eine Wohnung in Tbilissi gemietet haben, und einer durchschnitt-lichen Monatsmiete von 500 $, so sind das auch rund 250.000 $, die mo-natlich in die privaten Haushalte fliessen, ohne statistisch erfasst zu wer-den. Im Durchschnitt unserer Modellrechnung wären dies 25 $ pro Fami-lie, also etwa ein Viertel des derzeitigen statistischen Durchschnittsein-kommen einer Familie. Viele dieser nicht mehr genutzten Wohnungen von Emigranten wurden zu guten Preisen verkauft. Auch dieser Immobi-lienmarkt spülte eine Menge an Kaufkraft ins Land, die statistisch kaum erfasst werden kann.

Aus all diesen Betrachtungen ergibt sich, dass das real exisitierende Ein-kommen einer georgischen Durchschnittsfamilie auch dank der Finanz-transfers der Arbeitsemigranten um ein Vielfaches über dem liegt, was die Statistik hergibt. Damit ist noch lange nicht behauptet, dass die Men-schen in ihrer überwiegenden Mehrzahl im Geld schwimmen. Es geht in dieser Modellrechnung lediglich darum, ein georgisches Phänomen an-satzweise zu ergründen, das Phänomen nämlich, dass Kaufkraft und Konsum auch der unteren und mittleren Bevölkerungsschichten ständig und für alle sichtbar steigen, während sich - statistisch gesehen - ein Großteil der georgischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze bewegt. Zwischen Statistik und Realität klafft ein riesiges Loch.

Die Verteilung dieser Kaufkraft ist sicher assymetrisch. Aber die Arbeits-emigranten rekrutieren sich selten aus der Schicht der Superreichen und Wohlhabenden im Lande, sodass man vermuten darf, dass deren Finanz-transfers durchaus im unteren Drittel der Gesellschaft ankommen. Außerdem ist die georgische Gesellschaft in pyramidenförmigen Netz-werken organisiert, durch deren Inneres auch einiges an Kaufkraft an deren soziale Basis tröpfelt.

Ein wichtiger Aspekt vor allem der nicht gemeldeten Emigration wird ge-rade in diesem Jahr deutlich: Da niemand die wahren Bevölkerungs-zahlen kennt und auch in der seriösesten Statistik der in Georgien gemeldeten Einwohner die grosse Dunkelziffer von illegalen Emigranten zu berücksichtigen ist, ergibt sich für die Aufstellung der Wählerverzeich-nisse der kommenden Parlamentswahlen eine Manövriermasse an Ab-stimmungsberechtigten, die wegen längerfristiger Abwesenheit physisch kaum zu den Wahlurnen gehen können, jedoch in den Wählerverzeich-nissen auftauchen müssen, da sie in Georgien gemeldet sind. Aus dieser Quelle kann sich dann das speisen, was bei der vergangenen Kommunal-wahl als das "georgische Wählerkarussell" bezeichnet wurde, sprich Mehrfachwähler, die von ihren Parteien organisiert in verschiedenen Wahllokalen unter unterschiedlichen Identifikationen ihre Stimme ab-geben. Für Wahlbeobachter eine kaum zu erkennende Möglichkeit der Manipulation.

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