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Nur wenige, die Georgien bereisen oder dort für geraume Zeit leben,
schaffen es, der abgelegenen Bergprovinz Swanetien einen Besuch abzustatten.
Zum einen ist die Anfahrt über die Ingurischlucht recht beschwerlich,
man muss sich mindestens vier bis fünf Tage Zeit nehmen, wenn man
auch nur die wichtigsten Plätze dieses herrlichen Landstrichs besuchen
will. Für Bildungsreisende mit einem normalen Zeitkonto ist dies
angesichts der Vielfalt der ansonsten im Land vorhandenen Reiseziele
nur selten einzuplanen. Außerdem gilt nach wie vor: Swanetien
ist ein besonderes Revier, das man ohne hinreichend eingeführte
und in der lokalen Gesellschaft vernetzte Führer besuchen sollte.
GN stellt im März und April in zwei ausführlichen Fotostrecken
diesen einmalig schönen Landstrich vor.
Die Fahrt nach Swanetien ist so etwas wie
eine Zeitreise in eine archaisch anmutende Welt. Um Swanen und ihre
Gesellschaft zu begreifen, sollte man nicht per Hubschrauber oder Flugzeug
in Mestia, der Provinzstadt, oder in Uschguli, Europas höchstem
Dorf einfliegen. Im Überfliegen kann man kaum das sammeln, was
wir zu Recht seit Jahrhunderten "Erfahrung" nennen. Statt
dessen sollte man sich der Mühe einer Autofahrt von Sugdidi den
Inguri hinauf unterziehen. Nicht einmal 150 Kilometer lang ist die Strecke
von der Kolchis bis Mestia, für die man inklusive Photo- und Picknickpausen
mindestens sechs bis acht Stunden einplanen sollte. Es wäre ein
Frevel, durch das imposante Tal des Inguri gedankenlos hindurchzubrausen.
Aber keine Angst, die kurvenreiche, teilweise recht enge und sich hoch
über den Fluß dahinziehende Straße begrenzt die Geschwindigkeit
von alleine. Sie wurde erst 1937 trassiert, und manchmal will es scheinen,
als habe sie seither keine Ausbesserung erfahren.
Bis dahin hatte nur ein kleiner Trampelpfade in
die unzugängliche Bergwelt Swanetiens geführt, einer der Gründe
dafür, dass sich die Swanen ihre archaische Kultur, ihre in Jahrhunderten
gewachsene Clanstruktur bis heute haben erhalten können. Oberswanetien
nennt sich stolz das "Freie Swanetien", weil es sich niemals
irgendwelchen Feudalherren, weder einheimischen noch fremden, unterwerfen
musste, und wenn, dann nur auf dem Papier. Ob dies ganz der historischen
Wahrheit entspricht, sei dahingestellt. Tatsache ist zumindest, dass
die Swanen, die nicht umsonst die Leibgarde der Königin Tamara
gebildet haben sollen, bis 1846 den Russen und ihren Annexionsansprüchen
trotzdem, während Ostgeorgien bereits 1801, Westgeorgien 1810 dem
Zarenreich eingegliedert wurden. Später mussten sie auch der Sowjetmacht
ihren Tribut zollen, wenngleich sie nicht immer alles ausführten,
was ihnen die roten Zaren vorschrieben. Noch heute tut sich die Zentralregierung
in Tbilissi manchmal recht schwer, sich mit ihren Gesetzen und Normen
auch in Swanetien Geltung zu verschaffen.
(Fortsetzung am 2. April)
Text aus dem Buch Kaukasus
Georgien, Armenien, Aserbaidschan
Prestel-Verlag München
ISBN 3-7913-2420-9
Druckversion
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