Ausgabe 4/03
19. März
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Nein, im georgischen Alltag des Jahres 2003 spielt Josef Stalin wirklich keine ernst zu nehmende Rolle mehr. Die Stalin-Parteien – zwei waren es bei der letzten Wahl - dümpeln jenseits der Wahrnehmungsgrenze und sein Enkel bemüht sich vergebens, politisches Gehör zu finden und das Erbe des großen Georgiers zu wahren. Die enge Anbindung Georgiens an die USA, die in der Stationierung amerikanischer Militär-Ausbilder gipfelte, hätte seinem Vorfahren ganz sicher nicht gefallen, erklärte er im vergangenen Sommer – und kaum jemand nahm wirklich Notiz davon. Trotzdem kann man sich, wenn man offenen Auges durch Georgien fährt, des Eindrucks nicht erwehren, als ob der Mythos des Tyrannen noch immer allgegenwärtig wäre. Unzählige Stalin-Denkmäler gibt es in Georgien, nicht nur das berühmte in Gori, einige wurden sogar erst in den letzten Jahren wieder aufgebaut.


Allein in Tbilissi gibt es einige öffentliche Stalin-Abbildungen, die schönste in der Aghmaschenebeli-Straße, ein Sandstein-Relief in einem Torbogen, das Stalin in einem Meer von Blumen zeigt, die Kinder ihm darreichen – Stalin, der gütige Vater der Völker.


Fast jedes Dorf hat ein Weltkrieg-II-Denkmal, ein Mahnmal zur Erinnerung an den großen vaterländischen Krieg, und auf einem solchen Mahnmal darf der erfolgreiche Feldherr natürlich nicht fehlen. Er ist nun mal Teil dieser Geschichte. Aus diesen vielen Dorf-Stalins auf einen nach wie vor vorhandenen Stalin-Kult in Georgien schließen zu wollen, wäre falsch. Und trotzdem, es gibt ihn, den Erinnerungskult an den größten Sohn des Landes, verborgen manchmal und doch nicht zu übersehen. Zum Anlaß des 50. Todestages Stalins am 5. März hat sich GN im ganzen Land auf die Suche gemacht und teilweise erstaunliches gefunden.



So steht eine mit Silberfarbe überzogene Stalinbüste im Dorf Tetrischewi am Gomboripass mitten auf einem Schulhof. Die Alten des Dorfes, so erzählen die Lehrer, wollten ihn einfach nicht hergeben, er gehöre zu ihrer Kindheit und damit zu ihrem Leben. Ob die Leute im Dorf denn tatsächlich heute noch Stalin verehrten, wollen wir wissen. Nein, nicht direkt, aber sie seien halt Chewsuren, die man hier angesiedelt hätte. Der Bergstamm aus dem Norden Georgiens habe schon immer Stalin verehrt, deshalb könne man das Denkmal im Schulhof nicht entfernen. Ob sie, die Lehrer, dann im Unterricht wenigstens etwas erzählten über Stalin, bohren wir weiter. Das sei nicht nötig, die Kinder erführen zu Hause von ihren Eltern und Großeltern genügend über Stalin, lautet die Antwort. Aber es gäbe doch sicher auch etwas Kritisches zu sagen über den Diktator, fassen wir nach, das wäre doch eine Aufgabe für die Schule. Nein, werden wir erneut abgeblockt, das sei nicht nötig, diese Aufgabe würde die Presse erledigen. Wir brechen das Gespräch ab und finden im Dorf noch ein paar Alte, die uns mit sichtlicher Freude und kindlicher Erregung die Stalin-Gedichte, die sie in ihrer Kindheit lernen mussten, aufsagen. Chewsuren.


Doch auch andernorts, in Giorgizminda zum Beispiel, haben ältere Bauern für uns gerne ihren Stalin-Hausaltar auf den Hof gebracht und nicht ohne Stolz präsentiert. Andernorts fanden wir in Wohnungen aktuelle Stalin-Kalender direkt neben Marienbildern und Christusdarstellungen. Der Mythos des Göttlichen scheint nach wie vor ungebrochen, bei älteren Georgiern freilich nur, die Jugend kann mit dem Namen Stalin nicht mehr allzu viel anfangen.



Dass das Stalin-Denkmal auf öffentlichem Gelände von Tetrischewi kein Einzelfall ist, sehen wir wenige Kilometer entfernt in Telawi, wo ein ebenfalls silbergraues Standbild des Kommunistenführers irgendwo an einer Durchfahrtsstraße vor sich hin bröselt. Irgendwann einmal wird es verwittern, warum also jetzt abreißen und Diskussionen auslösen? Weitere öffentliche Stalin-Standbilder fanden wir in Schowi, Tkibuli, im Kuratal bei Achalziche, in Tschochatauri und Bordschomi, um nur einige wenige Standorte zu nennen, es gibt weitaus mehr. Auch auf einem Vorortbahnhof von Tbilissi grüßt ein stolzer Stalin den Reisenden, von der Terrasse einer neuen Villa in Saburtalo blickt ebenfalls ein Stalin in Lebensgröße auf die Straße. Wer sich in Tbilissi auf die Spurensuche nach Stalin macht, wird das Grab von Stalins Mutter auf dem Pantheon sehen wollen und das ehemalige Priesterseminar am Freiheitsplatz, in dem der junge Dschugaschwili studierte. Heute beherbergt es das Kunstmuseum mit seiner bedeutenden Schatzkammer.


Kaum bekannt ist ein architektonisches Kleinod, das wir nach langem Suchen in einem Mini-Park zwischen Aghmaschenebeli-Prospekt und Kura-Ufer-Straße ganz in der Nähe der Tamar-Mepe-Brücke gefunden haben: eine alte Meteo-Station und Sternwarte, der einzige Ort, an dem der junge Josif Dschugaschwili für knappe zwei Jahre einer normalen Beschäftigung nachging, bevor ihn die Revolution völlig in Beschlag nahm. In seinem früheren Arbeitszimmer, das nach wie vor als kleines Museum gepflegt wird, finden wir ein Gemälde, das den feschen Jüngling beim Ablesen meteorologischer Messdaten zeigt.


Die Messstation im Freien direkt neben der Sternwarte, wird uns gesagt, sei noch im Original aus der Zeit Stalins erhalten. Originale seien auch ein paar Tabellen mit meteorologischen Daten mit der Unterschrift Josif Dschugaschwilis, die hier wie Kostbarkeiten gehütet werden.


In dieser Zeit war Josif Stalin mit Ekaterina Swanidse verheiratet, die aber 1907 schon verstarb. Der Tod dieser Frau, die er über alles geliebt haben soll, hat ihn schwer getroffen. Ein Foto im Privatbesitz der Familie Dschugaschwili, das uns dankenswerterweise zur Verfügung gestellt wurde, zeigt den jungen Stalin am offenen Sarg seiner Frau zusammen mit deren Verwandtschaft. Das Grab Ekaterinas auf dem Kukia-Friedhof wird von deren Nachfahren nach wie vor gepflegt.


Ebenfalls aus Privatbesitz ist ein Foto, das einen schelmischen Stalin zeigt. Wir fanden es im kleinen „Theater für einen Schauspieler“, das von Sophiko Tschiaureli geleitet wird. Die Schauspielerin ist Tochter des Filmregisseurs Tschiaureli, der die meisten der Stalinfilme gedreht hat, die im ganzen Sowjetreich den Mythos Stalins begründeten.



Kein Diktator vor und nach ihm hat es mit Hilfe der Medien Film und Malerei verstanden, sich derart zur gottgleichen Ikone hoch zu stilisieren wie Stalin. Bei einem Besuch im privaten Stalin-Museum im Dörfchen Ossiauri (bei Chaschuri) bekommt man einen ausgezeichneten Eindruck vom Kult, den der Diktator um sich aufgebaut hatte (siehe GN-Archiv „Stalin – der Mythos lebt weiter“).



Das größte Stalin-Denkmal steht zweifelsohne in Gori, dem Geburtsort des Diktators. Überlebensgroß beherrscht der Schusterssohn aus der georgischen Provinzstadt deren Hauptplatz und die Präfektur.


Wenige Hundert Meter davon entfernt das Stalin-Museum mit dem „übertempelten“ Stalingeburtshaus und dem Eisenbahn-Waggon, mit dem der Sowjetführer durch sein Reich fuhr und dessen Inneres wegen seiner gediegenen Art-Deco-Ausstattung eine Besichtigung lohnt.



Geburtshaus und Museum dagegen bringen wenig Erhellung, es sei denn, man ist historisch informiert genug, um die auffällig einseitige Darstellung des Lebenswerkes Stalins auf sich wirken zu lassen. Die Verherrlichung des Revolutionärs und vor allem des erfolgreichen Feldherrn gipfelt in einem Säulen-verzierten runden Saal, in dessen Schummerlicht eine der wenigen Kopien der Todesmaske Stalins noch immer nach entsprechender Verehrung heischt.


Dass man auch im demokratischen Georgien dem größten Sohn der Stadt seine Referenz erweisen muss, wenn man in Gori auf Stimmenfang ist, musste Eduard Schewardnadse bei seinem Präsidentschaftswahlkampf im Jahr 1994 erfahren, als er um eine öffentliche Kundgebung am Geburtshaus Stalins nicht herumkam. Immerhin hatte eine der Stalin-Parteien dem Mann, der als Außenminister der UdSSR das Stalin-Imperium aufzulösen half, seine Unterstützung zugesagt.


Viel Volk war angetreten, Schulkinder in Nationaltrachten präsentierten stolz ihre einstudierten Volkstänze. Stalins Lieblingslied wurde gespielt, der Vorsitzende der Stalinpartei brüllte pflichtbewusst eine kämpferische Rede ins Mikrofon, die Präsidentin des Stalin-Museums lobte in schrillen Tönen den größten Sohn der Stadt und des Landes, während neben dem Rednerpult der spätere Präsident auffällig desinteressiert mit alten Freunden und Bekannten aus dem früheren Parteiapparat, die jetzt alle Demokraten sind, zu scherzen anfing, bevor er als Präsidentschaftsbewerber selbst zum Mikrofon schritt und eine für ihn erstaunlich kurze Ansprache hielt: Wir sind heute hier, sagte er, um ein wissenschaftliches Zentrum zur Erforschung des Phänomens Stalin zu begründen. Wir müssen aufhören, fuhr er fort, mit den Großen unserer Geschichte in kindlicher Verehrung und Verklärung umzugehen. Wir müssen herausfinden, was sie Gutes und was sie eventuell auch Schlechtes gemacht haben. Das ist jetzt die Aufgabe der Wissenschaft, die nun an die Arbeit gehen kann und uns später ihre Ergebnisse vorlegen wird. „Das Wissenschaftliche Zentrum zur Erforschung des Phänomens Stalin ist hiermit eröffnet“. Nach diesem bedeutungsvollen Schlusssatz ging Schewardnadse schnurstracks zur nächsten Station seiner Wahlkampfreise, in ein Krankenhaus.


Neun Jahre später suchen wir nach den ersten Ergebnissen des Forschungszentrums Schewardnadses. Ein Mathematikprofessor in Tbilissi ist dessen Vorsitzender, eine ganze Reihe von Mitgliedern der entsprechenden Parteien arbeiten mit, es fehlt – wie überall – an Geld und Sachmitteln. Man studiert die neuesten russischen Stalin-Veröffentlichungen und hat gar eine eigene Publikation hervorgebracht, eine Abhandlung zur überaus bedeutenden Frage, ob der Familienname Dschugaschwili aus einer ganz bestimmten Gegend Kachetiens stammt. Der georgische Staatspräsident wird wohl noch ein paar Jahre warten müssen, bis er sich über die guten und die schlechten Seiten des Mannes wird informieren können, der im Dezember 1879 als Josif Wissarionowitsch Dschugaschwili in der kleinen Bauernkate geboren wurde, die auch heute noch mit viel Liebe gepflegt und gehegt wird. Vor einem guten Jahrzehnt noch war es Pflicht eines jeden Georgiers und Georgienreisenden, diesen Ort zu besuchen und dem Vater der Völker seine Aufwartung zu machen.


Den skurilsten Fund auf unserer Spurensuche machten wir im Dörfchen Achalsopeli bei Martkopi. Dort pflegt Temur Kunelauri, ein glühender Stalinverehrer, einen Garten mit allem, was er an Statuen, Bildern und Devotionalien seines großen Idols hat auftreiben können. Eingebunden in kleine Gartenlauben, Nischen und Hecken findet der Besucher eine schaurig-seltsame Installation unzähliger Stalins, eine Kunstwelt, die wohl ihresgleichen auf dem Erdball sucht.


Eine Stalin-Figur entsteigt auf Knopfdruck einem kleinen Teich, in dem sie auch schnell wieder verschwindet. Banketträume mit entsprechender Kitsch-Dekoration warten auf die Unverbesserlichen, die hier unbehelligt und wohl auch unentdeckt von der Öffentlichkeit ihrem großen Meister mit Trinksprüchen noch einmal nahe kommen wollen.


Höhepunkt der Installationen: ein kleiner Raum mit einem offenen Sarkopharg samt Gipsleiche des Führers, immer mit frischen Rosen geziert. Hier ist Fotografieren verboten, dafür wird vom Besucher die entsprechende Ehrerbietung vor dem großen Toten erwartet. Zumindest eine Verneigung ist angesagt, denn der Erschaffer dieser seltenen Kunstwelt ist, wie gesagt, ein glühender Verehrer Stalins, obwohl er erst nach Stalins Tod geboren wurde.

Bei dieser Art der Geschichtsaufarbeitung lief es uns eiskalt den Rücken herunter, was zur Folge hatte, dass wir mit dieser Entdeckung die Spurensuche nach dem großen Sohn Georgiens aufgaben und uns entschlossen, zusammen mit dem georgischen Staatspräsidenten geduldig darauf warten, bis uns sein Zentrum zur Erforschung des Phänomens Stalin die endgültige Antwort auf die Frage gibt, was wir von dem Mann zu halten haben, der als einer genialsten Staatsmänner aber auch als einer der größten Verbrecher in die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts eingegangen ist.





Text und Fotos: Rainer Kaufmann

Mehr Informationen zum Thema:

Stalin - der Mythos
lebt weiter?


ZDF-Dokumentation: Stalin - Der Mythos


Der TV-Tipp:

ZDF Stalin-Trilogie
am 4.3., 11.3. und 18.3. jeweils um 20.15




Stalin auf dem Schulhof



Ehemaliges Priesterseminar
in Tbilissi



Stalins Sternwarte
in Tbilissi



Der junge Dschugaschwili




Meteo-Datenblatt von
Josif Dschugaschili




Stalin – der Ältere




Goris größter Sohn




Stalins Eisenbahnwaggon




Badezimmer




Flur




Arbeitssalon




Dekor vom Feinsten




Stalin Museum in Gori




Eingangshalle




Wohnzimmer der Dschugaschwilis




Kopie der Totenmaske




Stalin-Forscher im
Auftrag Schewardnadses




Alle folgenden Bilder aus dem Stalin-Privatgarten
in Martkopi
















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