|
|
|
|
|
|
|
|
Nein, im georgischen Alltag des Jahres 2003 spielt Josef Stalin
wirklich keine ernst zu nehmende Rolle mehr. Die Stalin-Parteien
– zwei waren es bei der letzten Wahl - dümpeln jenseits der Wahrnehmungsgrenze
und sein Enkel bemüht sich vergebens, politisches Gehör zu finden
und das Erbe des großen Georgiers zu wahren. Die enge Anbindung
Georgiens an die USA, die in der Stationierung amerikanischer Militär-Ausbilder
gipfelte, hätte seinem Vorfahren ganz sicher nicht gefallen, erklärte
er im vergangenen Sommer – und kaum jemand nahm wirklich Notiz davon.
Trotzdem kann man sich, wenn man offenen Auges durch Georgien fährt,
des Eindrucks nicht erwehren, als ob der Mythos des Tyrannen noch
immer allgegenwärtig wäre. Unzählige Stalin-Denkmäler gibt es in
Georgien, nicht nur das berühmte in Gori, einige wurden sogar erst
in den letzten Jahren wieder aufgebaut.
Allein in Tbilissi gibt es einige öffentliche Stalin-Abbildungen,
die schönste in der Aghmaschenebeli-Straße, ein Sandstein-Relief
in einem Torbogen, das Stalin in einem Meer von Blumen zeigt, die
Kinder ihm darreichen – Stalin, der gütige Vater der Völker.
Fast jedes Dorf hat ein Weltkrieg-II-Denkmal, ein Mahnmal zur Erinnerung
an den großen vaterländischen Krieg, und auf einem solchen Mahnmal
darf der erfolgreiche Feldherr natürlich nicht fehlen. Er ist nun
mal Teil dieser Geschichte. Aus diesen vielen Dorf-Stalins auf einen
nach wie vor vorhandenen Stalin-Kult in Georgien schließen zu wollen,
wäre falsch. Und trotzdem, es gibt ihn, den Erinnerungskult an den
größten Sohn des Landes, verborgen manchmal und doch nicht zu übersehen.
Zum Anlaß des 50. Todestages Stalins am 5. März hat sich GN im ganzen
Land auf die Suche gemacht und teilweise erstaunliches gefunden.
So steht eine mit Silberfarbe überzogene Stalinbüste im Dorf Tetrischewi
am Gomboripass mitten auf einem Schulhof. Die Alten des Dorfes,
so erzählen die Lehrer, wollten ihn einfach nicht hergeben, er gehöre
zu ihrer Kindheit und damit zu ihrem Leben. Ob die Leute im Dorf
denn tatsächlich heute noch Stalin verehrten, wollen wir wissen.
Nein, nicht direkt, aber sie seien halt Chewsuren, die man hier
angesiedelt hätte. Der Bergstamm aus dem Norden Georgiens habe schon
immer Stalin verehrt, deshalb könne man das Denkmal im Schulhof
nicht entfernen. Ob sie, die Lehrer, dann im Unterricht wenigstens
etwas erzählten über Stalin, bohren wir weiter. Das sei nicht nötig,
die Kinder erführen zu Hause von ihren Eltern und Großeltern genügend
über Stalin, lautet die Antwort. Aber es gäbe doch sicher auch etwas
Kritisches zu sagen über den Diktator, fassen wir nach, das wäre
doch eine Aufgabe für die Schule. Nein, werden wir erneut abgeblockt,
das sei nicht nötig, diese Aufgabe würde die Presse erledigen. Wir
brechen das Gespräch ab und finden im Dorf noch ein paar Alte, die
uns mit sichtlicher Freude und kindlicher Erregung die Stalin-Gedichte,
die sie in ihrer Kindheit lernen mussten, aufsagen. Chewsuren.
Doch auch andernorts, in Giorgizminda zum Beispiel, haben ältere
Bauern für uns gerne ihren Stalin-Hausaltar auf den Hof gebracht
und nicht ohne Stolz präsentiert. Andernorts fanden wir in Wohnungen
aktuelle Stalin-Kalender direkt neben Marienbildern und Christusdarstellungen.
Der Mythos des Göttlichen scheint nach wie vor ungebrochen, bei
älteren Georgiern freilich nur, die Jugend kann mit dem Namen Stalin
nicht mehr allzu viel anfangen.
Dass das Stalin-Denkmal auf öffentlichem Gelände von Tetrischewi
kein Einzelfall ist, sehen wir wenige Kilometer entfernt in Telawi,
wo ein ebenfalls silbergraues Standbild des Kommunistenführers irgendwo
an einer Durchfahrtsstraße vor sich hin bröselt. Irgendwann einmal
wird es verwittern, warum also jetzt abreißen und Diskussionen auslösen?
Weitere öffentliche Stalin-Standbilder fanden wir in Schowi, Tkibuli,
im Kuratal bei Achalziche, in Tschochatauri und Bordschomi, um nur
einige wenige Standorte zu nennen, es gibt weitaus mehr. Auch auf
einem Vorortbahnhof von Tbilissi grüßt ein stolzer Stalin den Reisenden,
von der Terrasse einer neuen Villa in Saburtalo blickt ebenfalls
ein Stalin in Lebensgröße auf die Straße. Wer sich in Tbilissi auf
die Spurensuche nach Stalin macht, wird das Grab von Stalins Mutter
auf dem Pantheon sehen wollen und das ehemalige Priesterseminar
am Freiheitsplatz, in dem der junge Dschugaschwili studierte. Heute
beherbergt es das Kunstmuseum mit seiner bedeutenden Schatzkammer.
Kaum bekannt ist ein architektonisches Kleinod, das wir nach langem
Suchen in einem Mini-Park zwischen Aghmaschenebeli-Prospekt und
Kura-Ufer-Straße ganz in der Nähe der Tamar-Mepe-Brücke gefunden
haben: eine alte Meteo-Station und Sternwarte, der einzige Ort,
an dem der junge Josif Dschugaschwili für knappe zwei Jahre einer
normalen Beschäftigung nachging, bevor ihn die Revolution völlig
in Beschlag nahm. In seinem früheren Arbeitszimmer, das nach wie
vor als kleines Museum gepflegt wird, finden wir ein Gemälde, das
den feschen Jüngling beim Ablesen meteorologischer Messdaten zeigt.
Die Messstation im Freien direkt neben der Sternwarte, wird uns
gesagt, sei noch im Original aus der Zeit Stalins erhalten. Originale
seien auch ein paar Tabellen mit meteorologischen Daten mit der
Unterschrift Josif Dschugaschwilis, die hier wie Kostbarkeiten gehütet
werden.
In dieser Zeit war Josif Stalin mit Ekaterina Swanidse verheiratet,
die aber 1907 schon verstarb. Der Tod dieser Frau, die er über alles
geliebt haben soll, hat ihn schwer getroffen. Ein Foto im Privatbesitz
der Familie Dschugaschwili, das uns dankenswerterweise zur Verfügung
gestellt wurde, zeigt den jungen Stalin am offenen Sarg seiner Frau
zusammen mit deren Verwandtschaft. Das Grab Ekaterinas auf dem Kukia-Friedhof
wird von deren Nachfahren nach wie vor gepflegt.
Ebenfalls aus Privatbesitz ist ein Foto, das einen schelmischen
Stalin zeigt. Wir fanden es im kleinen „Theater für einen Schauspieler“,
das von Sophiko Tschiaureli geleitet wird. Die Schauspielerin ist
Tochter des Filmregisseurs Tschiaureli, der die meisten der Stalinfilme
gedreht hat, die im ganzen Sowjetreich den Mythos Stalins begründeten.
Kein Diktator vor und nach ihm hat es mit Hilfe der Medien Film
und Malerei verstanden, sich derart zur gottgleichen Ikone hoch
zu stilisieren wie Stalin. Bei einem Besuch im privaten Stalin-Museum
im Dörfchen Ossiauri (bei Chaschuri) bekommt man einen ausgezeichneten
Eindruck vom Kult, den der Diktator um sich aufgebaut hatte (siehe
GN-Archiv „Stalin
– der Mythos lebt weiter“).
Das größte Stalin-Denkmal steht zweifelsohne in Gori, dem Geburtsort
des Diktators. Überlebensgroß beherrscht der Schusterssohn aus der
georgischen Provinzstadt deren Hauptplatz und die Präfektur.
Wenige Hundert Meter davon entfernt das Stalin-Museum mit dem „übertempelten“
Stalingeburtshaus und dem Eisenbahn-Waggon, mit dem der Sowjetführer
durch sein Reich fuhr und dessen Inneres wegen seiner gediegenen
Art-Deco-Ausstattung eine Besichtigung lohnt.
Geburtshaus und Museum dagegen bringen wenig Erhellung, es sei denn,
man ist historisch informiert genug, um die auffällig einseitige
Darstellung des Lebenswerkes Stalins auf sich wirken zu lassen.
Die Verherrlichung des Revolutionärs und vor allem des erfolgreichen
Feldherrn gipfelt in einem Säulen-verzierten runden Saal, in dessen
Schummerlicht eine der wenigen Kopien der Todesmaske Stalins noch
immer nach entsprechender Verehrung heischt.
Dass man auch im demokratischen Georgien dem größten Sohn der Stadt
seine Referenz erweisen muss, wenn man in Gori auf Stimmenfang ist,
musste Eduard Schewardnadse bei seinem Präsidentschaftswahlkampf
im Jahr 1994 erfahren, als er um eine öffentliche Kundgebung am
Geburtshaus Stalins nicht herumkam. Immerhin hatte eine der Stalin-Parteien
dem Mann, der als Außenminister der UdSSR das Stalin-Imperium aufzulösen
half, seine Unterstützung zugesagt.
Viel Volk war angetreten, Schulkinder in Nationaltrachten präsentierten
stolz ihre einstudierten Volkstänze. Stalins Lieblingslied wurde
gespielt, der Vorsitzende der Stalinpartei brüllte pflichtbewusst
eine kämpferische Rede ins Mikrofon, die Präsidentin des Stalin-Museums
lobte in schrillen Tönen den größten Sohn der Stadt und des Landes,
während neben dem Rednerpult der spätere Präsident auffällig desinteressiert
mit alten Freunden und Bekannten aus dem früheren Parteiapparat,
die jetzt alle Demokraten sind, zu scherzen anfing, bevor er als
Präsidentschaftsbewerber selbst zum Mikrofon schritt und eine für
ihn erstaunlich kurze Ansprache hielt: Wir sind heute hier, sagte
er, um ein wissenschaftliches Zentrum zur Erforschung des Phänomens
Stalin zu begründen. Wir müssen aufhören, fuhr er fort, mit den
Großen unserer Geschichte in kindlicher Verehrung und Verklärung
umzugehen. Wir müssen herausfinden, was sie Gutes und was sie eventuell
auch Schlechtes gemacht haben. Das ist jetzt die Aufgabe der Wissenschaft,
die nun an die Arbeit gehen kann und uns später ihre Ergebnisse
vorlegen wird. „Das Wissenschaftliche Zentrum zur Erforschung des
Phänomens Stalin ist hiermit eröffnet“. Nach diesem bedeutungsvollen
Schlusssatz ging Schewardnadse schnurstracks zur nächsten Station
seiner Wahlkampfreise, in ein Krankenhaus.
Neun Jahre später suchen wir nach den ersten Ergebnissen des Forschungszentrums
Schewardnadses. Ein Mathematikprofessor in Tbilissi ist dessen Vorsitzender,
eine ganze Reihe von Mitgliedern der entsprechenden Parteien arbeiten
mit, es fehlt – wie überall – an Geld und Sachmitteln. Man studiert
die neuesten russischen Stalin-Veröffentlichungen und hat gar eine
eigene Publikation hervorgebracht, eine Abhandlung zur überaus bedeutenden
Frage, ob der Familienname Dschugaschwili aus einer ganz bestimmten
Gegend Kachetiens stammt. Der georgische Staatspräsident wird wohl
noch ein paar Jahre warten müssen, bis er sich über die guten und
die schlechten Seiten des Mannes wird informieren können, der im
Dezember 1879 als Josif Wissarionowitsch Dschugaschwili in der kleinen
Bauernkate geboren wurde, die auch heute noch mit viel Liebe gepflegt
und gehegt wird. Vor einem guten Jahrzehnt noch war es Pflicht eines
jeden Georgiers und Georgienreisenden, diesen Ort zu besuchen und
dem Vater der Völker seine Aufwartung zu machen.
Den skurilsten Fund auf unserer Spurensuche machten wir im Dörfchen
Achalsopeli bei Martkopi. Dort pflegt Temur Kunelauri, ein glühender
Stalinverehrer, einen Garten mit allem, was er an Statuen, Bildern
und Devotionalien seines großen Idols hat auftreiben können. Eingebunden
in kleine Gartenlauben, Nischen und Hecken findet der Besucher eine
schaurig-seltsame Installation unzähliger Stalins, eine Kunstwelt,
die wohl ihresgleichen auf dem Erdball sucht.
Eine Stalin-Figur entsteigt auf Knopfdruck einem kleinen Teich,
in dem sie auch schnell wieder verschwindet. Banketträume mit entsprechender
Kitsch-Dekoration warten auf die Unverbesserlichen, die hier unbehelligt
und wohl auch unentdeckt von der Öffentlichkeit ihrem großen Meister
mit Trinksprüchen noch einmal nahe kommen wollen.
Höhepunkt der Installationen: ein kleiner Raum mit einem offenen
Sarkopharg samt Gipsleiche des Führers, immer mit frischen Rosen
geziert. Hier ist Fotografieren verboten, dafür wird vom Besucher
die entsprechende Ehrerbietung vor dem großen Toten erwartet. Zumindest
eine Verneigung ist angesagt, denn der Erschaffer dieser seltenen
Kunstwelt ist, wie gesagt, ein glühender Verehrer Stalins, obwohl
er erst nach Stalins Tod geboren wurde.
Bei dieser Art der Geschichtsaufarbeitung lief es uns eiskalt den
Rücken herunter, was zur Folge hatte, dass wir mit dieser Entdeckung
die Spurensuche nach dem großen Sohn Georgiens aufgaben und uns
entschlossen, zusammen mit dem georgischen Staatspräsidenten geduldig
darauf warten, bis uns sein Zentrum zur Erforschung des Phänomens
Stalin die endgültige Antwort auf die Frage gibt, was wir von dem
Mann zu halten haben, der als einer genialsten Staatsmänner aber
auch als einer der größten Verbrecher in die Geschichte des vergangenen
Jahrhunderts eingegangen ist.
Text und Fotos: Rainer Kaufmann |
|
|
|
|
|
Stalin auf dem Schulhof
Ehemaliges Priesterseminar
in Tbilissi
Stalins Sternwarte
in Tbilissi
Der junge Dschugaschwili
Meteo-Datenblatt von
Josif Dschugaschili
Stalin – der Ältere
Goris größter Sohn
Stalins Eisenbahnwaggon
Badezimmer
Flur
Arbeitssalon
Dekor vom Feinsten
Stalin Museum in Gori
Eingangshalle
Wohnzimmer der Dschugaschwilis
Kopie der Totenmaske
Stalin-Forscher im
Auftrag Schewardnadses
Alle folgenden Bilder aus dem Stalin-Privatgarten
in Martkopi
|
|
|
|