Ausgabe 9/02, 19. Juni
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Sommerschlussverkauf in Abchasien
Sturm auf Russische Pässe macht Tbilissi schwer zu schaffen

Neben der Fussballweltmeisterschaft beschäftigten sich die Abchasen im Juni nur mit einem Thema, nämlich dem Erhalt eines russischen Passes. Dies berichtet der IWPR (International War and Peace Report) in einem ausführlichen Bericht aus Suchumi. Vor dem Büro des Kongresses der Russischen Gemeinschaft in Abchasien bildeten sich lange Schlangen von Bürgern aus allen Teilen der von Georgien abtrünnigen Republik, um ihre alten Reisedokumente aus der Sowjetzeit abzugeben. Von da gingen sie in ein Konsularbüro des russischen Aussenministeriums in Sotchi, das eigens eingerichtet worden war. Zurück kamen sie mit einem Zusatz, der die russischen Staatsbürgerschaft garantierte.

IWPR berichtet, dass 150.000 Menschen in Abchasien von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht hätten. Rund 50.000 Einwohner von Abchasien hatten schon vorher einen russischen Pass. Damit seien 70 % der abchasischen Bevölkerung jetzt russische Staatsbürger. Grundlage dieser Aktion, gegen die Georgien heftig protestierte, ist ein Gesetz der DUMA, wonach es vor der endgültigen Verschärfung der Staatsbürgerschaftsbestimmungen jedem Bürger der ehemaligen Sowjetunion letztmalig erlaubt wurde, einen russischen Pass zu beantragen. Ab 1. Juli soll dies nicht mehr möglich sein. Dann gilt in Russland ein neues Staatsbürgerrecht. Im Juni war in Suchumi so etwas wie Sommerschlussverkauf der anderen Art.

Unabhängig davon, ob die vom IWPR genannten Zahlen stimmen oder nicht - soviele Menschen scheinen in Abchasien nicht zu leben -, verschlechtert dieser Schritt die georgisch-russischen Beziehungen ganz erheblich, die sich in den letzten Monaten zumindest auf der Ebene Putin-Schewardnadse spürbar verbessert hatten. Wie es in Suchumi heisst, soll Putin selbst diese Aktion während eines Besuchs des abchasischen Premierministers Anri Dschergenia in Moskau abgesegnet haben. Diese Aussage wird aber weder von Russland noch von Abchasien offiziell bestätigt und ist deshalb nicht unbedingt glaubwürdig.

Für viele Abchasen macht die russische Pass-Aktion durchaus einen praktischen Sinn, unabhängig von ihren politischen Folgerungen. Da kein Land der Welt die Staatsbürgerschaft der abtrünnigen Republik anerkannte, waren sie von allen Auslandsreisen ausser nach Russland de facto ausgeschlossen, es sei denn, sie hätten in Tbilissi einen georgischen Pass beantragt. Jetzt, mit der russischen Staatsbürgerschaft, können sie überall in der Welt Visa beantragen. "Ich möchte nicht, dass meine Kinder innerhalb Abchasiens enden, während andere Leute die Chance haben, frei in der Welt herumzureisen. Ich sehe nichts Schlechtes darin, wenn Russland meinen Kindern dabei hilft", erklärte ein abchasischer Familienvater den IWPR-Reportern. Er hat vier Kinder, war Soldat im Krieg mit Georgien und kann sich überhaupt nicht vorstellen, jemals einen georgischen Pass zu führen. Lieber würde er vor Hunger sterben.

Während in allen Nachfolgestaaten der Sowjetunion neue Pässe ausgegeben wurden, waren die Abchasen neben den Dokumenten ihrer abtrünigen Republik auf die alten Sowjetpässe angewiesen. Die wurden von Russland noch akzeptiert, aber auch diese Regelung läuft in einigen Monaten aus. Alle Versuche der abchasischen Behörden, für Auslandsreisen ihrer Bürger UN-Reisedokumente zu erhalten, scheiterten am Nein aus New York. Die UN können auf der einen Seite nicht eine politische Lösung des Abchasienkonflikts proklamieren, die eine Autonomie innerhalb des georgischen Staates vorsieht, und gleichzeitig die Abchasen mit Reisedokumenten ausstatten. "Man hat den Eindruck, das die UN-Bürokraten die territoriale Integrität Georgiens wichtiger ist als die elementaren Menschenrechte eines ganzen Volkes" klagt ein abchasischer Menschenrechtler und erklärt, dass die Inflexibilität der Internationalen Gemeinschaft in der abchasischen Passfrage den jetzigen Sturm auf die Russenpässe ausgelöst hätte.

Die offiziellen Behörden Suchumis waren in die Passaktion nicht eingeschaltet, wenngleich sie das ganze Manöver tatkräftig unterstützten und vor allem die Landbevölkerung aufriefen, nach Suchumi zu reisen und den russischen Pass zu beantragen. IWPR berichtete, dass das ohnehin kaum spürbare wirtschafliche Leben Abchasiens nahezu völlig zum Erliegen gekommen sei, da die Abchasen entweder um ihren russischen Pass bemüht waren oder die Übertragungen der Fussball-WM anschauten.

"Wenn unsere Einwohner einen russischen Pass erhalten können, wird dies unsere Beziehungen zu Russland nur stärken", erklärte der Premierminister der abtrünnigen Republik Anri Dschergenia, der noch immer auf eine Art Assoziierungsabkommen mit Russland hofft. Er selbst hatte wegen seines Regierungsamtes seine frühere russische Staatsbürgerschaft aufgegeben, sagt aber, dass je mehr russische Staatsbürger in Abchasien lebten, desto grösser sei die Garantie, dass Georgien nicht einen neuen Krieg beginnen könne. Jede starke Nation müsse ihre Staatsbürger verteidigen, wo immer sie lebten.

Für Bürokraten wie für viele Kleinunternehmer brachte der Sturm auf die Russenpässe einen ungeheuren kurzfristigen Boom. Viele Beamte, die in kurzer Zeit unzählige alte Pässe oder Aufenthaltspapiere amtlich zu bestätigen hatten, konnten im Juni mehr Geld in die Taschen stecken als im ganzen übrigen Jahr. Die Betreiber von Fotokopiergeräten konnten die Schlangen vor ihren Copyshops kaum übersehen, einige verlegten ihr Geschäft gleich ganz auf die Strasse. Eine clevere Eisverkäuferin kurbelte ihren Verkauf gegenüber dem Kongress der Russischen Gemeinschaft dadurch an, dass sie ihren Kunden eine kostenlose Rechtsberatung angedeihen liess. Für viele unbedarfte Dörfler ein gerne in Anspruch genommener Service. "Man muss halt das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden" erklärte die erfolgreiche Kleinunternehmerin den IWPR-Reportern.

In Tbilissi hat diese Pass-Aktion des russischen Aussenministeriums heftige Proteste hervorgerufen. Der georgische Aussenminister bezeichnete sie als eine illegale Kampagne, die Parlamentspräsidentin protestierte bei der OSZE und Präsident Eduard Schewardnadse wollte sich direkt an seinen neuen Männerfreund Putin wenden, um eine Erklärung zu erhalten. Was dabei herausgekommen ist, ist noch nicht herausgekommen. Parlamentarier fordern hingegen die Annulierung aller Abkommen, die Georgien zum Problem Abchasien geschlossen hat, und den Rückzug aus der GUS. Das Parlament hat jedoch vorerst einen Beschluss über den künftigen Status von Abchasien zurückgestellt und damit besonnen reagiert. Man will anscheinend kein weiteres Öl ins Feuer giessen und erst die nächste Resolution des UN-Sicherheitstrates zum UNOMIG-Mandat abwarten. Dieser müsste in diesen Tagen erfolgen, denn Ende Juni läuft das bisherige Mandat sowohl der UN-Beobachtermission als auch der GUS-Friedenstruppen ab. Die Aufgabe der neuen UN-Sonderbotschafterin Heidi Tagliarini ist durch diesen Sommerschlussverkauf russischer Pässe nicht gerade leichter geworden.

Für den IWPR berichteten Inal Khashig, BBC Kaukasus und Zentral-Asien-Korrespondent, und Margarita Akhvlediani vom IWPR Georgien.

 

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

ERKA-Verlag ©2002