Obwohl sich die Ereignisse in den letzten Tagen überschlagen
haben, wollen wir unsere Serie über den Auszählungskrimi
fortsetzen. Ohne die vielen Details, die in den Tagen nach der Wahl
zu protokollieren waren, ist auch vieles von dem, was am vergangenen
Wochenende geschah nicht zu verstehen. In dieser Ausgabe führen
wir sie noch einmal zu den Auszählungen am 4. und 5. November
zurück.
Dienstag, 4. November
Drei Oppositionblöcke - Nationale Bewegung, Burdschanadse-Demokraten
und Ertoba - schließen sich zu einer Protest-Koalition zusammen
und stellen der Regierung ein Ultimatum: Bis 6.00 Uhr abends sollen
die Wahlkreisergebnisse sauber ausgezählt sein, ansonsten
drohen sie mit Massendemonstrationen in ganz Georgien. Der dritte
Protest-Koalitionär, Dschumber Patiaschwili von der alt/neu-kommunistischen
Partei Ertoba, ein alter politischer Gegner Schewardnadses, wird
in dem Bündnis aufgenommen, obwohl seine Partei jenseits
der statistischen Wahrnehmungsgrenze liegt und keinerlei Bedeutung
mehr hat. Da Saakaschwili, Burdschanadse und Schwania aber alle
Oppositionsparteien aufgefordert hatten, ihrer Koalition beizutreten,
können sie den einzigen, der diesem Aufruf gefolgt war, schlecht
ausschließen. Der Altkommunist genießt sichtlich seine
Bedeutung und inszeniert vielleicht einer seiner letzten Auftritte
auf der großen politischen Bühne. Er habe Informationen,
erklärt er, wonach die Regierung die schon gefälschten
Wahlen ein zweites Mal fälschen werde. Es gäbe nämlich
ein Abkommen zwischen Schewardnadse und Aslan Abaschidse, wonach
sich Regierung und Wiedergeburt die Stimmen aufteilen würden.
Im Gegenzug würde Aslan Abaschidse darauf verzichten, seine
autonome Provinz aus dem Staatengebilde Georgiens herauszulösen.
Diese These erhält durch das Gerücht Nahrung, Finanz-Tycoon
Badri Patarkatsischwili, ein Busenfreund von Wascha Lordkipanidse,
dem Spitzenkandidaten des Regierungsblocks, sei nach Batumi geflogen,
um mit dem dortigen Provinzfürsten und Spitzenkandidaten
seiner Wiedergeburtspartei zu verhandeln. Wascha Lordkipanidse,
ehemaliger georgischer Botschafter in Moskau und späterer
Staatsminister unter Schewardnadse, wurde von jenem schon vor
den Wahlen als möglicher und überdies besonders geeigneter
Parlamentspräsident benannt. Von Badri Patarkatsischwili
weiß man, dass er eigentlich die Unternehmerpartien Neue
Rechte und Industrialisten hat unterstützen wollen, vom Regierungslager
aber zurückgepfiffen wurde, das bis heute ein Auslieferungsverlangen
Russlands gnädig übersieht. Dafür wurde Wascha
Lordkipanidse, eigentlich ein politisches Auslaufmodell, Spitzenkandidat
des Regierungsblocks.
Die übrigen Oppositionsparteien - Arbeiterpartei, Neue Rechte
und Industrialisten - schließen sich der Oppositions-Koalition
nicht an. Der Arbeiterführer Schalwa Natelaschwili beschuldigt
Saakaschwili und Schwania/Burdschanadse, die Oppositionsrolle
nur pro forma zu spielen, in Wahrheit aber noch immer dem Schewardnadse-Lager
anzugehören. Natelaschwili, so heißt es, habe vor vier
Jahren die 7-%-Hürde eigentlich überwunden gehabt, sei
aber durch Stimmenmanipulationen des Regierungslagers aus dem
Parlament herausgemogelt worden. Die Wahlkampf-Manager der Schewardnadse-Bürgerunion
waren damals Michael Saakaschwili und Surab Schwania.
Die Neuen Rechten mit David Gamkrelidse und Lewan Gachechiladse
wollen erst die Endergebnisse abwarten, sie stehen dem Oppositionsbündnis
ebenso reserviert gegenüber wie Gogi Topadse von den Industrialisten,
der vor vier Jahren nur deshalb noch über die 7-%-Hürde
gehievt worden sein soll, weil er sich während einer er traditionellen
Auszählpausen mit Aslan Abaschidse geeinigt haben soll. Vor
diesen Verhandlungen standen die Industrialisten bei 6,9 %, danach
bei 7,1 %. In diesem Jahr, soviel darf vorweggenommen werden,
wird die Ruhe der Neuen Rechten belohnt. Obwohl sie bei allen
Zwischenergebnissen mehr oder weniger deutlich unter der 7-%-Hürde
rangieren, werden sie im endgültigen Wahlergebnis am am 20.
November die Sperrklause um ein paar Prozentzehntel überspringen
und dem neuen Parlament angehören.
Am Abend finden die ersten Demonstrationen statt. Burdschanadse
und Schwania versammeln ihre Anhänger in der Philharmonie,
um mit ihnen später zum Rathaus zu marschieren, wo Saakaschwili
mit seinen Anhängern wartet. Insgesamt sind es 3.000 bis
4.000 Menschen, im fernen Mitteleuropa werden sie auf 20.000 aufgerundet.
Schwania erklärt, rund 56.000 Wählerinnen und Wählern
seines Blocks sei der Zutritt zur Wahl verwehrt worden, da man
sie aus den Wählerverzeichnissen gestrichen hatte. Saakaschwili
erklärt die Opposition zum alleinigen Wahlsieger und ruft
in den Abendhimmel: "Wenn Schewardnadse eine Revolution will,
dann kann er sie haben." Eine Aussage, an die zu dieser Stunde
nur er selbst glauben konnte. Die nächste Demonstration wird
für Mittwoch 13.00 Uhr angekündigt. Die Polizei hält
sich im Hintergrund, der Verkehr auf dem Rustaweli nimmt kaum
Notiz von der Demo. Nur ein massives Aufgebot an schwarz maskierten
Uniformträgern vor dem Gebäude der CEC auf dem Rustaweli-Prospekt
erinnert daran, dass irgendetwas in der Luft sein könnte.
Falls die Regierung nicht einlenkt, kündigen Schwania und
Saakaschwili massive Demonstrationen an. Saakaschwili droht Schewardnadse
für diesen Fall dasselbe Schicksal an wie Ceaucescu.
Mittwoch 5. November
Die Regierung macht mobil. Am Morgen fahren starke Polizeieinheiten,
martialisch aufgerüstet, vor den wichtigsten Regierungsgebäuden
auf, der Präsidialkanzlei und der früheren Parteihochschule
am Rustaweli-Prospekt, heute Heimstatt von Parlamentsausschüssen
und der CEC. In der Philharmonie versammeln sich die Anhänger
von Burdschanadse und Schwania. Nach einer Stunde löst sich
die Versammlung ohne die angekündigten schwereren Maßahmen
wieder auf. Schwania wird mit der Bemerkung zitiert, die Opposition
habe ja immerhin über 75 % der Stimmen erhalten. Eine erste
Andeutung auf einen taktischen Rückzug?
Die Polizei zieht auch ab, die Bilder ihrer Machtdemonstration
werden den ganzen Tag über auf allen Kanälen wiederholt.
Die Botschaft, die ankommen soll: Die Regierung lässt eine
Destabilisierung nicht zu. Ein eilig zum Aufzug der Staatskanzlei
eilender Innenminister droht mit Gewaltanwendung, falls Demonstranten
Regierungsgebäude angriffen. Außerdem kündigt
er nichtssagend-vielsagend die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens
gegen Oppositionspolitiker an, die auf ungenehmigten Versammlungen
die Bevölkerung zum Widerstand gegen die Staatsgewalt aufstachelten.
Namen nennt er allerdings nicht, Staatsgeheimnis.
Der amerikanische Botschafter spricht mit Schewardnadse, kritisiert
das Wahl- und vor allem das Auszählungsverfahren, erinnert
beide Seiten aber daran, im neuen Parlament zusammenarbeiten zu
müssen. Später kursiert das Gerücht, die Oppositionskoalition
stünde unter erheblichem Druck der Amerikaner, den Bogen
nicht zu überspannen. Demonstrationen ja, Destabilisierung
nein, wobei niemand die Grenze definiert, die beide Begriffe voneinander
trennt. Das zweite Ultimatum der Opposition zur Anerkennung ihres
Sieges ist mittlerweile verstrichen, es gehen Gerüchte um,
der Burdschanadse-Schwania-Block würde seine Proteste zurückziehen
für die Zusage, die 7-%-Hürde auf alle Fälle überspringen
zu können.
Die CEC-Vorsitzende Nana Devdariani erklärt in einer Pressekonferenz
denn auch, dass nach den vorliegenden Daten fünf Parteien
die 7-%-Hürde überwunden hätten. Auf der Basis
von 1.826 von insgesamt 2.870 Wahlbezirken veröffentlichte
sie folgendes Zwischenergebnis: Der Regierungsblock führt
knapp vor Saakaschwili, Natelaschwili, Burdschanadse/Schwania
und Wiedergeburt.
Aslan Abaschidse, Präsident der autonomen Republik Adscharien,
ruft die Bevölkerung Georgiens auf, Verantwortungsbewusstsein
zu zeigen und keine Konfrontationen zu unterstützen, die
nur den Ambitionen einzelner dienten und zum Bürgerkrieg
führten. Die "so genannte Opposition" und die Regierung
seien Mitglieder derselben Partei, die sich nur für eine
kurze Zeit getrennt hätten, um sich später wieder zu
vereinen. Badri Patakatsischwili, so heißt es, ist noch
immer in Westgeorgien, um mit dem Autokraten vom Schwarzen Meer
zu verhandeln. Adscharien hat der CEC bis jetzt noch keine Wählerlisten
vorgelegt, geschweige denn ein Wahlergebnis.
Donnerstag, 6.11.
Der Tag der Wahrheit bricht an. Um 18.00 Uhr müssen laut
Wahlgesetz alle Zählergebnisse der Wahlbezirke direkt bei
der CEC eingegangen sein. Am Morgen sind 1.972 Bezirke ausgezählt,
bis zum Abend sollte sich daran nichts ändern. Die erste
große georgische Zählpause steht an, denn alles wartet
gespannt auf die Post aus Batumi.. Bevor die Ergebnisse aus Adscharien
nicht eingetroffen sind, können andere Wahlbezirke anscheinend
nicht mehr eins und eins zusammenzählen. Der Zwischenstand
am Morgen:
Regierungsblock |
24,5 % |
Nationale Bewegung |
23,0 % |
Arbeiterpartei |
13,5 % |
Burdschandse-Demokraten |
8,8 % |
Neue Rechte |
7,7 % |
Wiedergeburt |
6,5 % |
Industrialisten |
6,0 % |
Irina Sarishvili-Chanturia überrascht mit einer Pressekonferenz.
Nach unbestätigten Berichten habe sich die Regierung auf
einen Deal zumindest mit einer Oppositionspartei, dem Burdschanadse-Demokraten-Block,
eingelassen, diesem Stimmen abgegeben, damit er auf alle Fälle
die 7-%-Hürde überspringen könne. Nach Ansicht
von Sarishvili-Chanturia habe der Burdschanadse-Demokraten-Block
in der ansonsten Präsidenten-treuen Region Nieder-Kartli
auffällig viele Stimmen bekommen, was nichts anderes heißt,
als dass Stimmenpakete hinter den Kulissen offenbar als parteipolitische
Verhandlungsmasse gelten. Das macht aus georgischer Sicht durchaus
Sinn. Bei den noch ausstehenden Ergebnissen aus Adscharien, wo
mit einer hohen Zustimmung für Aslan Abaschidse gerechnet
werden muss, sieht die Lage für die Parlamentspräsidentin
und ihren Vorgänger nicht gerade rosig aus: 8,8 % können
da leicht zusammen schmelzen. Irina Sarishvili-Chanturia, heute
Sprecherin des Regierungsblocks, vor vier Jahren noch in heftiger
Opposition zu Schewardnadse und damals an der 7-%-Hürde gescheitert,
wolle an diesem schamlosen Geschäft nicht beteiligt sein
und stellte dem Präsidenten anheim, Sie aus seiner Liste
zu streichen, wenn sich dieser Verdacht bewahrheiten sollte. Das
Geschäft sei nach dem letzten Protest-Meeting der Opposition
zustande gekommen. Sie wolle lieber auf ihr Mandat verzichten,
erklärte Frau Sarishvili-Chanturia, als zu schweigen, was
sie später dergestalt korrigiert, ihr Mandat auf alle Fälle
anzunehmen, aber eine neue Kraft im Parlament zu formen, die weder
mit der Regierung noch mit der Schein-Opposition etwas zu tun
hätte. Wer, neben ihr, diese neue Kraft bilden soll, verschweigt
die tapfere Einzelkämpferin.
Unterstützung erhält sie vom Sozialisten-Chef Wachtang
Rcheulischwili, ebenfalls Mitglied im Regierungsblock, der erklärt,
wenn Schewardnadse mit der radikalen Opposition unter dem Erpressungsdruck
der Straße einen Kompromiss eingehe, würden sich ihre
Wege trennen. Die Regierung fürchte eine Destabilisierung
des Landes und sei deshalb dabei, den Konflikt mit einem Deal
zu lösen, der die Betrüger "Burdschanadse-Demokraten"
und einen ihrer Führer, Surab Schwania, ins Parlament brächte.
So locker geht die politische Klasse Georgiens mit dem Souverän
Wähler und seinen Stimmen um.
Dagegen begrüßt ein anderer Führer des Regierunsblocks,
Armaz Akhvlediani, eine Stellungnahme von Aslan Abaschidse, dem
Adscharien-Präsidenten. Dieser hatte in einem TV-Auftritt
in Adscharien soeben die Notwendigkeit unterstrichen, nach den
Wahlen im ganzen Lande Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten. Obwohl
er vor vier Jahren als Spitzenkandidat seiner Partei schon ins
georgische Zentralparlament gewählt worden war, hatte er
sich nicht ein einziges Mal in Tbilissi blicken lassen. Surab
Schwania, mit dem er später allerdings einen gemeinsamen
Opernabend in Batumi zelebrierte, habe einen Anschlag auf sein
Leben geplant, so seine jahrelang vorgetragene Begründung
für die parlamentarische Enthaltsamkeit. Jetzt stellt er
sich vorsorglich schon einmal als Retter des ganzen Vaterlandes
dar, dem er seit Jahr und Tag nahezu jede Zoll- und Steuereinnahme
verweigert. Das Law-and-order-Statement des Aslan Abaschidse zeige
aber, so der Vertreter des Schewardnadse-Blocks, dass es dem Adscharien-Führer
im Gegensatz zu anderen Politikern nicht an dem nötigen Verantwortungsbewusstsein
für den Staat mangele und dass er keineswegs kurzfristige
eigene Ziele über das Interessen des Staates stelle. Denn
niemand, außer ein paar Führern der destruktiven Opposition,
zweifele an der Legitimität und Fairness dieser Wahlen. Noch
sind die Wahlergebnisse aus Adscharien nicht bekannt, noch ist
die Zählmaschinerie der CEC gestoppt. Eine dringende Erholungspause
für die Leute am PC, erfahren wir auf Anfrage. Aber irgendetwas
muss bei den Verhandlungen in Adscharien gelaufen sein, soviel
ist klar.
Fortsetzung in der nächsten Ausgabe von georgien-news.
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