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Kurzgeschichte:
Am Rande von Zchinwali
Sie standen in Gori an der Autobahnausfahrt nach Zchinwali und suchten
am frühen Abend offensichtlich nach einer Mitfahrgelegenheit
nach Tbilissi: zwei junge Frauen mit auffällig großen
Textilkoffern. Wir hielten an und nach einem kurzen Gespräch
war klar, dass eine der beiden aus einem Nachbardorf meines georgischen
Begleiters stammte und irgendeine Cousine meines Mitarbeiters kannte.
Irgendwie kennen sich die Georgier immer wieder, auch wenn sie erst
einmal nachfragen müssen: Wo kommst Du her? Wie ist Dein Familiennamen?
Wer ist Dein Vater? Klar, wir nahmen die beiden mit. Was sie in
Gori gemacht haben, will ich natürlich wissen. "Wir waren
in Zchinwali". Zwei Frauen alleine in Zchinwali und das mit
den großen Textilkoffern, an deren gestreiften Design man
auf jedem Flughafen der Welt Passagiere aus Staaten der ehemaligen
Sowjetunion erkennt. Ob sie das öfter machen, will ich weiter
wissen. "Nicht so oft, nur alle drei Tage" - eine frappierend
offene Antwort, die klar macht, dass es sich hier nicht um Zufallsreisende
sondern um Handlungsreisende der speziellen georgischen Sorte handelt.
Handlungsreisende, die sich auf dem großen Schwarzmarkt in
Ergneti am Rande von Zchinwali mit Waren jeglicher Art eindecken,
die über Südossetien aus Russland eingeführt werden
und weder georgischen Zoll noch Statistik noch Steueramt jemals
beschäftigen. Zigaretten führen die Damen mit sich, jede
rund 30 Stangen. Das ist eine Menge, sagen sie, bei der ihnen nicht
viel passiert, wenn sie von der Polizei aufgegriffen werden. Die
Polizei nimmt ihnen dann einfach die Zigaretten ab und lässt
sie laufen, wobei anzumerken wäre, dass die Polizei wohl genau
weiss, welche Wege diese Zigaretten zum Endverbraucher normalerweise
nehmen und die beschlagnahmte Ware ganz sicher nicht in der Asservatenkammer
ihres Präsidiums ungenutzt verkommen lassen. Die zwei Damen
kaufen die Zigaretten bei einem bestimmten Händler in Ergneti
und bringen sie in Tbilissi wieder zu einem bestimmten Händler,
der ihnen 50 Tetri pro Stange als Kurierlohn vergütet. Das
macht dann 15 GEL am Tag. Abzüglich der Fahrtkosten bleiben
knapp 10 GEL übrig, bei rund 20 Besuchen im Monat ein Einkommen,
das weit über dem statistisch bekannten durchschnittlichen
Monatslohn liegt. Wieviele solcher Kuriere es gibt, will ich wissen.
Viele, sagen sie, ohne selbstredend eine konkrete Zahl nennen zu
können. Wie dem auch sei, wir überlegen uns den beschäftigungspolitischen
Effekt dieser Art von Zigarettengrosshandel: ein paar Hundert Kuriere,
die alle Marschroutkas nutzen, um nach Zchinwali zu kommen. Sie
alle wären arbeitslos und ohne Einkommen, würden diese
Zigaretten ordentlich verzollt und in einem LKW nach Tbilissi zum
Großhändler gefahren. Wenn das keine Idee ist für
Hartz-Kommission und Arbeitsmarktreformer in Deutschland: Die Schatten-Ich-AG.
Zu dumm nur, dass die beiden Damen, Akademikerinnen von Haus aus,
vermutlich in der öffentlichen Statistik als Arbeitslose auftauchen.
Kurz vor den großen Polizeikontrollen in Tbilissi haben sich
die Damen freiwillig aus unserem Auto verabschiedet und sind auf
Marschroutkas umgestiegen, deren Fahrer anscheinend auf sie und
andere Damen ihres Gewerbes wartete. Denn, das haben sie uns auch
gesagt, sie fahren normalerweise nur mit Marschroutkas, deren Fahrer
sie persönlich kennen. Vermutlich kennen die Damen viele Fahrer
persönlich. |
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