Nur wer das orthodoxe Fest Mariä Entschlafung am 28. August auf Zminda
Sameba erlebt hat, kann von sich behaupten, einen tiefen Einblick in die
See-lenlage Georgiens genom-men zu haben. Vom frü- hen Morgen an
kämpfen sich Tausende von Pilgern - in diesem Jahr waren es etwas
weniger als früher, schätzungsweise ein knappes Tausend - auf
einem steilen und felsigen Pfad hinauf auf die große Wiese vor dem
Kazbek, auf deren Kante zum Steilabhang nach Kasbeghi die Wallfahrts-kirche
Zminda Sameba schwebt. Meist sind es junge Leute und Frauen, sonntäglich
herausgeputzt mit feinem Schuhwerk, dem man kaum zutraut, die Strapazen
des Auf-stiegs und gar des Ab-stiegs unversehrt zu über-stehen. Oben
angekom-men, umrunden die Pilger dreimal die Dreifaltig-keitskirche, küssen
die Eckpfeilder des mittelal-terlichen Bauwerks, bevor sie im Gotteshaus
ihre Kerzchen anzünden und die Ikonen küssen. Ein paar Hundert
Menschen drängen sich den ganzen Tag über im engen Kirch-hof
und der Kirche, in der mittlerweile wieder ein großer Gottesdienst
zum Mittelpunkt des religiösen Geschehens wurde. Vor ein paar Jahren
noch war der Gottesdienst eher eine Randerscheinung, in die-sem Jahr haben
wir zum ersten Mal den christlichen Teil von Mariamoba als dominierend
empfunden.
Nach dem Gottesdienst spielte sich allerdings
das-selbe Opferritual ab, das diesem Wallfahrtstag sei-nen archaischen
Charak-ter verleiht: Zahllose Schafe, von ihren Besit-zern nach oben
gezerrt, müssen dreimal die Kirche umrunden, bevor sie ein letztes
Mal gesegnet wer-den, indem man ihr Fell mit der Flamme einer klei-nen
Kerze ansengt. Und dann werden sie im Kirch-hof geschlachtet. Der Kopf
verbleibt im Kirchhof, den dampfenden Rumpf tra-gen junge Männer
hinaus auf die Wiese, wo die Fa-milienverbände ihre Pick-nickplätze
aufgebaut und den Kockkessel fürs Schaffleisch bereits ange-heizt
haben. Selten gehen christliche Religion, die das Tieropfer durch mysti-sche
Opferriten überwun-den hat, und vorchristliche Opferschlächterei
eine innigere Verbindung ein als hier oben vor einer der faszinieresnten
Berg-kulissen des Großen Kau-kasus. Nur in Swanetien oder Chewsuretien
sind die heidnisch-christlichen Rituale noch archaischer, noch eindrucksvoller
als am Kazbek.
Gegen Abend spielt sich dann auf der Wiese ein
riesiges Fress- und Sauf-gelage ab, dem man sich als Fremder entweder
widerstandslos hingeben oder rechtzeitig entzie-hen muss. Die Foto-Re-portage
von Mariamoba zeigt die schönen und archaischen Seiten des Festes.
Weniger schön sieht der Platz dann tags darauf aus: ein riesiger
Müll- und Abfallhaufen, der erst nach einigen Wochen von den Winden
des Kaukasus wieder freigefegt wird.