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Uschguli besteht aus drei kleinen Ortschaften, die in einem breiten Hochtal gelegen sind. Die Men-schen dort leben von Viehzucht und dem Kar-toffelanbau. Seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. ist der Ort besiedelt , und man fragt sich, was die Men-schen damals bewogen haben mag, hierher zu ziehen. Den Hauptort Zhibani kann man mit Fahrzeugen nicht mehr erreichen, er bleibt, was er sei Jahrhunderten war: eine Fußgängerzone. Es ist früher Herbst. Hoch oben auf den Almen von Uschguli haben sie in den letzten Wochen die Wiesen gemäht und das Heu zum Trocknen aufgetürmt, das schnell-stens in die Scheunen gefahren werden muss, bevor der lange Winter kommt. In Uschguli liegt von November bis April Schnee, das Dorf ist teilweise Wochen, wenn nicht sogar Monate von der Außenwelt abge-schnitten. Mit großen Holzschlitten, die von stattlichen Ochsen geduldig gezogen werden, bringen die Swanen das Heu ins Tal. Nicht dass man dort das Rad noch nicht erfunden hätte, nein, auf dem unwegsamen und steilen Gelände käme man mit Rädern nicht weit, der einfache Schlitten ist mit seiner lebenden Zugmaschine allen technischen Errun-genschaften weit über-legen und hat daher bis heute allen Neuerungen getrotzt. Selbst im Dorf oder auf Straßen, die problemlos mit LKW`s befahren werden könnten, findet man in Swanetien heutzutage die nahezu lautlos dahingleitenden archaischen Gefährte. Geld und Benzin sind knapp, keine Kolchose subventioniert heute den Kraftverkehr, so haben sich die Swanen ihrer uralten Techniken beson-nen und den Ochsen-schlitten reaktiviert. Abends gegen fünf oder sechs Uhr, wenn Hun-derte von Tieren - Kühe, Kälber, Schafe und Ziegen - von den dorfnahen Wei-den heimkommen und die Männer ihre gut zwei Me-ter hoch mit Heu bela-denen Schlitten von Ochsen nach Hause ziehen lassen, vermittelt sich uns der seltsam ruhige Eindruck dessen, was man bei uns "Rush-hour" nennen würde. Hier in Uschguli scheint die Zeit tatsächlich stillge-standen zu sein. Wir sitzen auf einer kleinen Mauer oben am Ortseingang und schauen interessiert einer völlig anderen Art von Verkehrs-chaos zu. Misstrauisch ob der Fremden kommen gemächlich Kälber und Kühe angetrabt, etwas wuseliger drängen die Schafherden, während sich die Ziegen leicht und elegant über die Mauern und Einfriedungen hinter unserem Rücken ihren Heimweg suchen. Und immer wieder Ochsen-schlitten, die mit einer majestätischen Würde dahergleiten, die einem jeden Spaß an PS-star-ken Blechkisten vermie-sen könnte. Wenn irgend-wo die Uhren anderes gehen, dann hier, wo Hek-tik ein Fremdwort ist, wo jede Bewegung, auch die der Menschen, eine angemessene, seit Jahr-hunderten unveränderte Geschwindigkeit hat. Hier gibt es eben nur Sonnen-aufgang und Sonnenun-tergang, Winter, Frühling, Sommer und Herbst - ein archaischer Kalender, der das Leben der Menschen bestimmt. Am nächsten Morgen - wieder gibt es Brat-kartoffeln, Käse, Maisbrot und Mazoni zum Früh-stück - machen wir uns auf den Weg. Ein kurzer Anstieg durch das Dorf führt uns erneut an den Wehrtürmen vorbei, deren Ausstrahlung wir uns auch hier nicht entzeihen können. Sie erscheinen uns nicht als von Men-schen erbaute Türme, sondern eher wie verstei-nerte Wesen aus einer fernen Zeit, jedes mit einem eigenen Gesichts-ausdruck, einer eigenen Gebärde, mal breitge-sichtig, mal schmallippig, gelegentlich hintergründig grinsend, meist jedoch düster und drohend, immer geheimnisvoll. Und jedes dieser Wesen könnte uns stundenlang seine Geschichten erzählen und die seiner Bewohner. Wir
erreichen die einge-zäunte Kirche Lamaria, mit dem 5.086 m hohen
Schkara, dem höchsten Berg Georgiens, als Kulisse, eines der schön-sten
Photomotive des Kaukasus. Von hier führt der Inguri in einem brei-ten,
von Gletschern aus-gewalzten, fast ebenen Tal bis zum Schkara-Gletscher,
dem er ent-springt. Ein knapp zwei-stündiger, nicht über-mäßig
anstrengender Spaziergang führt uns zum Ursprung des sagen-umwobenen
Flusses, den wir von der Meereshöhe in der Kolchis bis auf etwa
2.700 Meter Höhe zu seinem Ursprung begleitet haben. Von hier also
muß es gekommen sein, das Gold der Swanen, das schon in der Antike
Jason zu einer abenteuerlichen Reise anstiftete und seither die Fantasien
der Menschen nie wieder losließ. Erst im 20. Jahrhundert soll
der Berg damit aufgehört haben, dem Gletscherwasser die wertvolle
Fracht mitzu-geben. Oder sind auch hier die Menschen nur zu bequem,
zu ungeduldig geworden für die lang-wierige Prozedur der Goldgewinnung
mit dem Widderfell? Können sie nicht mehr warten, oder lohnt es
sich einfach nicht mehr? Wie gerne würden wir jetzt ein Widderfell
in den Fluß legen und drauf warten, bis und Fluß und Gletscher
eine Antwort geben. Text aus dem Buch Kaukasus |
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