GN: Die georgischen Medien erwecken den Eindruck, die NATO-Mitgliedschaft
konne in zwei Jahren schon erreicht werden. Wie sieht Ihr Fahrplan
aus?
Schalwa Pitschchadse: Das ist Unsinn, wenn Sie mir den
undiplomatischen Ausdruck erlauben. Das ist schon vom Prozedere
her unmoglich. Bis zum Prager Gipfel kannte das formliche Aufnahmeverfahren
in die NATO zwei Schritte: die Aufnahme in das sogenannte Membership
Action Program (MAP), danach die offizielle Einladung zur Mitgliedschaft
durch die NATO, der dann ein oder zwei Jahre spater erst die endgultige
Aufnahme als Vollmitglied folgte. In Prag haben sieben von insgesamt
zehn MAP-Landern die offizielle Einladung erhalten, was verdeutlicht,
wie schwer es ist, die NATO-Vorgaben in allen Bereichen eines
Staatswesens zu erreichen. Und Georgien ist bis heute noch nicht
einmal auf der Stufe MAP angekommen.
GN: Wo steht denn das Land dann auf seinem Weg zur NATO?
Schalwa Pitschchadse: In Prag hat die NATO fur Partnerstaaten,
die noch nicht reif sind fur eine Aufnahme in die MAP-Stufe ein
neues Programm entwickelt, das Individal Partnership Action Program
(IPAP). Dieses Programm richtet sich nach eigenem NATO-Kommuniquee
vor allem an die Lander des Sudkaukasus und Zentralasiens, die
fur die NATO von strategischem Interesse sind. In diesem Programm
konnen Partnerlander der NATO, unabhangig davon, ob sie den endgultigen
Wunsch zur Vollmitgliedschaft haben oder nicht, mit der NATO ein
individuelles, bilaterales Kooperations- und Partnerschaftsprogramm
ausarbeiten. Georgien ist seit Prag auf diesem Level angelangt,
nicht mehr, hat aber als einziges IPAP-Land erklart, dass es mit
IPAP das politische Ziel verbindet, moglichst bald als Vollmitglied
in die NATO aufgenommen zu werden. Zuerst mussen wir also IPAP
zusammen mit der NATO erarbeiten, dann die vorgegebenen Ziele
erfullen, bevor wir uns mit MAP und den weiteren Schritten befassen
konnen.
GN: Haben Sie eine Zeitvorstellung fur dieses IPAP-Stufe?
Schalwa Pitschchadse: Wenn wirklich alles optimal verlauft,
unsere inneren Reformen, die wirtschaftliche Entwicklung und die
weltpolitischen Szenarien, dann konnten wir in zwei bis drei Jahren
bestenfalls IPAP erfullen und in MAP aufgenommen werden. Dann
mussten aber schon einige Wunder gleichzeitig geschehen.
GN: Worum wird es in IPAP gehen?
Schalwa Pitschchadse: Wir mussen glaubwurdige Reformen
in allen Bereichen unseres Staates auf den Weg bringen: im militarischen
Bereich, im rechtsstaatlichen Bereich, in der Wirtschaft, der
Staatsverwaltung und bei dem Aufbau einer Zivilgesellschaft mit
der Garantie der Menschenrechte. Da wird es klare Vorgaben geben
nicht nur fur die Armee, auch fur die Gesetzgebung oder die Staatsverwaltung,
wo es um eine Verschlankung der gesamten Verwaltung samt Steigerung
der Effizienz derselben gehen wird. Die makrookonomischen Daten
mussen sich verbessern und vieles mehr. Man kann es auf einen
Nenner bringen: Wir mussen unseren gesamten Staat auf allen Ebenen
naher an die Standards der westlichen Staatengemeinschaft heranfuhren.
Im militarischen Bereich haben wir ja mit Hilfe der USA und dem
gemeinsamen Ausbildungsprogramm GTEP schon einen ersten Schritt
in Richtung NATO-Standards gemacht.
GN: Mit einer 64-Millionen-$-Spritze fur zwei Jahre durch
die USA, wahrend Ihr Verteidigungshaushalt noch nicht einmal 20
Millionen $ im Jahr ausmacht.
Schalwa Pitschchadse: Das GTEP wird auch von uns finanziert,
wir steuern funf Millionen $ fur die Bezahlung der Soldaten bei.
Das wird der Kern einer neuen Berufsarmee unseres Landes und die
wird ja nicht schlecht bezahlt.
GN: Trotzdem, ist das Ziel der NATO-Mitgliedschaft nicht
doch zu ehrgeizig? Verschlie?en Sie nicht die Augen vor der Realitat
des Landes?
Schalwa Pitschchadse: Ehrgeizig ja, aber wenn wir als
Staat und mit Hilfe von Freunden im Ausland nicht einmal die MAP-Ebene
schaffen, dann sind wir ein verlorenes Land. Wir haben, unabhangig
von der Frage der NATO-Mitgliedschaft, keine andere Chance, als
diese Ziele anzugehen.
GN: Ihr nordlicher Nachbar wartet nur darauf, dass Sie
scheitern. Ist das Risiko fur Georgien nicht zu gro?, sich jetzt
schon auf ein Verfahren mit solch ungewissem Ausgang einzulassen?
Schalwa Pitschchadse: Ohne unsere eindeutige Entscheidung
in Richtung Westen und NATO wurde uns Russland behandeln wollen
wie es Wei?russland behandelt, einfach einverleiben. Wir mussen
uns von der Abhangigkeit von Russland losen, deshalb brauchen
wir eine Alternative zur seitherigen energetischen Abhangigkeit
von Russland und wir mussen erreichen, dass die russischen Militarbasen
abgezogen werden. Ohne Anbindung an die NATO ist das alles nicht
moglich.
GN: Womit wir beim entscheidenden Thema waren, der Pipeline
und dem Ol.
Schalwa Pitschchadse: Mit der Entscheidung Amerikas, die
Olpipeline von Baku nach Ceyhan uber Tbilissi zu fuhren, hat sich
auch das Verhaltnis Amerikas zu Georgien geandert. Ich kann mich
noch gut daran erinnern, wie die Amerikaner uns immer wieder erklarten,
der Hauptspieler im Kaukasus sei Russland und wir mussten zunachst
unser Verhaltnis mit Russland in Ordnung bringen. Das hat uns
nicht viel geholfen, denn wir sa?en da zwischen allen Stuhlen.
Erst als sich Amerika seinerseits Georgien zugewandt hatte und
erklarte, es werde eine Rolle im Kaukasus spielen, haben wir au?enpolitischen
Spielraum bekommen.
GN: Damit haben Sie sich allerdings erheblichen Arger
mit Russland eingehandelt, wie wir gerade in diesem Jahr erlebt
haben.
Schalwa Pitschachadse: Ich kann mich auch noch gut daran
erinnern, wie Boris Jeltzin immer wieder bei Eduard Schewardnadse
angerufen hat und ihn bedrangte, sich dem Pipelinebau durch Georgien
zu verweigern. Er hat uns alle energiepolitischen Ressourcen als
Preis angeboten, die wir haben wollten. Naturlich waren die sauer,
denn es stimmt, was Gegeschidse damals sagte, die Pipeline drangt
Georgien nicht zur NATO, sie zieht Georgien zur NATO. Die Pipeline
wird uns neben den Durchleitungsgebuhren vor allem durch die kostenlosen
und preisbegunstigten Gaslieferungen, die wir erhalten, energiepolitisch
unabhangig von Russland machen. Das ist, neben den angesprochenen
Sicherheitsaspekten, der Haupteffekt, der uns wirtschaftlich voranbringen
und dadurch naher an NATO und Europa fuhren wird. Ich bin mir
ganz sicher, dass die Pipelines eine dramatische Verbesserung
der Situation in Georgien bewirken.
GN: Vor knapp einem Jahrzehnt war Russland noch der Hauptakteur
im Kaukasus, jetzt spielt Amerika kraftig mit. Wer hat denn jetzt
mehr zu sagen: Washington oder Moskau?
Schalwa Pitschchadse: Lassen Sie mich das so ausdrucken:
Der amerikanische Einfluss ist im Steigen, wahrend der russische
abnimmt. Trotzdem hat Russland noch jede Menge Moglichkeiten,
die Stabilitat in Georgien negativ zu beeinflussen. Denken Sie
nur daran, was passieren wurde, wenn Russland in diesen Wintertagen
Georgien von der Versorgung mit Erdgas abschneiden wurde. Die
Bevolkerung wurde nach wenigen Tagen auf die Strasse gehen und
den Rucktritt der Regierung samt Prasidenten fordern.
GN: Das haben Sie aber nur mit Hilfe amerikanischer Senatoren
verhindern konnen und der Tatsache, dass der russische Erdgasgigant,
ITERA, der auch Georgien beliefert, auf dem nordamerikanischen
Markt Fu? fassen will. Nur deshalb lie? sich doch der russische
ITERA-Prasident nach Georgien zitieren und hat im Beisein der
Amerikaner die Zusage gemacht, die georgischen Schulden zu prolongieren
und fur diesen Winter die Gasversorgung sicherzustellen.
Schalwa Pitschchadse: Ja das ist nun mal so. Wir konnen
viele unserer Ziele nur erreichen, wenn wir sie in Ubereinklang
mit den Interessen Amerikas bringen. Vor zwei Jahren hatte ITERA
schon einmal den Gashahn zugemacht, obwohl die amerikanische Firma
AES-Telasi die Gaslieferungen im Voraus bezahlt hatte. Da haben
die Amerikanern den Russen klar gemacht, sie in der ganzen Welt
als unzuverlassige Geschaftspartner anzuprangern, wenn sie ihre
vertraglichen Zusagen an AES nicht einhielten. Das ist ein gutes
Beispiel, wie wichtig die Anwesenheit amerikanischer Investoren
in Georgien ist. Denn Amerika lasst seine wirtschaftlichen Interessen
niemals im Stich.
GN: Die wichtigen Exportinteressen Georgiens liegen in
Russland. Wie verhalt sich diese Abhangigkeit mit der angestrebten
Ausrichtung gen Westen?
Schalwa Pitschchadse: Wir wollen unsere Probleme mit Russland
auf friedlichem und zivilisiertem Wege losen. Selbst wenn wir,
was wir derzeit noch nicht konnen, bei der Raumung der Militarbasen
einfach sagen wurden: Russians GO - es ware nicht weise, dies
zu tun, wobei heute niemand wei?, ob wir uns wirtschaftlich nicht
vielleicht doch so weit entwickeln, dass wir uns eine solche Haltung
leisten konnen. Wir wurden uns damit die guten nachbarlichen Beziehungen
mit Russland, die wir wollen, auf Jahrzehnte hin aus verbauen.
GN: Auch eine Losung der Abchasienfrage, die ohne Russland
ja nicht moglich erscheint. Mit einem Konfrontationskurs in Sachen
Militarbasen musste Georgien wohl Abchasien fur immer abschreiben.
Schalwa Pitschchadse: Also, was hei?t in der Politik denn
schon fur immer? Zehn Jahre, 20 Jahre, 30 Jahre? Glauben Sie,
dass Russland gegen den Willen der gesamten Welt wirklich Abchasien
will? Und selbst wenn wir Abchasien aufgeben wurden, fande Russland
eine andere Region in Georgien, um Unruhe zu stiften. Um Abchasien
geht es Moskau eigentlich gar nicht mehr. Ich sehe aber eine gro?e
Gefahr: Uber Jahre hinweg haben wir und alle internationalen Organisationen
den aus Abchasien vertriebenen Georgiern erklart, es sei ihr naturliches
Recht, wieder in ihre Hauser in Abchasien zuruckzukehren. Aber
niemand hat ihnen dieses Recht bis heute garantieren konnen. Was
machen wir denn, wenn sich Zehntausende einmal auf den Weg machen,
um sich ihr Recht selbst zu holen? Konnen wir sie dann alleine
lassen? Die Regierung kann diese Menschen, wenn sie einmal ihre
Geduld verlieren, kaum noch unter Kontrolle halten.
GN: Reden Sie jetzt einer militarischen Option fur das
Wort?
Schalwa Pitschchadse: In letzter Konsequenz: ja. Aber
das ware die schlechteste Losung fur Georgien und wurde uns in
unseren NATO-Zielen fur viele Jahre zuruckwerfen. Vielleicht wird
irgendwann andersherum ein Schuh daraus: Wenn Georgien wirklich
so stark wird, dass es seine NATO-Ziele erreichen kann und dabei
auch naher an die EU heranruckt, konnte das nicht auch eine attraktive
Perspektive fur Abchasien sein, sich auf diesem Wege doch irgendwie
mit Georgien zu arrangieren?
GN: Das sind jetzt aber Zukunftstraume. Bis solche Visionen
Realitat werden konnen, muss sich aber einiges andern im Land.
Georgien ist doch noch Welten von allen erforderlichen Standards
entfernt.
Schalwa Pitschchadse: Als NATO und EU Spanien und Portugal
aufgenommen haben, hatten diese Lander damals etwa schon NATO-
und EU-Standards erreicht? Oder nehmen Sie Italien. Jahrelang
war Italien von der Mafia und Korruption beherrscht und trotzdem
wurde es in NATO und EU voll integriert. Den Erfolg sehen wir
heute. Ich bin da nach wie vor optimistisch fur uns. Zum einen
wird auch die NATO pragmatisch genug sein, strategische Interessen
uber die reine Lehre zu stellen. Zum anderen haben alle Experten,
als Georgien 1993 den Antrag auf Mitgliedschaft im Europarat stellte,
erklart, das Land brauche 10 bis 15 Jahre, um die erforderlichen
Standards zu erfullen. Nur sechs Jahre spater waren wir Mitglied
in Stra?burg. Warum sollte uns dies nicht noch einmal gelingen?
GN: Unsere Eingangsfrage noch einmal ganz konkret: Wieviele
Jahre wird es denn dauern, bis dieses gro?e Ziel der NATO-Vollmitgliedschaft
erreicht wird:
Schalwa Pitschchadse: Acht bis zehn Jahre durfte eine
realistische Prognose sein, wenn wir unsere Hausaufgaben erfullen.
Aber auch dann hangt vieles von der weltpolitischen Situation
ab. Auch die muss stimmen.
GN: Vielen Dank fur dieses Gesprach.
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