Über die georgische Heerstraße nach Kasbeghi
Wir wollen ihn jetzt end-lich sehen, den KASBEK, den die Georgier Mkinwar-zweri nennen, auf deutsch den Eisgipfel. Pünktlich zur Mittagszeit auf dem Marktplatz von KASBEGHI angelangt, dem Wirt-schafts- und Verwaltungs-zentrum der Region Chewi, sehen wir ihn plötzlich vor uns, den massigen und dennoch eleganten Solitär, mit 5.033 Meter zwar keiner der höchsten Berge des Kaukasus, aber sicher einer der schönsten. Ke-gelförmig steil und schwungvoll führt die linke Flanke hoch zur abgerun-deten Gletscherkappe, flacher und weiter aus-ladend die rechte. Davor, auf einer knapp 2.200 m hohen Felsnase, kann man die Kirche Zminda Sameba erkennen, zu deutsch Dreifaltigkeits-kirche, ein gottgesegnetes Fleckchen Erde, wie jeder weiß, der von Kasbeghi einmal hinaufgewandert ist, immer den Kasbek vor Augen, jenes Felsen- und Eisgebilde, an das Prome-theus, den der georgische Mythos Amiran nennt, an-geschmiedet wurde aus Strafe dafür, dass er den Göttern das Feuer gestoh-len und den Menschen ge-bracht hatte.

Wer in Kasbeghi vor den kleinen Bretterbuden steht, die spärlichen Pro-viant anbieten, und hinaufblickt zu dem ein-drucksvollen Massiv, be-kommt eine Ahnung, dass er hier an einer der Wur-zeln unserer abendlän-dischen Mythologie an-gelangt ist. Solch ein Berg war immer gut für Legen-denbildung, solch ein Berg hat den Menschen nicht nur den üblichen Respekt vor der Erhaben heit der Natur eingeflösst, sondern auch ihre Phantasie in-spiriert.

Wir wollen auf alle Fälle hinauf zur Dreifaltigkeits-kirche. Zur Sowjetzeit führte eine Seilbahn nach oben, sie ist, Gott sei dank, möchte man fast sagen, zusammenge-brochen, das rostige Seil gerissen, die Bergstation geschleift. Man ist also wieder gezwungen, sich dem Kasbek in Demut und zu Fuß zu nähern, was nicht einmal übermäßig beschwerlich ist. Vom Dörfchen GERGETI aus, das man mit Bussen russischer Bauart noch er-reicht, führt ein angeneh-mer Wanderweg durch ein schattenspendes Wäld-chen in mehreren Serpen-tinen und Schleifen hinauf zur Wallfahrtskirche, vor-bei am Friedhof des Ortes, einem der am schönsten gelegenen Friedhöfe auf Gottes weitem Erdboden. Hier, und nur hier, am Fuße des Kasbek, wollte man begraben sein.

Durchtrainierte Berg-steiger schaffen die knapp 400 Höhenmeter von Gergeti zur Wallfahrts-kirche in einer guten halben Stunde, normal geübte Wanderer in etwa einer Stunde, und selbst ältere Personen können den Aufstieg in gut einein-halb Stunden bewältigen. Man muß sich nur auf sein eigenes Tempo verlassen und dieses beharrlich ein-halten. Bisher zumindest hat keiner die Anstren-gungen und Mühen des Aufstiegs bereut. Jeder war überwältigt, als er - den Kasbek nunmehr im Rücken - über den kleinen Sattel marschierte und auf einer Felsnase die Kirche ZMINDA SAMEBA liegen sah, scheinbar schwerelos schwebend vor einer 4.000 m hohen Felswand, die das Städtchen Kas-beghi hinterfängt. Ein überwältigender Anblick, dessen Erhabenheit auch Wind und Wetter nicht schmälern können. Vom Sattel geht es zunächst noch einmal ein paar Meter die Wiesenmatte abwärts und dann wieder hinauf auf das kleine Felsplateau, das nahezu senkrecht abfällt nach Gergeti und Kasbeghi.

Wir betreten die zum Kasbek mit einer Mauer umwehrte Kirche durch ein Torgebäude, das gleichzeitig als Glocken-turm dient, und stehen vor einer eher schmuck-losen Kreuzkuppelkirche. Doch es sind ja nicht die architektonischen Klein-odien, die wir hier oben erwarten, die vollendete Form, das ausdrucksvolle und kunstfertige Dekor. Hier ist es der Ort, die Lage, die Einbindung in eine wirklich dramatische Landschaft: im Norden der Gebirgseinschnitt der Dariali-Schlucht, das Tor zu Rußland; im Nord-westen der schnee-bedeckte Gipfel des Kasbek, des Bergs des Prometheus; im Osten, tief drunten im flachen Terek-Tal, das Städtchen Kasbeghi, dahinter das gewaltige Felsmassiv von Schan und Kiri. Es gibt im ganzen Kaukasus kaum ein beeindruckenderes Panorama als dieses, besonders wenn man das seltene Glück hat, daß unter einem und hoch über Kasbeghi und Ger-geti Adler kreisen, sich in die unendlichen Höhen des Kaukasus aufschwin-gen und sich von den Winden des Kasbeks treiben lassen.

Der russische Schrift-steller Alexander Pusch-kin wurde im Jahr 1829 auf einer Reise über den Kreuzpaß durch Kirche und Landschaft zu fol-genden Versen inspiriert:

Hoch über deiner Brüder Chor,
Kasbek, strebt stolz dein Zelt empor
Und strahlt, im ewgen Eise flimmernd.
Weiß hinter Wolkenschei-ern schimmernd,
Schwebt Noahs Arche gleich im Raum
Dein altes Kloster, sichtbar kaum.

Du ferner, heißersehnter Ort,
Könnt ich aus enger Schlucht aufstreigen
Zu dir, und fänd` der Freiheit Hort,
Den Frieden in der Zelle Schweigen,
Gott nah hoch über Wol-ken dort.


Text aus dem Buch Kaukasus
Georgien, Armenien, Aserbaidschan
Prestel-Verlag München
ISBN 3-7913-2420-9


Fotos:
Sporthotel Gudauri (Aufnahmen von Hub-schrauberrundflügen um den Kasbek)
Rainer Kaufmann